Trotz seiner herausgehobenen Position im Heiligen Römischen Reich Teutscher Nation hat das Frankfurt der Frühen Neuzeit bislang wenig von sich reden gemacht, zumindest im Vergleich mit Städten wie Augsburg und Nürnberg. Einerseits „als freie Reichsstadt und vor allem als Ort der Kaiserwahl seit 1356 hervorgehoben, andererseits aber territorial durch mächtige Nachbarn wie Mainz oder die Wetterauer Grafen eingeschränkt, ohne Bischofssitz und Universität, aber mit einem florierenden Messehandel“ (Paintner, S. 365), „blieb“ Frankfurt am Main seit der Reformation „eine eher handwerklich-ackerbürgerlich strukturierte Stadt, deren Produktionsgewerbe um 1500 rückläufig war und die mit 10.000 Einwohnern deutlich hinter Reichsstädten wie Augsburg, Nürnberg, Straßburg und Köln zurückstand.“ Und dies, “obwohl es während der Frühjahrs- und Herbstmessen […] ein internationales Zentrum des Waren- und Geldverkehrs und des Nachrichtenaustauschs“ war (ebd.).
Anton Schindling hat 2005 ein ähnliches Resümee formuliert1, das sich wie der Anstoß zu dem von Robert Seidel und Regina Toepfer vorgelegten Sammelband liest. Dieser verortet Frankfurt zwischen dem ausgehenden 15. und der Mitte des 17. Jahrhunderts erstmals genauer im „Schnittpunkt“ zeitgenössischer Diskurse wie in dem heutiger Forschungsansätze zur Stadt als „spezifischem Funktionsraum von Literatur in der Epoche“ (Erich Kleinschmidt), die regionalen und sozialen, konfessionellen und kulturellen Besonderheiten Rechnung tragen. Mit dem Konzept der „literarischen Kommunikation“ zielt der Band darauf, „das Zusammenspiel der Träger literarischer Handlungsrollen (zum Beispiel Produzenten, Vermittler, Rezipienten usw.) unter historisch-funktionalen Gesichtspunkten zuverlässig zu ermitteln und auszuwerten“ (Seidel/Toepfer, S. 8). Die Stadt tritt unter wechselnden Blickwinkeln auf, dem der Literaturrezeption und der öffentlichen Aufführung von Spielen, dem der Literaturproduktion und der literarischen Repräsentation, den „Selbst- und Fremdbildern“, die literarische Texte überliefern.
Das Vorgehen überzeugt, denn jede Perspektive bündelt Bekanntes und eröffnet neue Einsichten. Die Untersuchungen von Christoph Fasbender, Klaus Wolf, Frank Fürbeth und Bernhard Wirth zur Literaturrezeption bei Lesern und Besitzern ergeben ein vielschichtiges Bild. Das „literarische Profil Frankfurts am Ausgang des Mittelalters“ (Fasbender) weist zwar „qualitativ wie quantitativ hochwertige“ Werke auf, Literaturproduktion und Buchbesitz der Stifte und Klöster waren aber inhomogen (S. 28). Im städtischen Kanzleibetrieb entstanden seit dem 14. Jahrhundert beinahe lückenlos überlieferte Bürgerbücher, Rechenbücher etc. in deutscher Sprache. Eine Ratsbibliothek existierte seit 1510. Dem sozialen, religions- und kulturpolitischen Engagement des städtischen, sich seiner Macht bewussten Patriziats entspricht der Verbleib der entstehenden Handschriften in der Stadt, von Kopien von Predigten und Gebeten bis hin zu Familien- und Hausbüchern. „Kontinuierliche Stabilität“, ja „Statik“ (S. 34f.) und das Weiterziehen von Messe- und Krönungsbesuchern, aber auch von Humanisten und Theologen sind zwei Seiten einer Medaille.
Heraus ragen „patrizische Sozialisationsdiarien“ und die Entstehung von Privatbibliotheken (Wolf, S. 45) sowie seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die Aufführungen von geistlichen Spielen (Wolf, S. 47, 51). Die „Bürgerbibliotheken“ erschließt Frank Fürbeth „auf der Grundlage einer ersten Gesamtzusammenstellung des dokumentierten Buchbesitzes“ (S. 56) anhand von Büchern, Testamenten und Nachlassinventaren. In den 66 Fällen privaten, in der Regel patrizischen Buchbesitzes dienten die Bücher der Frömmigkeit oder der Ausübung des Berufes, aber auch allgemeiner Bildung und persönlichen Interessen. Literarischer Buchbesitz stellt nur einen Promille-Teil des gesamten Buchbesitzes dar (S. 71). Lese- und Benutzungsspuren in Frankfurter Drucken des 16. Jahrhunderts, heute in der „Sammlung Frankfurter Drucke“ der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, erlauben es, 85 Vorbesitzer nach Berufszweigen aufzuschlüsseln: 27 Theologen, 21 Juristen und Ratsherren, je 10 Handwerker, Fürsten und Adelige, Schriftsteller und Gelehrte, je 5 Mediziner und Kaufleute (Wirth, S. 84f). Namenseinträge und andere Provenienzmerkmale weisen in das 16. Jahrhundert, so das „Neue Testament“ der Kunigunde von Holzhausen, versehen mit ihrem Namen, Wappen, den Daten 1590 bzw. 1592 und einem Gedicht an das geliebte Frankfurt.
Einen Idealfall literarischer Kommunikation stellt seit dem späten Mittelalter die Spielpraxis dar. Die „Frankfurter Dirigierrolle“ aus dem frühen 14. und das „Frankfurter Passionsspiel“ aus dem 15. Jahrhundert sind seit den Arbeiten von Klaus Wolf und Dorothea Freise aus dem Jahr 2002 sehr gut erschlossen. Das Passionsspiel wurde „in den Jahren 1468/69, 1492, 1498 und 1506 zur Pfingstzeit an vier Tagen auf dem zentral gelegenen Römerberg vor dem Rathaus“ (Ukena-Best, S. 113) inszeniert, 1513 bricht die Tradition ab (Toepfer, S. 137). Es handelt sich um ein „mediales Großereignis im spätmittelalterlichen Frankfurt“, das die soziale Gemeinschaft stärken sollte, und zwar im Interesse der Ratsobrigkeit der Stadt. Juden waren als Mitspieler und Zuschauer ausgeschlossen, sie kamen als „Gegner“ (Ukena-Best, S. 119) ins Visier. Dagegen steht ein „Verbotenes Frankfurter Purim-Spiel“ um Ester aus dem Jahr 1751, das mehrmals zur Aufführung kam, auch vor nicht-jüdischem Publikum, aber vom Rat wegen Brandgefahr verboten wurde.
Seit den Anfängen der Herbstmesse im 13. und der Einrichtung einer zweiten (Frühjahrs)Messe im 14. Jahrhundert liegen hier die Stärken Frankfurts. Die Stadt räumte dem Druckgewerbe Freiheiten ein, eine kaiserliche Bücherkommission (1560er-Jahre) und ein Bücherkommissar (1567) wurden zur Kontrolle des Buchmarktes eingesetzt und die Stadt selbst übernahm die Produktion der Messkataloge (1597). Darüber hinaus stehen Christian Egenolff (1502-1555) und Sigmund Feyerabend (1528-1590) sowie der Erfolg des „Schwankbuchs“ (Kipf, S. 195ff) und der „Historia von D. Johann Fausten“ (Kraß, S. 228ff) für „Frankfurts Aufstieg zur Druckmetropole des 16. Jahrhunderts“ (Terrahe, S. 177). Infolge kaiserlicher Übergriffe auf den protestantischen Buchdruck machte Leipzig seit 1600 Frankfurt diesen Platz streitig, selbst wenn Frankfurt mit Matthäus Merian und dem jüdischen Buchdruck weiter Geschichte schrieb.
Die literarische Repräsentation der Stadt ist in unterschiedlichen Textgattungen fassbar, in Quellen zur Frankfurter Stadtgeschichte wie in Ego-Dokumenten oder dem Wirken einzelner, etwa des Franziskaners Peter Fischer (S. 324ff). Ein handschriftliches Schmähgedicht auf den „neuen Adel“ provozierte 1546 den Rat. Da die heutige Quellenlage keine Kontextualisierung mehr ermöglicht, führt Robert Seidel hier Textanalyse und gesellschafts- und kulturhistorische Ansätze zusammen. Der Rückbezug auf Kleiderordnungen und auf die reformatorischen Positionen Luthers legt es nahe, die vom Gedicht aufgespießten ‚neuen’ Verhaltensweisen Kleiderluxus, lasterhaftes Treiben und Übermut nicht auf Patrizier zu beziehen, sondern auf die „eigentlichen Aufsteiger des 16. Jahrhunderts, die gelehrten Juristen“ (Seidel, S. 349). In den Blick treten neue innerstädtische Konflikte zwischen ‚altem’ und ‚neuem’ Adel und seinen jeweiligen Ansprüchen auf gesellschaftliche Geltung. Das immense, bislang unerforschte Feld der Frankfurter Kasualdichtung, insbesondere im Umfeld der Messe, dürfte in diesem Sinne weitere Aufschlüsse über das frühneuzeitliche Frankfurt bereithalten.
Die Darstellung Frankfurts im Städtelob der Zeit bringt demgegenüber den Blick von außen ins Spiel. Wie drei Texte aus dem 16. Jahrhundert verdeutlichen, ist seine „Doppelpoligkeit“ „zwischen regionaler Verortung und Reichsperspektive“ (Paintner, S. 382) prägend. Steinwert von Soests „Lob der Lokalpolitik“ von 1501 bezweckt seine Anstellung als Stadtarzt, Hans Sachs’ Betonung der „Wehrhaftigkeit“ von 1568 rückt Frankfurt in das Gefüge des Reiches ein. Georg Fabricius’ Eloge als „Zierde des Reiches“ von 1547 leitet direkt auf das Lob des „berühmten Mannes“ Jacob Micyllus über, den Direktor der humanistischen Stadtschule – Frankfurt ist trotz des Fehlens einer Universität oder großer Humanisten Teil der überregionalen res publica litteraria. Immer hat das „idealtypische Potential“ des Städtelobs aktiv auch am „Formierungsprozess städtischer Identitäten teil“ (Paintner, S. 385).
Die verschiedenen Perspektiven, die der Sammelband auf das Frankfurt der Frühen Neuzeit richtet, rücken unbekannte Vorkommnisse und Details ebenso in den Blick wie größere Funktionszusammenhänge. Frankfurt tritt endlich in die Städtelandschaft der Zeit ein und kann diesen Platz nun weiter ausbauen.
Anmerkung:
1 Anton Schindling, Kommerz und Konfession. Die Reichs- und Messestadt Frankfurt am Main zwischen Reformation und paritätischem Alten Reich, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 68 (2005), S. 573-587, hier S. 573.