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Titel
Europabilder. Begriffe, Ideen, Projekte aus 2500 Jahren


Autor(en)
Geier, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
184 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Florian Greiner, Universität Gießen

Gesamtsynthesen zur Geschichte der europäischen Idee mit unterschiedlichen Aufmachungen, Schwerpunktsetzungen und Intentionen sind in der internationalen Europa-Historiographie nach 1950 keine Besonderheit und seit einigen Jahren auch in der deutschsprachigen Forschung häufiger anzufinden.1 Mit dem hier zu besprechenden, nur knapp 150 Textseiten umfassenden Werk, legt der lange Zeit an den Universitäten Leipzig und Klagenfurt tätige Kultursoziologe und -historiker Wolfgang Geier eine weitere Überblicksdarstellung vor.
Dabei unterstreicht schon der eingangs diskutierte antike Gründungsmythos Europas Geiers These eines Kulturtransfers, nach dem die abendländische nicht als Gegensatz zur morgenländischen Kultur gesehen werden müsse, sondern vielmehr als deren Fortsetzung: erst mit den Raub der phönizischen Königstochter Europa, der Verkörperung der vorderasiatischen Zivilisation, durch den griechischen Göttervater Zeus und deren Entführung nach Kreta, konnte dort die kretisch-minoische Kultur entstehen, welche schließlich auf das griechische Festland übersprang und zur Grundlage der europäischen Kultur wurde.
Einleitend thematisiert der Autor die Entstehung der Begriffe „Europa“, „Orient“ und „Okzident“ sowie der ersten, antiken und frühmittelalterlichen Ideen über den „imaginären Kontinent“, der historisch niemals eine „Einheit“ gewesen, sondern immer eine nie erreichte Vision geblieben sei. (S. 10) Auf den nächsten Seiten folgt eine konzise Beschreibung der Europapläne und Einigungsprojekte im Laufe der Jahrhunderte, wobei der Großteil der hier behandelten europäischen Vordenker, von Pierre Dubois, über Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II.), den Herzog von Sully, William Penn, Abbé de Saint-Pierre, Immanuel Kant, Henri de Saint-Simon bis hin zu Karl Christian Friedrich Krause, Giuseppe Mazzini und Victor Hugo, in diesem Zusammenhang altbekannte Namen sind.2 Im vierten Kapitel unternimmt Geier schließlich einen Exkurs zu Europa-Bildern, zunächst im wörtlichen Sinne in Form bildhafter Darstellungen (Karten, Allegorien und Karikaturen) Europas, dann im übertragenen Sinne in Form von Selbst- und Fremdbildern (kollektiven Auto- und Heterostereotypen) über den Kontinent. Abschließend konstatiert der Autor bei seiner Beschäftigung mit den Europabewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert einen engen Bezug der europäischen Idee zu den Friedenssehnsüchten der Zeitgenossen. Die Hoffnung auf ein vereintes Europa habe sich oftmals mit der Vorstellung verbunden, dass ein solches dazu führen werde, dass gewaltsame Konflikte zwischen europäischen Nationen unwahrscheinlich bis unmöglich würden.

Eine Leitthese Geiers innerhalb seiner Darstellung ist die eines angenommenen, grundlegenden Dualismus zwischen Ost- und Westeuropa, der sich wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte ziehe und die Vorstellungen vom „imaginären Kontinent“ stets maßgeblich beeinflusst habe. Ausgehend vom äußeren Gegensatz zwischen „Okzident“ und „Orient“ sei der Ost-West-Gegensatz mit der Spaltung des Imperium Romanum zu einem innereuropäischen geworden, der sich im Frühmittelalter weiter verschärft und letztlich früh zur Ausprägung zweier sich administrativ, politisch-rechtlich, ökonomisch, sozial und kulturell diametral gegenüberstehender europäischer Hemisphären geführt habe (S. 26-29). Damit erweitert Geier die These Larry Wolffs3 von einer bis in die Phase der Spätaufklärung zurückzuverfolgenden (imaginären) Teilung des Kontinents in einen rückständigen Osten und einen fortschrittlichen Westen nicht nur chronologisch, sondern auch um eine vermeintlich realgeschichtliche Komponente.
Ob sich eine solche historisch gewachsene Zivilisationsgrenze in dieser Form aber tatsächlich postulieren lässt, erscheint im Lichte der neueren, empirischen Forschung durchaus zweifelhaft. So betonte Bernhard Struck, dass nicht nur der Begriff, sondern vor allem das Konzept „Osteuropa“ im Wesentlichen eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts gewesen sei, welche sich schließlich erst nach 1917 habe manifestieren können.4 Auch Wolfgang Schmale wies jüngst darauf hin, dass die geographische Region Ostmitteleuropa seit dem Spätmittelalter an allen wichtigen europäischen Kommunikations- und Kulturtransferprozessen partizipiert habe.5 Insgesamt ist damit mehr als fraglich, ob die „Mental Map“ Europas im Großteil des von Geier untersuchten Zeitraums wirklich von einem derart rigiden Ost-West-Dualismus geprägt war, oder ob in diesem Zusammenhang nicht doch ein tatsächlicher wie imaginierter Gegensatz zwischen mediterranem Süden und transalpinem Norden stärker berücksichtigt werden müsste.

Weiterhin finden sich an einigen Stellen des Buches faktische Unzulänglichkeiten und Aussagen, die nicht dem aktuellen Forschungsstand der Europa-Historiographie entsprechen. So wurde beispielsweise die (deutsche) Mitteleuropa-Konzeption nicht mit Ende des Ersten Weltkriegs bedeutungslos (S. 106, 127), sondern spielte, wie Jürgen Elvert in seiner Habilitationsschrift fundiert nachweisen konnte, für die national-konservative Europadebatte der Weimarer Republik eine wichtige Rolle und wirkte als europapolitisches Denkmodell bis in die Zeit des Nationalsozialismus fort.6 Ferner war der Gründer der „Paneuropa“-Bewegung, Richard von Coudenhove-Kalergi, mit Sicherheit nicht der Vorkämpfer für ein demokratisch vereintes Europa, zu dem Geier ihn erklärt. Dass sich Coudenhoves Hoffnungen keinesfalls auf einen „Sieg der Demokratien über die Diktaturen“ (S. 151) richteten, „Paneuropa“ mithin nicht an ein freiheitlich-demokratisches politisches Konzept gebunden war, verdeutlichen bereits dessen intensive, langjährige Bemühungen, den italienischen Faschistenführer Benito Mussolini für seine Ideen zu gewinnen. Auf der anderen Seite war Coudenhoves Haltung zum Bolschewismus jedoch alles andere als „ambivalent“ (S. 150), sondern geprägt von einem tief sitzenden, aggressiven Antikommunismus, welcher den paneuropäische Gedanken maßgeblich prägte.7 Schließlich scheiterte das Europa-Memorandum des französischen Außenministers Aristide Briand 1930 nicht an der Ablehnung der „Mehrheit des Völkerbundes“ (S. 146), da es dem Völkerbund selbst überhaupt nicht vorgelegt, sondern nur an die 27 europäischen Völkerbund-Mitgliedsstaaten zur Begutachtung geschickt worden war und hier vor allem bei den Großmächte Großbritannien, Deutschland und Italien auf Zurückhaltung und Skepsis stieß.8
Diese Einwände mögen nebensächlich erscheinen, jedoch deuten sie auf ein grundsätzliches Problem des Buches hin, welches angesichts des knappen Raumes und des langen Untersuchungszeitraums von über 2500 Jahren an vielen Stellen zu oberflächlich und undetailliert bleibt. Zudem wäre es wünschenswert gewesen, wenn der Autor die Rezeptionsgeschichte einzelner Europa-Projekte stärker berücksichtigt hätte, anstatt deren Gestalt und Aufkommen lediglich ideengeschichtlich zu beschreiben und vage zu kontextualisieren. Dies hätte eventuell auch dazu beitragen können, die teilweise etwas teleologisch-normativ anmutende Auswahl und Darstellung der untersuchten Europa-Projekte zu kontrastieren, mithin zum Beispiel kritisch zu hinterfragen, ob die Europapläne eines Napoleon Bonapartes innerhalb der Geschichte der europäischen Idee wirklich nur ein „Zwischenspiel“ (S. 72, 75) waren, oder ob hegemonial-nationalistisch intendierte Einigungsideen des Kontinents nicht vielmehr lange Zeit deutlich traditionsreicher und wirkungsmächtiger als ihre föderalistischen Pendants waren. Tatsächlich wirken Geiers Interpretationen mitunter reichlich präsentistisch, etwa wenn er von Otto III. als „erstem Europäer auf dem Kaiserthron“ und vermeintlichem Gründervater einer europäischen Identität (S. 34) spricht.

Insgesamt bietet das Buch jedoch einen guten Einstieg in ein wichtiges Thema, das heute im Angesicht der augenscheinlichen, viel debattierten Krise des Integrationsprozesses in Europa aktueller ist denn je zuvor, namentlich die Frage nach den historischen Wurzeln und Triebkräften hinter der europäischen Einigung – eine Frage, die sich zwangsläufig mit der Erkenntnis verbindet, dass sich europäisches Denken und Bewusstsein nicht erst seit der Vorstellung des Schuman-Planes am 9. Mai 1950 finden lassen. Bedauerlicherweise thematisiert Geier die Geschichte der europäischen Idee nach dem Zweiten Weltkrieg lediglich in einem vierseitigen Nachwort, wobei die Phase der eigentlichen europäischen Integration ab den 1950er-Jahren gar in einem einzigen Satz abgehandelt wird (S. 155). Die Begründung des Autors, dass deren Verlauf ohnehin bekannt sei, kann kaum überzeugen. So dürfte sich auch ein diesbezüglich tatsächlich kundiger Leser im Anschluss an die Lektüre einer Vielzahl von antiken, mittelalterlichen und (früh-) neuzeitlichen Europaideen und -projekten einige Bemerkungen zu deren Bedeutung, Nachwirken und Persistenz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewünscht haben. Durch das Ausblenden der Zeit nach 1945 versäumt Geier es hingegen aufzuzeigen, wann, warum und wie aus der „Utopie Europa“ ein realpolitisch durchsetzungsfähiges Programm wurde.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Dawson, Christopher, Understanding Europe, London 1952; Hay, Denys, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957; Curcio, Carlo, Europa. Storia di un’idea, Florenz 1958; Chabod, Federico, Storia dell'idea d'Europa, Bari 1961; Barraclough Geoffrey, European Unity in Thought and Action, London 1963; Heater, Derek, The Idea of European Unity, Leicester 1992; Pagden, Anthony (Hrsg.), The Idea of Europe. From Antiquity to the European Union, Cambridge 1992; Wilson, Kevin; Dussen, Jan van der (Hrsg.), The History of the Idea of Europe, London 1993; Tielker, Wilhelm, Europa. Die Genese einer politischen Idee. Von der Antike bis zur Gegenwart, Münster 1998.
2 Sämtliche der genannten Europaentwürfe finden sich etwa bereits bei Foerster, Rolf H., Europa. Geschichte einer politischen Idee. Mit einer Bibliographie von 182 Einigungsplänen aus den Jahren 1306 bis 1945, München 1967.
3 Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.
4 Struck, Bernhard, Von Sachsen nach Polen und Frankreich. Die These der „Erfindung Osteuropas“ im Spiegel deutscher Reiseberichte um 1800, in: Petri, Rolf; Siegrist, Hannes (Hrsg.), Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie, Leipzig 2004, S. 125-143. In der älteren Forschung bereits Lemberg, Hans, Zur Entstehung des Osteuropabegriffes im 19. Jahrhundert. Vom ‚Norden‘ zum ‚Osten‘ Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48-91.
5 Schmale, Wolfgang, Wie europäisch ist Ostmitteleuropa? In: Themenportal Europäische Geschichte, <http://www.europa.clio-online.de/2006/Article=164> (24.07.2010).
6 Elvert, Jürgen, Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918-1945), Stuttgart 1999.
7 Vgl. etwa Ziegerhofer-Prettenthaler, Anita, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004, oder Stirk, Peter M.R., A History of European Integration since 1914, London 1996, S. 26f.
8 Neumann, Thomas, Die europäischen Integrationsbestrebungen in der Zwischenkriegszeit, Wien 1999, S. 157-202.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/