Die Universitäten des Kaiserreiches bildeten die geistige Elite des Landes aus, und die Ausbilder dieser Eliten, die lehrenden Professoren, genossen ein außerordentlich hohes Sozialprestige; dies sind zweifellos Allgemeinplätze. Der ordentliche Professor an der Spitze, der sprichwörtliche Ordinarius, in der Regel auch Reserveoffizier und Geheimrat, fand schon zeitgenössisch Eingang in die Literatur. Mit seinem zunehmenden Verschwinden in den universitären Veränderungen des 20. Jahrhunderts wurde er immer mehr zu einer Symbolfigur der wilhelminischen Gesellschaftsordnung. Ältere historische Untersuchungen schrieben ihm daher noch stark die Rolle des unreflektiert nationalen, den Obrigkeitsstaat verkörpernden und die männerbündische Welt akademische Welt gegen Veränderungen abschirmenden Patriarchen zu.1 Arbeiten jüngeren Datums kommen mit breiteren empirisch-sozialstatistischen Grundlagen erwartungsgemäß zu deutlich differenzierteren Aussagen über den Lehrkörper ganzer Universitäten bzw. einzelner Fakultäten oder Fächer.2
Für die Ausdifferenzierung des historischen Bildes der akademischen Entwicklungen in Deutschland insgesamt ist der Wert derartiger personalbiographischer Untersuchungen kaum zu überschätzen. Denn wie sonst als durch personelle Längsschnitte – pragmatischer Weise anhand des Lehrkörpers einer Universität – könnten allgemeinere, überindividuelle Aussagen über Herkunft, Habitus, politische Haltung und Verquickung der Professorenschaft in familiären und wissenschaftlichen Netzwerken getroffen werden? Mit Tübingen und Erlangen sind bisher nur zwei Universitäten nach diesen breiten prosopographischen Fragestellungen untersucht worden, eine Studie über die Ordinarien der Friedrich-Wilhelms-Universität wird demnächst vorliegen.3 Dass auch damit längst noch kein Gesamtbild der deutschen Universitäten des 19. und 20. Jahrhunderts geschaffen sein wird, ist klar; Bestrebungen nach einem großen, alle Universitäten umfassenden Professorenkatalog versuchen derzeit die diesbezüglichen Einzelunternehmungen zu bündeln.4 Aber selbst wenn alle Universitäten untersucht wären, würde noch immer ein großer Teil der akademischen Landschaft Deutschlands fehlen, denn an die Seite der älteren Universitäten waren im 19. Jahrhundert die Technischen Hochschulen getreten, die ihnen später in Rang und Status gleichgesetzt wurden und in den gegenwärtigen Exzellenzinitiativen nicht selten die Nase vorn haben.
Wolfram C. Kändler ist es zu danken, daß mit der TH Berlin-Charlottenburg nun eine der größten heutigen Technischen Universitäten im ersten Jahrhundert ihrer Geschichte prosopographisch untersucht ist. Seine Gießener Dissertation beginnt mit einer knappen Entstehungsgeschichte des technischen Hochschulwesens (Kapitel 1) und wendet sich dann den „Rahmenbedingungen“ der Berliner Entwicklungen zu (Kapitel 2). Von 1851 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bringt das 80seitige Kapitel nicht weniger als eine institutionelle Geschichte der TH Berlin Charlottenburg, ihrer Vorgängerakademien und der an- und eingegliederten Hochschulen. Kändler blickt hier beständig über den Charlottenburger Tellerrand hinaus und bettet seine Befunde in die generelle Emanzipierungs- und Aufwertungsgeschichte der technischen Hochschulen gegenüber den Universitäten ein. Vor allem der Wissenschaftspolitik der Weimarer Republik mißt er bei der Umsetzung dieser Tendenz der Aufhebung der Zwei-Klassen-Einteilung der deutschen Hochschulen große Bedeutung bei.
Die beiden letzten Großabschnitte der Studie bilden den eigentlichen Kern der Arbeit. In Kapitel 3 widmet sich Kändler den jeweiligen Lebens- und Karriereabschnitten der Dozenten vor dem Erlangen der Charlottenburger Professur. Dabei werden die geographischen und sozialen Herkunftsdaten, die Konfessionszugehörigkeiten, die Ausbildungswege sowie die anschließenden Berufsabschnitte der 302 im Untersuchungszeitraum Berufenen systematisiert. Wie viel Rechercheaufwand hinter den einzelnen tabellarisch zusammengefaßten, immer aber auch in Einzelbeispielen narrativ verdeutlichten Frage- und Problemstellungen steckt, wird wiederholt deutlich. Hier sei nur auf die aufschlußreiche Aufschlüsselung der Väterberufe der Charlottenburger Hochschullehrer hingewiesen. Überzeugend ist in diesem Zusammenhang auch die Analyse der geburtsständischen Sozialstruktur der Professoren. Unabhängig von allen nicht berücksichtigten Feinjustierungen durch die Untersuchungen individueller Biographien zeigt sie das erstaunliche Wechselverhältnis zwischen den sozialen Herkunftsmilieus Bildungs-, Wirtschafts-, und Kleinbürgertum; Adel, Militär und Bauernschaft spielen eine nur marginale Rolle.
Im vierten Kapitel werden die Charlottenburger Hochschullehrer während ihrer professoralen Amtszeit sozialstatistisch seziert. Am Anfang untersucht Kändler die Berufungspraxis der Hochschule, wobei erwartungsgemäß die Selbstrekrutierungsmechanismen der Techniker und Ingenieure wie der Universitätsprofessoren auch in Abhängigkeit zu den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen standen. Das Jahr 1933 zeigt mit seinen Entlassungen von rassisch und politisch unliebsam gewordenen Wissenschaftlern die Einbindung der Hochschule in die administrativen Strukturen Preußens bzw. des Reiches, aber auch die durchschnittlichen Mentalitäten der verbleibenden Hochschullehrerschaft. Kändlers Befunde runden hier die Ergebnisse der zuletzt zahlreich erschienen Forschungen zur Geschichte der Naturwissenschaften in Deutschland ab, auch in Bezug auf die Entwicklungen während des Zweiten Weltkrieges.5
Mit sparsamen Grafiken illustriert der Autor seine Erkenntnisse, und im Gegensatz zu manch anderen statistischen Arbeiten ist Kändlers Sozialgeschichte der Berliner Professoren auffallend textlastig und außerordentlich gut lesbar. Dort, wo aus Gründen der Umfangsbeschränkungen Inhalte nur knapp angesprochen werden, nehmen ausführliche Anmerkungen den Leser mit in die Detailtiefe der beschriebenen Gegenstände. Die Arbeit ist ein großer Gewinn für die universitäts- und wissenschaftsgeschichtliche Forschung und wird hoffentlich als Anregung für Nachahmer dienen, die sich der sozialstatistischen Erforschung der Geschichte anderer, bisher nicht oder nur in Ansätzen untersuchter deutscher Hochschulen (und eben nicht nur Universitäten) widmen.
Anmerkungen:
1 Hans Peter Bleuel, Deutschlands Bekenner, München 1968; Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1969.
2 Vgl. etwa Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001; Olaf Willett, Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743-1933, Göttingen 2001; für einen kürzeren Zeitraum auch Michael Parak, Hochschule und Wissenschaft in zwei deutschen Diktaturen. Elitenaustausch an sächsischen Hochschulen 1933-1952, Köln 2004.
3 Frank Wagner, Beharrliche Einheit der Vielfalt. Das Ordinarienkollegium der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1809 bis 1945, Phil. Diss. Universität Gießen 2008 (Druck in Vorbereitung).
4 Vgl. dazu Ulf Morgenstern, Nabelschau, Speziallexikon oder sozialstatistische Quellensammlung? Über Intention, Wandel und Nutzen von Profesorenkatalogen, in: ders. / Thomas Riechert (Hrsg.), Catalogus Professorum Lipsiensis. Konzeption, technische Umsetzung und Anwendungen für Professorenkataloge im Semantic Web, Leipzig 2010, S. 3-34.
5 Vgl. vor allem die zahlreichen Arbeiten aus dem Forschungsprojekt zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, etwa Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Göttingen 2007.