Die deutsch-namibischen Beziehungen in Geschichte und Gegenwart sind in der Literatur wohl kaum ein vernachlässigtes, doch nach wie vor ein kontroverses Thema. „Deutsch-Südwestafrika“ ist ein kolonialapologetischer Topos schlechthin geblieben, der sich auch heute noch positiv auf den Tourismus im Lande auswirkt. Aber auch die Kritik siedlerkolonialer Herrschaft, die in der Massenvernichtung von Herero, Nama, Damara und San kulminierte und deren darauf folgende „Pazifizierung“ genau besehen die dem südafrikanischen Apartheid-Regime zugeschriebene, euphemistisch mit „getrennter Entwicklung“ umschriebene Apartheid begründete, hat sich angesichts der Beharrlichkeit der polarisierten, aufeinander prallenden Sichtweisen zum Dauerbrenner entwickelt. Hinzu kommt der Fortbestand einer deutschstämmigen Minderheit im Lande, wenngleich sich diese keinesfalls als so homogen erweist, wie dies allzu voreilig oftmals angenommen wird. Doch alle diese Elemente trugen dazu bei, dass die hundertjährige Wiederkehr des Kriegs zwischen den Herero und den „Schutztruppen“ des Deutschen Kaiserreichs ab 2004 in einer Fülle von unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Analysen resultierte, die oft nur den thematisch-zeitlichen Bezug gemeinsam haben, sich in Inhalt und Schwerpunktsetzung sowie politisch-ideologischer Sichtweise hingegen oftmals deutlicher unterscheiden als ergänzen.
Die nunmehr publizierte Dissertation der in Köln promovierten Ethnologin Larissa Förster hinkt dabei nur scheinbar zeitlich hinterher. Zwar basiert ihre Darstellung und Analyse hauptsächlich auf insgesamt sechs Feldstudien zwischen 1999 und 2004, deren Relevanz bleibt jedoch uneingeschränkt aktuell und bereichert den bisherigen Kenntnisstand um eine in dieser Form vorher noch nicht präsentierte Perspektive von „Verflechtungsgeschichte“ (Shalini Randeria), der die Autorin das Thema ihrer Arbeit einleitend zuordnet (S. 19). Sie betritt damit selbst innerhalb der relativ ausgetrampelten, eingangs umrissenen Fläche deutsch-namibischer Beziehungen Neuland.
Wie der Titel klar erkennbar umschreibt, geht es im Kern um den spezifischen heutigen Umgang von deutsch- und hererosprachigen Menschen in Namibia mit dem Krieg zwischen ihren Vorfahren, der ab 1904 große Teile des Landes erschütterte. Förster versteht es sich der Versuchung zu entziehen, die seit den 1960er-Jahren entbrannte Grundsatzdebatte, ob es sich dabei um den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts gehandelt habe, auszuklammern. Ihr Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf die unterschiedlichen Formen der Kriegserinnerung, insbesondere unter denjenigen Nachfahren beider Bevölkerungsgruppen, die heute noch in den Gebieten des damaligen Kriegsgeschehens als kommerzielle Farmer bzw. im Herero-Kommunalgebiet leben, dessen Grenzen als Folge des Krieges den weiteren Lebensraum der Nachkommen markierten. Dabei wird quasi als „Nebeneinsicht“ auch deutlich, dass es mit der Apartheid auch seit der Unabhängigkeit Namibias 1990 keinesfalls gänzlich vorbei ist.
Der thematischen Einführung und Verortung der Feldforschung (S. 13-75) gelingt nicht nur die Einbindung der empirischen Arbeit in die allgemeinere Sekundärliteratur zu Erinnerungspolitik. Sie zeichnet sich auch durch eine erfreulich sensible (Selbst-)Reflektion zum Untersuchungsgegenstand und der Interaktion mit den Befragten vor Ort aus. Es folgen zwei Hauptkapitel zu „Erinnerungsorte[n]“ (S. 77-183) und „Erinnerungsrituale[n]“ (S. 185-341), die Försters Spurensuche nicht nur durch ergänzendes Bildmaterial zugänglich und nachvollziehbar machen. So wird ein Panorama unterschiedlicher Lebenswelten präsentiert. Diese illustrieren auf frappierende Weise, wie historische Ereignisse ein Jahrhundert danach bis hin zu unterschiedlichen landschaftlichen Fixpunkten gruppenspezifisch markant verschieden wahrgenommen, abgespeichert und reproduziert werden.
Augenfällig hierfür ist das Beispiel des Waterbergs (von dem es die „große“ und die „kleine“ Ausgabe gibt). Am Fuße des Hochplateaus ist mit dem deutschen Soldatenfriedhof der markanteste Bezugspunkt deutscher Heldenverehrung platziert. Aber die „Schlacht am Waterberg“, wie sie bis heute in der dominanten Geschichtsschreibung verankert ist, hat es genau besehen gar nicht gegeben. Das größte der zahlreichen Scharmützel und Gefechte zwischen den Schutztruppensoldaten und Einheiten der Herero fand bei Ohamakari statt, wo die Herero alljährlich ihrer Toten gedenken. Der Waterberg hingegen wurde als Projektionsfläche für eine deutschsprachige Siedlerschaft zum Naturmonument mit identifikatorischem Heimatbezug – quasi eine vertraute Umgebung mit heimatlicher Aura, nicht dräuend, sondern freundlich (S. 91ff.). Die dortigen Kriegsgräber erwiesen sich als Bindeglied und eigneten sich zu identitätsstärkenden „Gräberfahrten“, die als Südwester Initiationsritus für Generationen von jugendlichen Pfadfindern zum „rite de passage“ herhielten und erst in jüngster Zeit aus der Mode kamen. Unter einer bestimmten Spezies deutscher Touristen hingegen erfreuen sie sich freilich noch immer ob des dort fühlbaren historischen Heldentums ungebrochener Beliebtheit. Die jährliche Waterberg-Gedenkfeier war so ein Ritual kultureller Selbstvergewisserung (S. 219) – wobei eine aus heutiger Sicht bizarr anmutende nachträgliche Erfindung von „Eingeborenengräbern“ als Legitimationsakt und Alibi während der 1960er-Jahre entstand und die Instrumentalisierung nur umso deutlicher unterstrich.
In erkennbarem Kontrast hierzu manifestieren sich die Überlieferungen unter den zumeist im angrenzenden kommunalen Gebiet des sogenannten Hererolandes lebenden Menschen, unter denen im übrigen eine größere Zahl von „ovaserandu“ (Hellhäutigen) auf deutsches Blut in ihren Adern und entsprechende Familiennamen als direkte (und zumeist nicht freiwillige) Kriegsfolge verweisen können. Die befragten Herero bedürfen keiner Gräber, um ihrer Vorfahren zu erinnern und deren Kämpfe gegen die deutschen Kolonialtruppen zu verorten. Die Kriegsschauplätze um Ohamakari repräsentieren im Gedächtnis zugleich auch Familienorte und -erlebnisse (S. 140f.).
So arbeitet Förster detailliert anhand der Aufzeichnungen ihrer zahlreichen Gespräche zwei getrennte Erzählkulturen heraus (S. 154). Während die beiden Stränge paralleler, aber trotz des Begriffs kaum ineinander greifender oder miteinander verwobener „Verflechtungsgeschichte“ das Kernstück der Arbeit sind, waren für mich (vermutlich aufgrund meiner eigenen Geschichte) hingegen die eher en passant vermerkten „Grenzgänger“ und deren Wissen das Bemerkenswerteste an dieser Studie. So gibt es nicht nur unter den Herero eine deutlich umfassendere Kenntnis der Erinnerungslandschaft auch auf der „anderen Seite“, zu der es durch Generationen von Farmarbeiterfamilien stets Zugang gab. Vielmehr gibt es auch eine kleine Minderheit deutschsprachiger Farmer, die einige Kenntnisse über die Erinnerungslandschaft jenseits der Grenze zum Hereroland besitzen: „Auffällig war jedoch, dass nur diejenigen Gesprächspartner darüber verfügten, die entweder räumlich oder sozial der hererosprachigen Gemeinschaft näher standen als die meisten anderen, also solche, die selbst Grenzgänger waren oder mit Grenzgängern in engem Kontakt standen oder gestanden hatten“ (S. 110f.).
„Schlussbetrachtungen“ (S. 343-348) und ein aktualitätsbedingter „Ausblick“ (S. 349-359) beschließen eine gründliche Bestandsaufnahme der weitgehend selektiven Sichtweisen zweier gesellschaftlicher Gruppen, deren gemeinsame Geschichte nicht geteilt sondern unterschiedlich verarbeitet und rezipiert wird. Das „cultural mapping“ besticht durch die Eindeutigkeit der Mehrdeutigkeiten im heutigen Diskurs Namibias, der durch die Debatten und Gedenkfeiern von 2004 eine erkennbare Neudimensionierung unter den Herero-Gesprächspartnern erfuhr. Diese Neudimensionierung spiegelte, so die Autorin, eine „Zeitgebundenheit sprachlicher Manifestationen von Erinnerungsprozessen in einem Wandel der Begriffe“ wider: „War von meinen Interviewpartnern im Jahr 2001 durchgängig über den ‚Krieg’ gesprochen worden, so zirkulierte bei den Gedenkfeiern von 2004 überraschenderweise nur noch der Begriff ‚Völkermord’“ (S. 345). Seither erfuhr, wie der Ausblick vermerkt, der innernamibische Diskurs unter den Nachkommen der vom deutschen Kolonialismus durch physische Vernichtung hauptsächlich betroffenen Bevölkerungsgruppen eine Pluralisierung des Erinnerungsdiskurses, der die Monopolisierung des Opfer- und Widerstandsstatus durch Vertreter der Herero relativiert.
Positiv fällt auf, wie sich Förster mit der beurteilenden eigenen Meinung sehr diszipliniert zurückhält und das evidente Minenfeld heftig umstrittener Geschichtsauslegung geschickt vermeidet. Sie lässt die von ihr befragten Protagonisten zu Wort kommen und gibt ihre eigene Position nur gelegentlich und eher indirekt (wenn auch eindeutig) zu erkennen. Das verleiht der „oral history“ als Kernstück dieser Studie noch mehr Substanz und erlaubt der Leserschaft auch die halbwegs freie eigene Einschätzung und Schlussfolgerung. Im Ergebnis wird diese Arbeit es somit schaffen, sich an Interessenten jeglicher „couleur“ (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) zu wenden. Das einzige Manko bleibt dabei leider die Beschränkung auf ein der deutschen Sprache mächtiges Publikum, denn eigentlich hätten die Ergebnisse einer des Englischen kundigen Öffentlichkeit in Nambia zugänglich gemacht werden sollen.