Auf den ersten Blick erscheint das Forschungsfeld Reichsautobahn als abgeforscht. Während Erhard Schütz und Eckhard Gruber die ästhetischen Aspekte der Reichsautobahn als einem linienhaften und im doppelten Sinne er-fahrbaren Infrastrukturprojekt ausgeleuchtet haben, beschäftigte sich Thomas Zellers Dissertation mit den landschaftsgestalterischen und landschaftsökologischen Aspekten des Autobahnbaus im Nationalsozialismus.1 Zur Beschreibung der Reichsautobahn als Herrschaftssymbol mit Ewigkeitswert hatte Rainer Stommer bereits 1982 den eingängigen Begriff der „Pyramiden des Dritten Reiches“ geprägt, der die Aspekte der Monumentalität und der praktischen Zweckfreiheit jedoch überakzentuiert.2
Über den Prozess der Autobahnplanung in der polykratischen Herrschaftsstruktur des Nationalsozialismus und den Stellenwert der konzeptionellen Vorplanungen durch den Autobahn-Lobbyverein „Hafraba“ ist bislang noch zu wenig bekannt. Obwohl personelle Kontinuitäten von der „Hafraba“ und der 1933 von Generalinspektor Fritz Todt gegründeten „Gezuvor“ (Gesellschaft zur Vorbereitung des Reichsautobahnbaus) für die Planung des Autobahnnetzes feststellbar sind, wurden die Hafraba-Pläne zur Trassenführung nur als Versatzstücke in die nationalsozialistische Autobahnplanung aufgenommen. Der zuerst begonnene Autobahnabschnitt Frankfurt-Darmstadt-Mannheim sah auf den ersten Blick wie eine Adaption des Hafraba-Konzept aus, doch wichen die Planungen der Gezuvor und die Bauingenieure des Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt, erheblich von den Hafraba-Plänen ab.
Richard Vahrenkamps Studie basiert auf der umfassend ausgewerteten zeitgenössischen Straßenbau- und Straßenverkehrspresse sowie den überlieferten Akten der regionalen Bauleitungen des Generalinspektors. Obwohl der Kasseler Professor für Produktionswirtschaft und Logistik die Vorgeschichte der Reichsautobahnplanung gründlich untersucht, bleiben einige wichtige Fragen jedoch ungestellt. Todts politische und administrative Durchsetzungsfähigkeit gegenüber den eigentlichen Autobahnpionieren der Hafraba war nicht allein das Ergebnis seiner Immediatstellung unter Hitler. Sie basierte auch auf der Tatsache, dass die Planungen für den Autobahnbau bis 1933 selbst in der Auto- und Straßenverkehrspresse kaum Resonanz gefunden hatten und es Todt leicht fiel, das Autobahnprojekt als neuartige und visionäre „Straßen des Führers“ zu propagieren.
Vahrenkamp stellt den Planungs- und Bauprozess der Autobahn am Beispiel der Streckenabschnitte Frankfurt-Mannheim, Kassel-Göttingen und München-Salzburg in sich schlüssig und materialreich aus baugeschichtlicher, verkehrs- und wirtschaftshistorischer Perspektive dar und lässt kaum einen Aspekt unbeachtet. Es bleibt jedoch die Frage offen, weshalb gerade die Autobahn München-Salzburg als eine der ersten Strecken in Angriff genommen wurde, obwohl ihr nach zeitgenössischen Verkehrsprognosen eine geringere Verkehrsbedeutung als anderen bereits vorgeplanten Strecken vorhergesagt wurde. Der Perspektivwechsel auf die zentrale Entscheidungsebene der Gezuvor und des Generalinspektors Fritz Todt hätte die Frage beantworten können, weshalb die Strecke München-Salzburg und auch der (hier nicht behandelte) sehr verkehrsschwache ostpreußische Streckenabschnitt Elbing-Königsberg früher als Abschnitte in verkehrsreichen Ballungsräumen begonnen wurden, wo sich eine Unterbringung der Bauarbeiter in den ungeliebten und teuren Baulagern erübrigt hätte. Vahrenkamp zeigt auch, dass die Veröffentlichung von Verkehrszählungsergebnissen nachträglich die verkehrspolitische Sinnhaftigkeit des Autobahnbaus bestätigen sollte, der aus Todts Sicht eigentlich keiner verkehrspolitischen Letztbegründung bedurfte. Um die Entscheidung für die Autobahn München-Salzburg auch verkehrspolitisch zu legitimieren, wurden die Zählungen gezielt auf Wochenenden mit starkem Ausflugsverkehr gelegt.
Im Zusammenhang mit den Prioritäten beim Bau des Autobahnnetzes hätte es sich gelohnt, die politische Einflussnahme durchsetzungsstarker Parteiführer wie den ostpreußischen Gauleiter Erich Koch und den Leiter des „Traditionsgaus“ Oberbayern oder die persönlichen Präferenzen von Todt zumindest in Form von gut informierten und durchdachten Hypothesen über die Motivlage und die Machtpositionen der Akteure einmal „durchzuspielen“. Einige Hinweise aus der Forschung legen die Hypothese nahe, dass der Autobahnbau nicht allein als ein zentralistisch gesteuerter top-down-Prozess zu verstehen ist. Einflussnahmen von Oberbürgermeistern und Gauleitern, ja sogar von der Bayreuther Festspielintendantin Winifried Wagner auf die Trassenführung sind nachweisbar.3
Da die Akten der Gezuvor und des Generalinspektors zum größeren Teil vernichtet wurden, ist eine aktenpositivistische Rekonstruktion der Motive und Entscheidungsprozesse nur eingeschränkt möglich. Angesichts der ästhetischen Gestaltungsmöglichkeiten bei der Trassierung der Autobahn München-Salzburg, die Todt intensiv nutzte, wird das Motiv einer besonders sorgfältig und imposant gestalteten Referenzstrecke mit Sicherheit eine Rolle gespielt haben. Die von Todt gesteuerte intensive Berichterstattung der Auto- und Straßenbaupresse legt diese Hypothese nahe. Das durchaus plausible Motiv des Wagnerianers Todt, mit der Autobahn München-Salzburg ein ingenieurtechnisch-landschaftsästhetisches Gesamtkunstwerk im Wagnerschen Sinne zu schaffen, ist in der Autobahnhistoriographie bislang noch nicht untersucht worden, obwohl es dem Gestaltungsanspruch seiner Akteure sicherlich am besten treffen würde.
Fazit: Wer eine aktuelle Darstellung des nationalsozialistischen Autobahnbaus mit allen thematischen und methodischen Facetten sucht, ist mit Vahrenkamps Buch, ergänzt um Schütz/Grubers „Mythos Autobahn“, am besten bedient.
Anmerkungen:
1 Erhard Schütz / Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn, Berlin 1996; Thomas Zeller, Straße – Bahn – Panorama, Frankfurt am Main 2002.
2 Rainer Stommer, Reichsautobahnen – Pyramiden des Dritten Reiches, Marburg 1982.
3 Die bald erscheinende Dissertation von Reiner Ruppmann über den Autobahnbau im Rhein-Main-Gebiet verspricht hierüber wertvolle Ergebnisse. Zur erfolgreichen Intervention Winifried Wagners bei Hitler gegen die Trassenführung der Autobahn bei Bayreuth s. Brigitte Hamann, Winifried Wagner oder Hitlers Bayreuth, München 2002.