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Titel
Runensteine in Schweden. Studien zu Aufstellungsort und Funktion


Autor(en)
Klos, Lydia
Reihe
Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsband 64
Erschienen
Berlin 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
XVI, 434 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Friedrich Weber, Historisches Seminar, Technische Universität Braunschweig

Vereinnahmungswünsche und Vorbehalte, die Runendenkmäler heutzutage wecken, rühren meist von Bedeutungszuschreibungen her, die viel mit der Geschichte der Neuzeit, jedoch wenig mit der Lebens- und Vorstellungswelt ihrer Hersteller zu tun haben. Deren Erforschung ist für Historiker, die nicht auch altertumskundlich und nordistisch versiert sind, mit der Überwindung von Sprachbarrieren und fachlichen Spezialisierungen verbunden. Dies gilt ebenfalls für den Rezensenten, der sich aus der Außensicht eines Mediävisten äußert. Seinen Fachinteressen kommen die interdisziplinäre Tätigkeit und die Vermittlungsarbeit entgegen, die die skandinavischen Forscher und ihre auswärtigen Kollegen leisten.1 Die Erforschung übergreifender Entwicklungen im europäischen Mittelalter braucht die durch sie erschlossenen und gedeuteten Quellen.

Einen solchen Beitrag leistet die Kieler Dissertation von Lydia Klos. Ihr Gegenstand sind die zweieinhalbtausend Runensteine, die sich auf dem Gebiet des heutigen Schweden sowie vormals schwedischer Landschaften erhalten haben. Damit nimmt sie ein gutes Drittel der bekannten Runendenkmäler in den Blick. Der Zeitrahmen der Untersuchung reicht von der um das Jahr 400 geritzten Runenreihe im älteren Futhark auf der Steinplatte aus dem gotländischen Kylver (G 88) bis hin zu dem um 1150 bei Harg zum Gedenken an Aldulf und Sigborg gesetzten Stein (U 595). Die beiden Denkmäler verweisen auf den Sitz im Leben ihrer Quellengattung und auf die oftmals nur von den Steinen bezeugten Entwicklungen im Skandinavien der „Runenstein-Zeit“ (S. 36). So wurde die Steinplatte von Kylver über einem eisenzeitlichen Grab gefunden. Die Deutung ihrer Runenreihe nebst eines Palindroms als magische und pragmatische Zeichen hat die Forschung beschäftigt.2 Der Runenstein von Harg bezeugt dagegen die Christianisierung Schwedens, umgibt seine Inschrift doch ein Bild, das unter einem Kreuz eine Kirche zeigt, deren Glocke gerade geläutet wird.3 Er steht in Uppland, der Landschaft, aus der das meist erst spät gesetzte Gros der Runensteine Schwedens stammt.

Lydia Klos will in ihrer Untersuchung der schwedischen Runensteine nachweisen, dass die von der älteren Forschung oft getrennt voneinander untersuchten Gestaltungsmerkmale von Inschrift, Ornamentik, Farbigkeit, Materialität und Standort von den Menschen der Entstehungszeit der Denkmäler in einem sinnhaften „Zusammenspiel“ (S. 11) wahrgenommen und bewusst eingesetzt worden sind. Sie stellt insbesondere die Frage nach dem ursprünglichen Standort als funktionalem Teil des Denkmalkomplexes ‚Runenstein‘, wie ihn einige Inschriften selbst angeben. Vergleichbare Fragen nach Intermedialität und dem bedeutungssteigernden Zusammenwirken von Schrift und Kontext beschäftigen auch die interdisziplinäre Erforschung mittelalterlicher Schriftdenkmäler.4 Aus mediävistischer Perspektive interessiert daher die Untersuchung des spezifischen Quellenmaterials mit diesem Ansatz.

In ihrer Darstellung ist Lydia Klos ebenso auf Sorgfalt in der Begründung der einzelnen Arbeitsschritte und bei der Ergebnissicherung bedacht, wie darauf, Verständnis- und Orientierungshilfen zu bieten. Sie macht deutlich, wie viel Interpretationsarbeit bereits in der Normalisierung und Übersetzung der Inschriftentexte steckt. Zusammen mit Indizes, die die einzelnen Denkmäler nach Signatur und Ort aufführen, ermöglichen die Verbreitungskarten im Anhang gezielte Suchen und Überblicke. Deutlich wird, wie sehr Lydia Klos von der Erfassung des Materials in traditionsreichen Inschriftencorpora wie den ‚Sveriges Runinskrifter‘, der archäologischen Landesaufnahme durch das Riksantikvarieämbetet und der Samnordisk Runtextdatabas profitiert hat.

Der im einleitenden Kapitel gegebene Überblick zur Überlieferungs- und Forschungsgeschichte sammelt die älteren Beobachtungen zu der noch nicht systematisch untersuchten Hauptfrage. So wird seit Beginn ihrer Erforschung der Zusammenhang zwischen Runensteinen und Grabstätten sowie derjenige zu anderen in den Inschriften erwähnten Objekten und öffentlichen Orten diskutiert. Den Mediävisten erfreut darüber hinaus die Erwähnung eines „Runustenen“ als Grenzmarkierung in einer Königsurkunde von 1287 (S. 3), den Neuzeithistoriker die Gleichzeitigkeit des gegensätzlichen Umgangs mit dem historischen Erbe: Wurden altertumsbegeisterte Professoren in Grabhügeln und unter imposanten Runensteinen im nordischen Stil beigesetzt, so entdeckten schwedische Bauern in der Zeitspanne zwischen der Handelseinführung des Dynamits und der Etablierung des Denkmalschutzes die Möglichkeit, die Nobels Produkt ihnen zur Flurbereinigung von einigen als hinderlich empfundenen Originalen bot.

Im ersten Teil ihrer Arbeit sichtet Lydia Klos den archäologischen Befund und die Aussagen der Inschriften mit Blick auf die ursprünglichen Standorte der Steine und ihr Umfeld. Nur ein Viertel der 2.654 untersuchten Runensteine steht wahrscheinlich noch an seinem Aufstellungsort. Beinahe die Hälfte der Gesamtüberlieferung ist dagegen sekundär in Kirchen und auf Friedhöfe gelangt. Die verbliebenen Runensteine wurden über den ganzen Untersuchungszeitraum hinweg meist an Gräberfeldern errichtet. Dieses Ergebnis steht in Kontrast zu dem der Inschriftenanalyse, die Übereinstimmungen zwischen den Selbstaussagen der Denkmäler und ihrem tatsächlichen Umfeld vor allem bei Verweisen auf Wegbefestigungen, besondere Grabtypen und andere Steine feststellen konnte. Alternative Selbstbezeichnungen zu steinn wie kumbl oder merki heben die Denkmalfunktion der Runensteine hervor. Lydia Klos deutet die unterschiedlichen Ergebnisse dahingehend, dass die Steinsetzung an einem anderen Platz als einem Gräberfeld eine Abweichung von der Konvention darstellte, die nach Erklärung verlangte.

Von dieser bewussten Standortwahl wird im zweiten Teil der Arbeit auf die intendierte Funktionalität der Runensteine geschlossen. Mit Hilfe literarischer Quellen arbeitet Lydia Klos die Bedeutung der Gräberfelder im vorchristlichen Schweden heraus. In dessen Gesellschaft war die „monumentale Bewahrung“ (S. 344) der Verstorbenen Ausdruck ihrer fortbestehenden Gemeinschaft mit den Lebenden. An den Grabdenkmälern hingen Nachruhm und Anerkennung, weshalb sie auch bedeutsame Handlungsorte waren. Lydia Klos schlägt vor, den schrifttragenden Runensteinen an Gräberfeldern die Funktion einer Schwelle zuzuschreiben, die der kontrollierten Kommunikation mit den Toten diente. In dieser Funktion oder als Denkmal an einer für das Gemeinwohl angelegten Struktur in der Landschaft tradierten die Runensteine gesellschaftliche Wertvorstellungen. Führte die Christianisierung letztlich zum Erliegen des Runensteinsetzens, so erfüllte das etablierte Medium noch im Christianisierungsprozess eine wichtige Brückenfunktion. Bereits die Ausbreitung des neuen Glaubens lässt sich an der Verbreitung der Steine ablesen, die nun christliche Inhalte transportierten und zugleich die Kontinuität hergebrachter Erinnerungsformen wahrten. Da viele Kirchen an den alten Gräberfeldern errichtet wurden, integrierte man die dort stehenden Runensteine in den Kirchenbau, der seinerseits ähnliche Funktionen wie sie übernahm. Für den damit einhergehenden gesellschaftlichen und herrschaftlichen Wandel steht die gleichzeitige Ausformung der für das vormoderne Schweden bedeutsamen Kirchspielverfassung. Die Entwicklung vom Runenstein zur Kirche, die Lydia Klos detailliert nachzeichnet, lohnt den Vergleich mit ähnlichen Entwicklungen auf dem Kontinent.5

Anmerkungen:
1 Beispielsweise durch die neue Zeitschrift Futhark <http://www.futhark-journal.com> (16.01.2012).
2 Terje Spurkland, Norwegian Runes and Runic Inscriptions, Woodbridge 2005, S. 1f.; Klaus Düwel, Runenkunde, 4. überarb. u. aktualisierte Aufl., Stuttgart 2008, S. 209f.
3 Henrik Williams, Runestones and the Conversion of Sweden, in: Carole M. Cusack / Peter Oldmeadow (Hrsg.), This Immense Panorama. Studies in Honour of Eric J. Sharpe, Sydney 1999, S. 59–78.
4 Vgl. zuletzt Christoph Dartmann, Zur Einführung: Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur zwischen Pragmatik und Performanz, in: Ders. / Thomas Scharff / Christoph Friedrich Weber (Hrsg.), Zwischen Pragmatik und Performanz. Dimensionen mittelalterlicher Schriftkultur, Turnhout 2011, S. 1–23.
5 Vgl. Heiko Steuer, Der gesellschaftliche Umbruch um 700 im östlichen Merowingerreich. Archäologie und Geschichte, in: Elizabeth Harding / Natalie Krentz (Hrsg.), Symbolik in Zeiten von Krise und gesellschaftlichem Umbruch. Darstellung und Wahrnehmung vormoderner Ordnung im Wandel, Münster 2011, S. 57-86; Miriam Czock, Kirchenräume schaffen, Kirchenräume erhalten. Kirchengebäude als heilige Räume in der Karolingerzeit, in: Anja Rathmann-Lutz (Hrsg.), Visibilität des Unsichtbaren. Sehen und Verstehen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Zürich 2011, S. 53–67.