Was ist europäische Lebenskultur und Lebensart und wie sieht sie aus? Asta Vonderau hat diese Thematik am Beispiel der Eliten Litauens zum Gegenstand ihrer Dissertation im Fach Europäische Ethnologie gemacht. Während ihrer siebenmonatigen empirischen Forschung in der litauischen Hauptstadt Vilnius im Jahr 2005 hat sie danach gefragt, welche kulturellen Kategorien von Erfolg und gutem Leben im Zuge der postsozialistischen Transformation und der europäischen Integration des Landes im Lebensalltag bestimmend wurden (S. 7 + 13).
Hierbei sind für die Autorin drei theoretische Ansätze zentral, die sie in der Einführung darlegt: Ausgehend von der Soziologie Zygmunt Baumanns fragt A. Vonderau, wie in der fragmentierten postmodernen Gesellschaft lokale und globale Machtstrukturen soziale Ordnung und individuelle Lebensentwürfe beeinflussen (S. 10 + 11). Innerhalb dieses Beziehungsgeflechts stellen, nach Arjun Appadurai, die Imaginationen des guten Lebens wirkmächtige soziale Praxen dar. In Litauen trugen sie wesentlich zum Zusammenbruch des Sozialismus bei; für die Autorin gilt es, nun ihre Neukonstruktion im Postsozialismus zu untersuchen (S. 11 + 12). Dafür greift sie auf die Überlegungen von Elisabeth Dunn zurück und fragt, welche Subjektivitätsformen in den makroökonomischen Strukturen des postsozialistischen Litauens erfolgreich sind (S. 12).
Auf die theoretische Einführung der Forschungsfrage folgen drei große Abschnitte. Im ersten legt die Autorin ihre methodologische und begriffliche Herangehensweise dar. Im zweiten und dritten wertet sie ihre Forschungsergebnisse aus der teilnehmenden Beobachtung, den Interviews, der Medien- und Diskursanalyse aus. Leitend ist dabei für A. Vonderau die Frage, welcher Persönlichkeitstypus im neuen Litauen erfolgreich ist und mittels welcher kulturellen Praxen und Repräsentationen dieser Elitentypus seinen hegemonialen Status konstituiert, legitimiert und reproduziert (S. 41). Sie folgt dabei dem „weichen“ Elitenbegriff von Chris Shore und George Marcuse, was bedeutet, dass sie ihrer untersuchten Zielgruppe deren Selbst- und Fremdwahrnehmungen zugrunde legt (S. 41). Somit fokussiert die Autorin die neuen Machtfelder innerhalb der litauischen postsozialistischen Gesellschaft, die sie zugleich zueinander in Beziehung setzt.
Im zweiten Abschnitt, der als das Herzstück der Untersuchung gelten kann, untersucht A. Vonderau in einem diachronen Vergleich die Transformation vom sozialistisch geformten zum europäisch orientierten Individuum, und zwar am Beispiel der Konsumpraxen, der Konzepte vom Individuum und dem Verhältnis zwischen Körperlichkeit und Materialität. Sie stellt die makroökonomischen und politischen Strukturen in den drei genannten Zeiträumen anhand der für die jeweiligen Zeitabschnitte typischen Orte des Konsums dar: den leeren sozialistischen Kaufhallen, den überbordenden Freiluftmärkten im frühen Postsozialismus und den mittlerweile auch in Vilnius verbreiteten Malls mit ihrem differenzierten und teilweise exklusiven Angebot. Die Orte sind mit spezifischen Konsumpraktiken bzw. Konsumententypen verbunden: dem suchenden und die Dinge entsprechend den Bedürfnissen arrangierenden Konsumenten im späten Sozialismus, dem auf Quantität billiger Westprodukte setzenden Konsumenten im frühen Postsozialismus und dem Auswählenden der freien Marktwirtschaft.
Diesen Konsumententypen stellt die Autorin die leitenden ideologischen Konzepte des Selbst in der jeweiligen Zeit gegenüber. Im Sozialismus wurde der bescheidene Held der Arbeit mit kollektiver Vorbildfunktion hervorgehoben und stand somit im Widerspruch zur alltäglichen Ausgestaltung des individuellen Selbst, das von der Vision eines besseren westlichen Lebens und der Vorstellung vom Konsum westlicher Waren geleitet war (S. 10). Diese Imaginationen führten zu einem Individuum, das situativ handelnd souverän zwischen der Defizitökonomie und schattenwirtschaftlichen Netzwerken agierte, indem es Zeit, Ressourcen, Beziehungen und Waren virtuos einsetzte (S. 71 + 101). Dem leitenden ideologischen Projekt des Selbst in der Transformation Litauens entspricht der homo europaeus, der als flexibles, mobiles, wählendes, sich selbst kontrollierendes und konsequent handelndes Individuum beschrieben wird (S. 102). Doch kann der, dank dieser Eigenschaften, gut funktionierende und erfolgreiche Mensch, Eigentümer, Konsument, Experte, Manager und Europäer auf Grund der sozio-ökonomischen Strukturen nur von einer kleinen Minderheit erfolgreich dargestellt werden.
Das führt dazu, so die Autorin, dass im gegenwärtigen Diskurs in Litauen verschiedene Zeiten und Subjektivitätsformen parallel wirksam sind: dem erfolgreichen, westlich orientierten Individuum wird der auf Kollektivität setzende homo sovieticus gegenüber gestellt. Den diskursiven Dualismus betrachtet A. Vonderau als Mechanismus des Ein- und Ausschlusses in der litauischen Gesellschaft, der noch auf Dichotomien der Zeiten des Kalten Krieges aufbaut (S. 102). Ihre Untersuchungsergebnisse machen deutlich, dass sich der situativ handelnde sozialistische Mensch in vielen Aspekten – etwa in Hinblick auf Eigeninitiative, Selbstkontrolle, Flexibilität und Kreativität – vom „neuen“ Menschen westlichen Typs kaum unterschied. Anhand ihrer Interviews zeigt die Autorin, dass sich die Persönlichkeitstypen weniger in den Praxisformen als vielmehr in den veränderten symbolischen Bedeutungen der Praktiken und Orientierungen voneinander unterscheiden (S. 103). Diese Kontinuitäten zwischen der sozialistischen Zeit und der Gegenwart werden in den Interviews durch eine quasi biografische Erklärung des früheren und gegenwärtigen Erfolgs von den Informanten unterstrichen. Diese Kontinuitäten stellt A. Vonderau gegen die Vorstellung des postsozialistischen Umbruchs als Neubeginn und greift damit die Kritik am Konzept des Postsozialismus auf, wie sie zum Beispiel von Caroline Humphrey und Chris Hann formuliert wurde (S. 23f.).
Zugleich betrachtet die Autorin, wie sich die Eliten von der sozialistischen Vergangenheit und den „Anderen“ der eigenen Gesellschaft in der Gegenwart, den so genannten Verlierern wie auch den noveaux riches, abgrenzen. Die Distinktion erfolgt durch eine sich langsam verfeinernde Differenzierung des Geschmacks und der Lebensstile, die nun die soziale Ordnung prägen, und deren medienwirksamer öffentlicher Inszenierung. Den zweiten Teil beschließt eine Analyse des Wandels der sinnlichen Erfahrungen von Materialität und Körperlichkeit sowie der Vorstellungen vom guten Leben in den verschiedenen Zeitabschnitten. Im postsozialistischen Litauen hat dieser Wandel zur Folge, so die Autorin, dass auf Grund unterschiedlicher Faktoren die äußere Umgestaltung des Körpers und der materiellen Umwelt als Gradmesser des Elitenstatus angesehen werden. Als Fazit zeigt A. Vonderau, dass die geschmackliche Ausdifferenzierung der Gesellschaft nicht zu der bei Bourdieu beschriebenen eindeutigen Verbindung von Geschmack, Lebensstil und Habitus, sondern vornehmlich zu hybriden Formen des Selbst führt, diese zeichnen sich durch unterschiedliche Patchworks der genannten Praktiken aus (S. 89, 125, 179).
Der dritte Teil behandelt in kurzen Kapiteln ausschnitthaft unterschiedliche körperliche und materielle Praktiken, die von der litauischen Elite zur Konstruktion des Selbst als Investition in die soziale Position vollzogen werden. Dafür skizziert A. Vonderau die medialen und urbanen Räume der Eliten, die Narrative, Ikonologie und rhetorischen Regeln der Selbstinszenierung im sozialen Raum der Gesellschaft. Aus der Perspektive der materiellen Kultur lässt sich dieser Abschnitt auch als Geschichte der Beziehungen der Akteure zu ihren Körpern und den materiellen Dingen lesen. Ebenso geben die Ausführungen Einblick in die verräumlichten, verkörperlichten, gegenderten und medialisierten Machtfelder und -relationen im sozialen Raum der litauischen Gesellschaft.
Die Dissertation von Asta Vonderau stellt eine dichte und materialreiche Monografie dar, deren Stärke im diachronen Vergleich und in der Darstellung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse seit dem späten Sozialismus besteht. Weitergehende Feinanalysen zum Verhältnis Mensch und Materialität in der Vergangenheit hätten einige Schlussfolgerungen nachvollziehbarer gemacht, doch in der Gesamtargumentation eröffnet das Buch eine tiefe Kenntnis der „Phänomene“ Sozialismus und Postsozialimus. Dabei arbeitet die Autorin – neben vielen Brüchen in der Orientierung des Subjekts, den Formen des Konsums, der Selbstdarstellung und dem Verhältnis zum Körper und zur Materialität – auch viele Bezugspunkte und Kontinuitäten zur sozialistischen Zeit in der Konstruktion postsozialistischer Subjektformen heraus. Außerdem enthält die Arbeit eine implizite Analyse der Reichweite des Bourdieu’schen Ansatzes auf den postsozialistischen gesellschaftlichen Raum.