Das vorliegende Buch ist nicht nur ein Ergebnis des Wunsches, Zeugnis von der Geschichte der eigenen Familie und der eigenen Freunde abzulegen. Es ist auch stark motiviert durch die Entwicklung Kroatiens seit seiner Unabhängigkeit und die erschreckenden Beobachtungen, die der Autor 1992 bei seinem ersten und einzigen Besuch in Kroatien in der Ära Franjo Tuđmans in Bezug auf die Verharmlosung des Ustascha-Regimes gemacht hat. Wie schon im Klappentext des Buches des in Tel Aviv lebenden kroatischen Shoa-Überlebenden, Zeev Milo, betont wird, liegt hier „mehr als eine Biographie“ vor. Auch die überarbeitete zweite Auflage des 2002 erstmals im Hartung-Gorre-Verlag erschienenen Buches geht in der Darstellung der Ereignisse im „Unabhängigen Staat Kroatien“ (NDH) 1941-1945 über einen Überlebendenbericht weit hinaus.
So gibt Milo wertvolle Einblicke in den historischen Kontext vor der Ausrufung der NDH, also die sich zuspitzenden Konflikte zwischen Kroatien und Serbien im Königreich Jugoslawien, aber auch in die im deutschen Sprachraum kaum bekannte Geschichte der jüdischen Gemeinden Kroatiens, den Werdegang des Ustascha-Führers (Poglavnik) Ante Pavelić, die Entwicklung der jugoslawischen Partisan/innenbewegung, das Schicksal der serbischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg sowie die Flucht der Ustascha-Führung 1945. Milo weist ferner auf das wenig bekannte Faktum hin, dass es sich bei Kroatien um den einzigen Satellitenstaat des Dritten Reichs handelte, der (schon 1941) auf eigenem Territorium Konzentrationslager errichtete, in denen die Ustascha Massenmorde beging (S. 58). Diese für das deutschsprachige Publikum wertvolle Kontextualisierung entschädigt auch für die Erwähnung der einen oder anderen eher banalen und allgemein bekannten Tatsache, etwa dass die Serb/innen im Gegensatz zu den Slowen/innen und Kroat/innen dem orthodoxen Glauben angehören und Kyrillisch schreiben (S. 29; 34).
Den Kern des Buches bildet zweifelsohne die erschütternde Überlebensgeschichte Zeev Milos, ehemals Vladimir Müller, in dessen Familie, wie in den meisten jüdischen Familien Zagrebs vor dem Zweiten Weltkrieg, deutsch gesprochen wurde. Im Gegensatz zum Großteil seiner Familie, die in Virovitica, ca. 150 km östlich von Zagreb eine Großmühle betrieb, und den meisten Freunden, überlebten nur eine Cousine sowie der damals jugendliche Autor und seine Eltern die Shoa. Sie flüchteten mit gefälschten Papieren in die italienisch besetzte Zone II an der Adriaküste und später zu den Partisan/innen. Während Milo den Verlauf „der Katastrophe“ schildert, betont er stets jene zufälligen Ereignisse und Glücksfälle, die über Leben und Tod entschieden: So konnte etwa ein Postangestellter 1941 dazu bewogen werden, ausgerechnet das Telefon der Müllers nicht, wie jenes anderer jüdischer Familien, einzuziehen (S. 44); da sie im Süden Zagrebs lebten, blieben sie von der Räumung aller jüdischen Wohnungen im Nordteil der Stadt verschont (S. 45); ausgerechnet der für sie zuständige Arzt befreite durchwegs alle untersuchten Jüdinnen und Juden vom Arbeitsdienst. Das wichtigste jedoch: Als im Sommer 1942 für die noch in Zagreb verbliebenen Jüdinnen und Juden alles verloren schien, trat wie aus dem Nichts eine bei der Polizei beschäftige Frau in ihr Leben und stahl die für sie lebensrettenden Passierscheine für die italienische Zone aus dem Büro ihres Chefs (wobei die Unterschrift darauf so schlecht gefälscht war, dass wiederum nur das überraschende Eingreifen eines kroatischen Gendarmen an der „Grenze“ ihnen die Weiterreise ermöglichte).
Wie schon mit diesen Beispielen angedeutet, zeichnet Milo ein differenziertes Bild der kroatischen Bevölkerung jener Zeit: Er schildert plastisch den Antisemitismus, dem er als Kind ausgesetzt war (S. 58) und die stürmische Begrüßung der Deutschen beim Einmarsch in Zagreb im April 1941, die „mit Orangen und Blumen“ (S. 22) beworfen wurden, betont jedoch auf der anderen Seite, dass es in Zagreb, im Gegensatz etwa zu Wien, nach dem Einmarsch der Deutschen zu keinerlei öffentlichen Ausschreitungen gekommen sei, vereinzelt jedoch in Provinzstädten, wobei meist Ustaschi oder so genannte „Volksdeutsche“ die Täter waren (S. 42). Wichtig und bisher in der Fachliteratur nicht erschöpfend erörtert ist die von Milo immer wieder angeschnittene Frage des Antisemitismus unter den Partisan/innen. Während einerseits außer Zweifel steht, dass die Evakuierung Tausender, auch kampfunfähiger Jüdinnen und Juden aus dem italienischen Inhaftierungslager auf der Insel Rab nach der Kapitulation Italiens 1943 eine der größeren Rettungsaktionen während des Zweiten Weltkriegs war, bezeugt Milo, dass man im Partisan/innenalltag mit Antisemitismus konfrontiert war. So wurde er etwa nicht als Radiotechniker eingestellt, weil der Kommandant „keinen Juden in seiner Werkstatt zu haben wünsch(t)e“ (S. 171) und sein Vater wurde mit dem weit verbreiteten Vorwurf konfrontiert, Juden würden dem Kampfeinsatz aus dem Weg gehen (S. 184). Der Antisemitismus sei jedoch auch bei der serbischen Bevölkerung vorhanden gewesen, die doch „genauso gehasst und verfolgt wie die Juden“ (S. 185) waren. Unklar bleibt, warum die zivile jüdische Bevölkerung trotz unablässiger Anträge bis Kriegsende nicht mit den vielen leer zurückkehrenden Versorgungsmaschinen aus dem Partisan/innengebiet in den von den Alliierten befreiten Teil Italiens ausgeflogen wurde.
Ein zweites Forschungsdesiderat und ein besonderes Anliegen Milos stellt eine genauere Beleuchtung der Rolle der italienischen Armee in den von ihr besetzten Zonen der NDH dar. Während Italien die meisten Adriainseln und Teile der Küste annektiert hatte, stand die sogenannte Zone II, also die anderen Küstengebiete und das Hinterland, zunächst unter der Verwaltung der Ustascha. Die italienische Armee unternahm nichts gegen die ersten dort von den Ustascha errichteten Vernichtungslager (Jadovno, Pag, Gospić), und als sich Italien im Sommer 1941 aufgrund der durch das brutale Vorgehen der Ustascha motivierten Aufstände die Macht auch in dieser Zone zu übernehmen anschickte, führte dies zur Liquidierung der Häftlinge bzw. zu ihrer Deportation in andere Lager, vor allem nach Jasenovac. Detailliert beschreibt Milo das weitere Vorgehen der italienischen Armee in Bezug auf die nun zahlreich in ihren Machbereich geflüchteten Jüdinnen und Juden, „die Rettung der jüdischen Flüchtlinge“, und wendet sich damit explizit gegen die neueste Entwicklung der Historiographie, die das Verhalten der Italiener als Zugeständnis an die Alliierten angesichts eines möglichen Waffenstillstands erklärt (S. 139). Trotz wiederholten Drängens des Dritten Reiches und vor allem der Ustascha, hätten General Roatta und hohe Funktionäre im italienischen Außenministerium im August 1942, also am Höhepunkt der militärischen Erfolge der Achsenmächte, den Befehl Mussolinis verweigert, die jüdischen Flüchtlinge an die Ustascha auszuliefern, betont Milo (S. 140). Nach Mussolinis Zustimmung zur Internierung der Jüdinnen und Juden in verhältnismäßig erträglichen „Lagern“ (später zentral auf der Insel Rab), wiedersetzten sich auch Roattas Nachfolger Robotti und der stellvertretende Außenminister Bastianini der Auslieferung (S. 138). Mag der Ursprung von Milos Interesse an dieser neu entbrannten Kontroverse auch in seiner Biographie liegen, so steht zu hoffen, dass seine Bemühung um Aufklärung dieser Frage auch Andere ansteckt. Das einzig Irritierende, Unzeitgemäße an dieser überzeugenden Intervention Milos, der auch um das brutale Vorgehen der Italiener gegenüber angeblichen und tatsächlichen PartisanInnen weiß (S. 120; 133), ist die Vorstellung einer anständigeren „Mentalität“ der Italiener sowie an anderer Stelle der befehlstreuen „Mentalität der Deutschen“ (S. 43) oder des orientalischen Einflusses auf die „serbische Mentalität“ (S. 29).
Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass die zweite Auflage des Buches in nicht nachvollziehbarer Weise zwischen inhaltlichen Anmerkungen in Fußnoten einerseits und Quellenverweisen in Endnoten andererseits unterscheidet, sich dafür aber eines deutlich besseren Lektorats erfreut als die erste Auflage. Wünschenswert wäre auch noch eine Einarbeitung der seit der ersten Auflage 2002 erschienenen Literatur, was jedoch nur an einer Stelle geschehen ist. In diesem Sinne steht auch zu hoffen, dass Milo angesichts einzelner in den letzten Jahren erschienener und um selbstkritische Aufarbeitung bemühter kroatischer Werke und der (keineswegs linearen) Entwicklung seit den 1990er-Jahren trotz aller dringend notwendigen Kritik und Skepsis zustimmen würde, dass sich der Umgang mit dem Ustascha-Regime in Kroatien mittlerweile, auch angesichts der Bemühungen um den EU-Beitritt, von jenem der Tuđman-Ära deutlich unterscheidet.