D. A. Binder u.a. (Hrsg.): Die Erzählung der Landschaft

Cover
Titel
Die Erzählung der Landschaft.


Herausgeber
Binder, Dieter Anton; Konrad, Helmut; Staudinger, Eduard
Reihe
Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek
Erschienen
Anzahl Seiten
196 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerlinde Irmscher, Kulturwissenschaftliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin

In den letzten zwanzig Jahren wurden in Europa neue Grenzen gezogen, alte verloren an Bedeutung. Zugleich wandelte sich die Wahrnehmung von Landschaften als Teile von Nationalstaaten: Während die Deutschen vor allem auf die ehemalige Mauer schauen oder nach Osten die Beziehungen zum polnischen Nachbarn neu austarieren, ist Österreich seit dem Ende des Kalten Krieges in neuartiger Weise mit seiner Habsburgischen Vergangenheit konfrontiert, mit Slowenen, Kroaten, Ungarn, Tschechen und Slowaken.

Zentrale Begriffe des vorliegenden Sammelbandes, der in der Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek in Salzburg erschienen ist, sind Landschaft, Grenze und Erzählung. In einer sehr knappen Einleitung legen die Herausgeber ihre Sichtweise auf das Thema dar. Landschaft wird definiert als Konstruktion des Betrachters, in die sowohl natürliche wie kulturelle Momente einfließen, die Erkenntnis und Empfindung vereint und deshalb immer subjektiv sei. Zugleich habe Landschaft eine „hohe identitätsstiftende Kraft“ (S. 7), denn es gebe kollektiv geteilte Imaginationen etwa über Österreich, die vor allem im 20. Jahrhundert entstanden seien. Die Herausgeber führen im Vergleich auch die „Konstruktion“ der Schweiz auf Bildungsreisen der Oberschichten des 18. Jahrhunderts an – Ähnliches könnte man von Deutschland sagen. Forderte doch der Aufklärer Nicolai seine Landsleute auf, Deutschland durchs Reisen gleichsam herzustellen und gerade die „zurückgebliebenen“ katholischen Gebiete im Süden nicht zu vergessen.

Mit ihrer Arbeit möchten die Herausgeber einen „dekonstruierenden“ Blick auf die Landschaft werfen, „um den Blick auf diese etwas freier zu machen“ (S. 8). Das geschieht zunächst in der Thematisierung von Grenzen und Grenzziehungen durch Eduard G. Staudinger, der auf die Konjunktur dieses Themas seit dem Fall des Eisernen Vorhangs verweist. Grenze sei sowohl eine konkret markierte Linie (etwa eine politisch-administrative) wie eine „räumlich gebundene Lebens- und Interaktionswelt“ (S. 10) und erzeuge Zentren und Randgebiete. Gerade die lebensweltliche Bedeutung von Grenzen könne dazu führen, dass sie bestehen bleiben, wenn die politischen längst verschwunden sind. „Grenzen in den Köpfen“ – darum geht es im vorliegenden Sammelband, für den Staudinger abschließend eine Typologie von Grenzen und Grenzgebieten liefert, die sowohl nationalstaatlichen wie regionalen Charakter haben können.

Nicht umsonst wird in der Einleitung die Subjektivität der Wahrnehmung von Landschaften betont. Dem korrespondiert die im Titel verwendete Form der „Erzählung“. In den einzelnen Beiträgen wird das unterschiedlich ausgelegt. So untersucht Rainer Guldin die „topografische Ambivalenz“ von Flüssen (etwa des Rheins und der Donau) als „trennender Graben“ oder „verbindendes Band“ und hebt damit sowohl auf die objektiv gegebenen Weisen der Trennung und Vereinigung ab wie auf deren Verarbeitung und Konstruktion in Erzählungen.

Thomas Hellmuth versteht das Salzkammergut als etwas Erzähltes, als einen Text, der Ergebnis von gesellschaftlichen Diskursen ist, die nicht primär von Landschaften, sondern gesellschaftlichen Modellen handelten. Diese Rückbindung verhindert Beliebigkeit und verhilft der „Dekonstruktion“ zu großer Überzeugungskraft. Landschaft wird von Hellmuth deshalb nicht im Sinne einer „Naturlandschaft“, geprägt durch geografische Gegebenheiten, verstanden, sondern als kulturell ausgeformt, gesellschaftlich gedeutet und mit Sinn versehen. Vielleicht könnte hier im Rückgriff schon auf Simmels „objektive“ und „subjektive“ Kultur überhaupt auf die Fiktion des Natürlichen verzichtet werden, jedoch nicht, ohne mit den Humangeografen im Gespräch zu bleiben. Dem Historiker Hellmuth gelingt es, drei Erzählungen über das Salzkammergut herauszupräparieren, eine bürgerliche, eine proletarische und eine österreichische. Voraussetzung dafür seien als „Textbausteine“ (S. 44) die Vergangenheit als Salzregion, der „habsburgische Mythos“ und die Natur. Doch auch Außenstehende hätten zu den Erzählungen beigetragen und den „dritten Raum“ einer eigenen Kultur der Region ermöglicht.

Die Germanistin und Theatersoziologin Beatrix Müller-Kampel beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Sommerfrische von Jakob Wassermann und Marta Karlweis im Ausseer Land. Hier wie auch in vielen anderen später massentouristisch relevant gewordenen Landschaften innerhalb Europas und in Übersee fungierten Künstler als Pioniere. In Bildern und Erzählungen formten sie das, was Nachreisende „sehen“. Zudem leistete Wassermann einen Beitrag zum Konzept der „inneren Landschaft“ (S. 74), die sich ins Mythische und Mystische gesteigert habe. Im zweiten Teil ihres Aufsatzes argumentiert Müller-Kampel mit Bourdieu kultursoziologisch. Die Sommerfrische in Aussee sei Teil eines künstlerisch-literarischen Feldes mit den Koordinaten Wien-Berlin-Altaussee, die hohes symbolisches Kapital verliehen bzw. besessen habe und von großer Bedeutung für die soziale Platzierung der Protagonisten gewesen sei.

Gehen Guldin, Hellmuth und Müller-Kampel (ebenso wie am Ende Johannes Kassar) klassisch wissenschaftlich argumentierend vor, ist das bei den im Folgenden zu besprechenden Autoren anders. In Sprache und Methode verlassen sie die Ebene des wissenschaftlichen Diskurses, es wird „subjektiv“. So im Beitrag des Künstlers Georg Madeja, der den Kampf um „das schöne Tal der Wachau“ (S. 35) nachzeichnet, in den Reflexionen über die Erfindung Pannoniens von Jakob Perschy, die ihrerseits in erzählend-literarischer Form vorgetragen werden oder in den Beiträgen der Zeithistoriker Helmut Konrad und Dieter A. Binder. Konrad beschreibt in sehr persönlicher Weise seine differente Wahrnehmung der in Kärnten bzw. der Steiermark gelegenen Grenze zwischen Österreich und Slowenien. Die Landschaften scheinen die Beziehungen der Menschen und deren Charakter selbst zu prägen, hier eine Wand aus Bergen, dort liebliche Weinberge. Dieter A. Binder erzählt die Geschichte (s)eines Dorfes in der Steiermark an der Grenze von fiktional Typischem und Biografischem.

Schwer einzuordnen in den Dreiklang von Grenze, Landschaft und Erzählung sind die Beiträge von Heimo Hofgartner („Und hinterm Dorf war noch ein Loch“) und Johannes Kassar. Hofgartner legt 42 Fotografien aus den Beständen des Universalmuseums Joanneum vor, die den Ausbau der Landes- und Bundesstraßen in der Steiermark der 1950er-Jahre dokumentieren. Auch Straßen trennten und zerteilten die Landschaft, doch sei das bisher kulturwissenschaftlich kaum bearbeitet, stellt Hofgartner einleitend fest, um den Leser dann mit den Fotos allein zu lassen. Der abschließende Aufsatz von Johannes Kassar beschäftigt sich als einziger mit einer außerhalb Österreichs gelegenen „Landschaft“, dazu einer großstädtischen: dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Doch welchen Sinn hat es, ein Denkmal als Landschaft zu bezeichnen? Kassar plädiert aus kulturwissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar für eine am „Begriff der Praxis orientierte Lektüre des Mahnmals“ (S. 178). „Raum ist nicht einfach da, sondern wird performativ konstituiert“ (S. 180) und sei für die Nutzer deshalb multifunktional.

Dennoch: Hier scheint mir der Sammelband endgültig ein wenig aus den Fugen zu geraten. So anregend es sein kann, scheinbar Disparates zusammen zu führen, um den Leser zu animieren, Grenzen des Denkens zu überschreiten, droht doch andererseits die Gefahr, zu viele Fäden an die Hand zu bekommen, die kein Ganzes mehr ergeben. Eine ausführlichere Einleitung, die die Motive für die Auswahl erläutert und damit die Zusammenhänge, wie sie sich den Herausgebern darstellen, hätte diese Gefahr mindern können, doch das war vielleicht, um den Blick etwas „freier“ zu machen, gar nicht beabsichtigt.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension