Die Höfe und Residenzen geistlicher Fürsten spielten im Rahmen der Residenzenforschung bislang eine nur marginale Rolle, wiewohl sie die politische, kulturelle und ökonomische Landkarte Mitteleuropas maßgeblich mitbestimmten und ihr höfisches Leben große Ausstrahlungskraft besaß. Die randständige Position ist allein schon daran ersichtlich, dass die Residenzenkommission der Göttinger Akademie der Wissenschaften diesem Aspekt bisher keine eigene Tagung widmete. Im Rahmen eines allgemein gewachsenen Interesses an der Geschichte der geistlichen Staaten im Alten Reich ist freilich ein Interessenwandel erkennbar, als dessen jüngstes Resultat der hier zu besprechende Tagungsband zu betrachten ist. Er vereint in sich die Beiträge einer interdisziplinären und internationalen Tagung, die, von den Herausgebern organisiert, unter gleichem Titel vom 19. bis zum 23. Februar 2009 (im Vorwort, S. 9, heißt es irrtümlich 2008) in Salzburg stattfand und dort auf ein erfreulich positives Echo stieß. Der Aufbau des Tagungsbandes folgt der Gliederung der Tagung in drei Sektionen, deren erste den Strukturen, deren zweite den Regionen und deren dritte dem Fallbeispiel Salzburg gewidmet war. Dieses Fallbeispiel war nicht nur dem Tagungsort geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass eine Salzburger Forschergruppe zuvor zwei Jahre lang Quellen zur Salzburger Residenz erschlossen und aufgearbeitet hatte und auf der Tagung ein erstes Fazit ihrer Tätigkeit präsentierte.
In seiner Einleitung (S. 13–23) umreißt der Mitherausgeber und ausgewiesene Kenner der Materie Wolfgang Wüst nochmals die Ausgangslage, das Anliegen und den Aufbau der Tagung wie des Tagungsbandes, wobei er unterstreicht, dass alle Beiträge um die Frage „nach dem Proprium […] geistlicher Hofhaltung“ (S. 15) kreisen und dass sie sich über zehn Themenbereiche der Antwortfindung annähern würden. Es geht darin, seinen Worten zufolge, um die Dichotomie des sakralen und des profanen Raumes (1.), um die Folgen von Konfessionalisierung und Herrschaftsverdichtung für die geistliche Residenzstadt (2.), um reichskirchliche Netzwerke und fürstbischöfliche Hofhaltung (3.), um das Verhältnis von Zentrum und Peripherie (4.), um die Identifizierung mit dem Regierungs- und Verfassungssystem geistlicher Staaten (5.), um das Problem stiftsstaatlicher „Vielherrigkeit“ und die Chancen des Wahlsystems (6.), um die symbolische Kommunikation im Rahmen etwa von Zeremoniell und Rangordnung (7.), um die Rezeption geistlichen Regierens im 19. und 20. Jahrhundert (8.), um die Überlieferung und ihre Probleme (9.) sowie 10. und letztens um Salzburg als einen etwaigen „Prototyp“.
Die erste und umfangreichste Sektion „Strukturen“ – nochmals unterteilt in 1. Der Fürst und der Hof: Mediale, zeremonielle, politische und kirchlich-sakrale Inszenierungen, 2. Machtfragen innerhalb des Hofes, 3. Gebäude und Ausstattung geistlicher Residenzen sowie 4. Musik an geistlichen Höfen – setzt mit dem Beitrag Politica christiana von Wolfgang E. J. Weber ein (S. 27–37), worin dieser die Rolle Salzburgs in der europäischen Ideengeschichte der Frühen Neuzeit anhand von Wolf Dietrich von Raitenaus Denken und Praxis, der Rezeption des Werkes von Christoph Besold an der Benediktineruniversität Salzburg und von Georg von Spattenbachs Gedanken zur Politica christiana untersucht und bilanziert, dass Salzburg „kein blinder Fleck auf der Landkarte des frühneuzeitlichen politischen Denkens in Europa“ (S. 36) war. Andreas Sohn zeichnet darauf „Grundzüge der mittelalterlichen Gedenkkultur in Europa“ (S. 39–55) nach, konstatiert dabei, kaum verwunderlich, eine große Fächerbreite der mittelalterlichen Gedenkkultur und fragt zuletzt, inwieweit diese den geistlichen Reichsfürsten Orientierung oder Vorbild bei ihrem Bemühen um Residenz und Memoria war. Um den amtscharismatischen Charakter geistlicher Herrschaft, der bei Prozessionen, Visitationen und Heiligenverehrung besonders zum Vorschein kam, geht es Werner Freitag in seinem Aufsatz „Symbolische Kommunikation und Amtscharisma“ (S. 57–73). In Anlehnung an das Münsteraner Konzept der symbolischen Kommunikation und die Herrschaftssoziologie Max Webers untersucht er die Residenzstadt Halle um 1500 sowie die Kathedralstädte Münster und Paderborn im konfessionellen Zeitalter. Nach literarischen Bischofsspiegeln, speziell nach der Inszenierung der Würzburger Fürstbischöfe in der frühneuzeitlichen Panegyrik fragt im Anschluss Stefan W. Römmelt (S. 75–90) und untersucht dabei alle wichtigen Etappen im Rahmen einer Bischofsbiographie.
Den Reigen der Beiträge zu den „Machtfragen“ eröffnet Franz Brendle mit einer Betrachtung der „Domkapitel als Conregentes der Fürstbischöfe in den geistlichen Staaten“ (S. 93–107), wobei er zunächst auf die Genese und Rolle der Wahlkapitulationen in der Germania Sacra eingeht und dann die zeitgenössische Frage nach der Überlebensfähigkeit geistlicher Staaten anhand dreier damaliger Diskussionsbeiträge (von Sartori, von Moser, Schnaubert) berührt. Die lange ‚Mängelliste‘ der Kritik an geistlichen Staaten gibt danach Wolfgang Wüst Anlass, auf „Macht, Ökonomie und das Phänomen stiftischer ‚Vielregiererei‘“ zu blicken (S. 109–133). Quellengesättigt wie in diesem Band sonst nur die Beiträge der Salzburger Sektion kommt Wüst in Orientierung am sozial- und politikwissenschaftlichen Ansatz der ‚Governance‘ zu dem Schluss, dass die geistlichen Staaten fruchtbare Ansätze zu frühmoderner Kapitalisierung und Geldwirtschaft aufwiesen. Zwei in ihrem Verlauf ganz unterschiedliche Biographien wettinischer Kirchenfürsten, des Bischofs Sigmund von Würzburg und des Erzbischofs Ernst von Magdeburg, stellt danach Brigitte Streich vor (S. 135–153) und hinterfragt dabei die gängige Vorstellung von einer Dynastie als Gesamthaus. Der Bereich „Gebäude und Ausstattung“ wird zunächst von Giovanni Dellantino beschritten, der sich der architektonischen Ausgestaltung und Ausstattung der Residenzen der Fürstbischöfe von Trient widmet (S. 157–169), dann von Eckhard Leuschner, der Modelle und Motivationen der Architektur- und Kunstpolitik Wolf Dietrich von Raitenaus untersucht (S. 171–189) und das verbreitete Bild von einem „verspäteten Renaissancefürsten“ kritisch hinterfragt, von Lubomír Slavíček, der die einst bedeutenden, heute nur noch als Torso vorhandenen Sammlungen des Olmützer Bischofs Karl Graf von Liechtenstein-Castelcorn vorstellt (S. 191–204), und zu guter Letzt von Carola Fey, die sakrale Schatzkunst als Medium zur Identifikation geistlicher Fürsten versteht und festhält, dass im späten Mittelalter einzelne Schatzstücke der Domkirchen oder Kollektionen aus persönlichem bischöflichen Besitz die Domschätze als solche in den Hintergrund schoben und dass dynastische Konnotationen zunahmen (S. 205–223). Um die Musik am geistlichen Fürstenhof dreht sich schließlich der Aufsatz von Meta Niederkorn-Bruck. Sie zeigt eindrücklich, wie der Gottesdienst zur Bühne ausgestaltet wurde: „Ordinarium missae – proprium missae – Fest am geistlichen Hof“ (S. 227–251).
Die „Sektion II: Regionen“ setzt mit dem Beitrag von Barbara Marx zur „Konkurrenz der Heiligkeit“ ein (S. 255–272), worin sie Kurfürst Friedrich dem Weisen Kardinal Albrecht von Brandenburg sowie Wittenberg als Neues Jerusalem Halle als Neues Rom der Märtyrer und den damaligen Reliquienkult beider Protagonisten gegenüberstellt. Sylvia Schraut schaut auf die Rolle der katholischen Reichsritterschaft bei reichskirchlichen Karrieren und macht deutlich, dass ein reichskirchlicher Fürstenhof aus reichsritterschaftlicher Sicht als Hof eines aufgestiegenen Verwandten betrachtet wurde, der seine Karriere der Unterstützung der Standesgenossen und Verwandtschaft verdankte (S. 273–283). Daraus wiederum ergab sich ein enges Verpflichtungsnetz. Die auf eine Einbeziehung in das Land Tirol abzielende und darin letztlich erfolgreiche Politik der Habsburger gegenüber den Bischöfen von Brixen und den Fürstbischöfen von Trient nimmt Klaus Brandstätter unter die Lupe (S. 285–302), wonach Werner Buchholz „die Residenzen geistlicher Reichsfürsten im Norden des Sacrum Imperium Romanum zwischen Ausbau und Gefährdung 1500–1806“ betrachtet (S. 303–343, dazu unten Näheres). Auf die über das Amt des Straßburger Fürstbischofs wahrgenommene wichtige Rolle des Hauses Rohan für die kulturelle Entwicklung des Elsass bei ständigem Pendeln zwischen dem Versailler Hof und Straßburg/Zabern kommt dann Claude Muller zu sprechen (S. 345–357). Die Sektion beschließt Frank Göttmann mit seinem Beispiel des frühneuzeitlichen Paderborn, woran er in innovativer und überzeugender Weise einschlägige Literatur „gegen den Strich“ liest und den staatlich-gesellschaftlichen Transformationsprozess in geistlichen Fürstentümern im Rahmen des Verhältnisses von bischöflicher Stadt und bischöflichem Hof aufzeigt (S. 359–379).
Die „maßgebliche Verquickung von hochadeliger Provenienz, reichsfürstlicher Stellung und herrschaftlicher Repräsentation“ (S. 405) – das sind wesentliche Stichworte in Patrick Schichts Aufsatz zu „profane[n] Residenzen der Salzburger Erzbischöfe im Hochmittelalter“ (S. 383–406), der am Anfang der dritten Sektion „Salzburg“ steht. Wie gesagt, präsentiert sie Ergebnisse eines zweijährigen Forschungsprojekts. Sie glänzt daher nicht von ungefähr durch viele neue auf Archivfunden beruhende Erkenntnisse, wie zum Beispiel der folgende Beitrag von Gerhard Ammerer und Katharina Karin Mühlbacher zum Salzburger Hofstaat um 1600 „auf dem Weg zum Steuer- und Verwaltungsstaat“ eindrücklich unter Beweis stellt (S. 407–427). Im Maßstab der Zeit, so ihr Schluss, sei der Salzburger Hof in administrativer Hinsicht fortschrittlich gewesen (S. 426). Mit der Landkartengalerie des Fürsterzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau in der Salzburger Residenz zwischen historisch-wissenschaftlichem Interesse und Streben nach Prestige (S. 429–443) und dem Salzburger Appartement des Fürsterzbischofs Franz Anton Graf Harrach zwischen Familienanspruch und Amtstradition (S. 445–459) beschäftigen sich darauf die Kunsthistorikerinnen Lisa Roemer und Ulrike Seeger. Danach werden weitere aufschlussreiche Teilergebnisse des Residenzenforschungsprojektes zur Bau-, Ausstattungs- und Kulturgeschichte der ehemaligen Residenz Salzburg vom 16. Jahrhundert bis 1803 von Norbert M. Grillitsch, Roswitha Juffinger, Walter Schlegel sowie Imma Walderdorff präsentiert (S. 461–486). Christoph Brandhuber stellt in seinem wiederum „taufrisch“ aus dem Archiv geschöpften Aufsatz das Sterben, den Tod und das Begräbnis der Salzburger Barockfürsten vor (S. 487–501). Die Sektion wird von Ingonda Hannesschlägers Untersuchung zur Hauskapelle des Erzbischofs Friedrich Fürst zu Schwarzenberg (1809–1885) in der Salzburger Residenz als Beitrag zum Schicksal der Residenz und der Erzbischöfe nach der Säkularisation beschlossen (S. 503–522). Dieser Zeitabschnitt ist bislang noch kaum erforscht und soll, wie man erfährt (S. 503 Anm. 1), künftig in Salzburg in den Vordergrund gerückt werden. Weitere interessante Ergebnisse sind also zu erwarten.
Der gründlich redigierte, übersichtlich aufgebaute und mit einem umfangreichen Personen- (S. 523–535; leider nicht ganz einheitlich: so findet sich Bogislaw X. von Pommern unter „B“, während Philipp I. von Pommern unter „P“ steht) und Ortsregister (S. 537–543) sowie einem Verzeichnis aller Autorinnen und Autoren (S. 545–552) versehene und prächtig illustrierte Band schließt eine bis dahin wirklich schmerzliche Lücke in unserem Wissen über die Residenzgeschichte in Mittelalter und früher Neuzeit. Er beeindruckt durch die Fülle seiner Themen und durch die gelungene Kombination von strukturellem, regionalem und exemplarisch-lokalem Zugriff auf das Thema. Die empfehlenswerte Lektüre vermittelt eine Vielzahl neuer Eindrücke und Erkenntnisse, die begreiflich machen, warum Wolfgang Wüst dem Begriff des sozialen den des sakralen Kapitals beizugesellen bemüht ist (S. 23). Dieser Vorschlag verdient es, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Wo Licht ist, ist allerdings auch Schatten. Zu letzterem ist zweifelsohne der schon genannte Beitrag von Werner Buchholz (S. 303–343) zu rechnen. Der Autor geht insgesamt methodisch und sachlich unsauber vor. Dieses harsche Urteil ist etwas ausführlicher zu begründen: So wechseln Abschnitte, die ohne wissenschaftliche Anmerkungen auskommen müssen (zum Beispiel IX.1.a Gülzow, S. 330f.) mit Passagen, die mit fragwürdigen „Belegen“ versehen sind (zum Beispiel S. 333 Anm. 87: „Lat. Domus=Haus“ zur Funktion der Baster Kirche als Haus- und Schlosskirche zur Residenz Kasimirsburg). Pauschalisierend und indifferent werden immer wieder Behauptungen aufgestellt, die nicht ganz falsch, aber eben auch nicht korrekt sind (zum Beispiel zur Rolle des Eutiner Residenzstifts für die Finanzierung der bischöflichen Zentralverwaltung [S. 323]). Wirklich haarsträubend sind Buchholz’ Ausführungen zu einer vermeintlichen Stiftskirche in Warin (S. 326). In augenscheinlicher Unkenntnis hilfreicher Kirchenlexika, die detailliert wie fundiert Auskunft gegeben hätten, spekuliert Buchholz ins Leere, was denn ein vicarius perpetuus gewesen sei. Ein Heilig-Geist-Patrozinium dient ihm als Indiz für die Existenz seiner Stiftskirche. Ein solches hat für diese Frage aber bekanntlich keinen Aussagewert. Ebenso legt Buchholz’ Abgrenzung des Kolberger Kollegiatstifts als ecclesia collegiata vom Domstift in Cammin (S. 327) nahe, dass er grundsätzlich nicht allzu viel von der Stiftskirchenmaterie versteht. Dieser Eindruck wird dadurch unterstrichen, dass er seinen eigenen Worten zufolge (S. 307 Anm. 15) die grundlegende Publikation von Peter Moraw über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter im Vorfeld nicht kannte, sondern hier auf den Hinweis eines Kollegen angewiesen war. So ist es nicht verwunderlich, dass Buchholz, obwohl anders angekündigt, real mit einer bescheidenen Bilanz aufwartet: Von sechs vorgestellten Residenzstiften war Warin kein Stift, hatte Köslin keines und Schönberg nicht die Funktion. Und nicht genug: Buchholz’ Lateindefizite sind geradezu eklatant. So unterlaufen ihm in einem kurzen Quellenzitat (S. 327f.) doch tatsächlich gleich drei gravierende Lateinfehler („sine“ für richtig „sive“, „consensus“ statt richtig „consensu“, „favour“ statt richtig „favore“). Woher Buchholz diese Fehler hat und wie er mit diesen Fehlern seinen Quellentext richtig verstanden haben will, erschließt sich nicht. In der von ihm zitierten Vorlage kommen die Fehler jedenfalls nicht vor. Entgegen der Verlautbarung des Herausgebers Wolfgang Wüst, dass „gerade“ der Beitrag von Buchholz Erkenntnis fördernd sei (S. 14), handelt es sich bei diesem Aufsatz vielmehr um einen Text, der saubere historische Methode und das hilfswissenschaftliche Grundgerüst des Historikers vermissen lässt. Für die ehrwürdige Reihe der Residenzenforschung ist ein solcher Aufsatz kein Ruhmesblatt. Und der pommerschen Landesgeschichte, deren eigenständige Existenz momentan im Rahmen interner Greifswalder Strukturdebatten in Frage gestellt ist, hat Buchholz mit einer so unqualifizierten Arbeit gewiss keinen Gefallen getan. Sein Beispiel und das seines Aufsatzes zeigen aber immerhin anschaulich, welch großer Forschungsbedarf nach wie vor – auch trotz des ansonsten wertvollen und lesenswerten Bandes – zu den Residenzen und Höfen geistlicher Fürsten besteht.