Cover
Titel
Flugzeugentführungen. Eine Kulturgeschichte


Autor(en)
Vowinckel, Annette
Reihe
Geschichte der Gegenwart 2
Erschienen
Göttingen 2011: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Reichherzer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Bemühen wir zu Anfang einen Gemeinplatz: Der gefährlichste Weg einer Flugreise ist der Weg zum Flughafen. Fliegen gehört zu den sichersten modernen Fortbewegungsarten. Fast erscheint es paradox, dass die prominentesten Störfälle des Flugverkehrs, Flugzeugentführungen nämlich, die Imagination der Menschen so außerordentlich beflügeln. Mit ihnen beschäftigt sich Annette Vowinckels Buch, und sie ist einem beachtenswerten Phänomen auf der Spur: die Flugzeugentführung interpretiert sie in diesem empirisch gesättigten kulturgeschichtlichen Essay als Anschlag auf die Moderne, als Angriff auf die Mobilität moderner Menschen und auch auf ihre Träume, Assoziationen und Werte, die mit dem Fliegen und der Flugreise verbunden sind.

Das Material für diese facetten- und anekdotenreiche Annäherung an die Geschichte der Moderne liefern Vowinckel sowohl die zahlreichen tatsächlichen Fälle von Luftpiraterie als auch die künstlerische Behandlung des Themas. Das Buch lebt von der Mischung aus alt bekannten, im kollektiven Gedächtnis verankerten Geschichten mit hohem Wiedererkennungswert und zahlreichen weniger bekannten Episoden der Luftpiraterie. Vowinckel gelingt es, die äußerst heterogenen Fälle der Flugzeugentführungen miteinander zu verbinden, indem sie so verschiedene Phänomene wie eine Propagandaaktion 1931, die Fluchtversuche über den Eisernen Vorhang, die spektakulären Fälle von Lösegelderpressung, die Geiselnahmen der 1970er-Jahre und das Selbstmordattentat vom 11. September 2001 als jedes Mal eine von neuem Aufsehen erregende "Kapitalnahme an dem symbolischen Mehrwert" (S. 8) des Flugzeuges und der Welt des Fliegens analysiert.

Ausgangspunkt ist für Vowinckel im Rückgriff auf Walter Kirns Roman "Up in The Air" (2001) der Mikrokosmos der "Airworld". Was Kirn als aufmerksamer Beobachter literarisch verarbeitet, baut Vowinckel klug und überlegt in ihrem Prolog zu ihrem erkenntnisleitenden Interpretationsmuster aus. In der "Airworld" erfährt die materielle und symbolische Welt des Fliegens ihre spezifische Ausformung (insb. S. 11-15). Die "Airworld" steht für die Infrastruktur des Fliegens: die Reisenden, das Personal am Boden, die stets gut aussehende Crew, die Flughäfen, das Vorfeld, die Terminals mit ihren Schaltern, Flugsteigen, Shops und Vielfliegerlounges sowie schließlich das Flugzeug selbst und alles, was sich in diesem Umfeld befindet. Konstitutiv für die Welt des Fliegens sind zudem eine eigene Sprache, eine bestimmte Architektur und eine besondere Stimmung. In dieser "Airworld" ist Stillstand abgeschafft; nur Geschwindigkeit zählt. Der Fortschritt scheint direkt erfahrbar. Die "Airworld", das ist der Eindruck, der sich aus der Gesamtlektüre ergibt, ist die aus Beton, Asphalt, Glas, Aluminium und Menschen gebildete Verkörperung von Freiheit, Ferne, Erfolg, Wohlstand, Fortschritt, Macht, Sex und Schönheit. In ihr herrschen die Prinzipien der Rationalität, Übersichtlichkeit und Beherrschbarkeit. Die "Airworld" ist so eine eigene Welt verdichteter Modernität; sie gerät zur scheinbar idealen Moderne. Zu einer technisierten Moderne, die bei Vowinckel vor allem durch die Trias Mobilität, Medialität und Massengesellschaft (S. 176) bestimmt ist und ihre Struktur durch die gleichzeitige Maximierung von Risiko und Sicherheit erhält, was besonders im Epilog deutlich wird (S. 176-181). Fälle von Luftpiraterie verursachen erhebliche Störungen des sensiblen Systems der "Airworld". Flugzeugentführungen jeder Art sind daher auch ein Angriff oder, wenn man so will, ein Spiel mit der Moderne und ihren Repräsentationen. Das Flugzeug wird zur Waffe und zum Kommunikationsmittel, Passagiere und Personal werden zu Geiseln in der Auseinandersetzung mit Modernität, und Annette Vowinckels lesenswertes Buch wird vor der Folie der "Airworld" zu einem anregenden Beitrag zur Geschichte der Moderne.

Nachdem Vowinckel den Leser in die Geschichte der Flugreise, der Flugzeugentführung und vor allem in die "Airworld" eingeführt hat, präsentiert sie einen kurzen Abriss über die Geschichte der Luftpiraterie. Anhand von fünf Fallbeispielen skizziert sie ein Panorama. Es reicht von der Entführung eines Flugzeuges als Fluchtmittel, der Generierung medialer Aufmerksamkeit, der Erpressung von Lösegeld bis hin zu Politisierung durch die ins kollektive Gedächtnis eingebrannten terroristischen Geiselnahmen vor dem Hintergrund des Nah-Ost-Konflikts.

Nach dieser Kategorisierung der Luftpiraterie wendet sich das Buch der psychologischen Dimension der "Airworld" zu, genauer den mit Fliegen verbundenen Ängsten. Über den Diskurs der Flugangst beschreibt sie die eigentümliche Mischung von Faszination, Herausforderung und Geschwindigkeit mit den diffusen und realen Ängsten, die das Fliegen gleich mit produziert. In Kombination führt dies zum thrill, zur "Angstlust", die das Fliegen gerade so aufregend macht und mit symbolischem Kapital ausstattet. Vowinckel deutet hier die Risse in der schönen neuen Welt des Fliegens an, wenn in Anlehnung an Hartmut Böhme, es der scheinbar allmächtigen Technik nicht immer gänzlich gelingt, Ängste zu suspendieren. Über diese Risse in der "Airworld" kann dann auch der Luftpirat in sie eindringen, dessen Seele sich der zweite Teil des Kapitels widmet. Als "Fußnote zur Geschichte der Luftpiraterie" (S. 57) werden hier die Arbeiten des Psychoanalytikers David G. Hubbard betrachtet, die eine reiche Fundgrube für das Bild des Flugzeugentführers in den 1960er-Jahren liefern. Jenseits aller Motive führt Hubbard den Akt der Entführung eines Flugzeuges auf den pathologischen Kampf gegen die Schwerkraft zurück. Da Flugzeugentführungen nach Hubbard hauptsächlich aus sexuell angetriebenen Minderwertigkeitskomplexen heraus entstehen, wird der Luftpirat zu einem ahistorischen Phänomen erklärt und die "Airworld" zum modernen Spielplatz alt bekannter psychischer Störungen (S. 57-58).

Nach dieser längeren "Fußnote", die zahleiche Nebenzweige der Darstellung enthält, verlässt Vowinckel die Perspektive des Entführers und richtet ihr Interesse auf die mediale Begleitung des Phänomens Flugzeugentführung. Hier zeigt die Autorin, wie Flugzeugentführung und Medien aufs Engste miteinander verzahnt sind. Die Flugzeugentführung verknüpft höchst medienrelevante Komplexe. Der Nachrichtenwert einer Flugzeugentführung ist damit bis aufs Äußerste gesteigert und verleiht ihr den Stellenwert einer der prominentesten Anschläge auf die moderne Welt und die Erschütterung ihrer Gewissheiten. Fernsehen und Presse liefern und halten die passende Narrationen bereit. Sie produzieren ständig abrufbare Bilder. Die Medien werden zum Akteur im Geschehen. So lauten die zentralen Thesen in diesem Teil.

Die nächsten Kapitel verfolgen ausführlich – und damit vielleicht zu deskriptiv und additiv – die Herausforderung der Prinzipien und Werte der "Airworld" durch Luftpiraten in ihrer Reproduktion durch verschiedene Kunstformen. Die Reise durch Film, Literatur, Jugendkultur, Musik zeigt, wie die Flugzeugentführung als Projektionsfläche für Politik, Geschichte, Spannung, Unterhaltung und Komik und letztlich auch erotische Phantasien wirken konnte. Ergänzt wird dieser Teil durch einen umfassenden Anhang der die künstlerischen Produkte, in denen die Flugzeugentführung eine Rolle spielt, auflistet (S. 182-182).

Mobilität als Anspruch und Faktum sind, so Vowinckel in ihrem Epilog, nicht verhandelbar. Flugzeugentführungen und andere Störungen im Ablauf sind jedoch Teil eines Aushandlungsprozesses. In diesem geht es nicht um das ob des Reisens sondern das wie der Schadensbegrenzung (S. 176-177). Sicherheit wird immer neu verhandelt. Diese Prozedur produziert allerdings ständig neue Unsicherheiten und Risiken. Die Stichworte für den Schluss und den Rahmen des Buches liefert der querdenkende französische Universalphilosoph, Architekt und Intellektuelle Paul Virilio. In Anlehnung an ihn ist für Vowinckel mit der Erfindung des Flugzeuges auch schon gleichzeitig der Absturz oder die Entführung mit in die Welt gekommen. Der Blick auf die Störung und den Missbrauch belichten – so wiederum Virilio – die Welt.

Mit Blick auf die Störungen der "Airworld" hat Vowinckel dies getan und ein lesenswertes Buch geschrieben. Vor allem das Konzept der "Airworld" als Ort der Moderne überzeugt. Hier liegen die Stärken. Ob hier nicht noch eine Gewichtsverlagerung weg von den Repräsentationen der Flugzeugentführungen in Kunst und Medien hin zu Angriffen und Debatten und Reaktionen auf die "Airworld" wünschenswert gewesen wäre, ist sicher Geschmackssache des einzelnen Lesers, seiner Erwartungen und Präferenzen. Das gilt auch für die Auswahl des Korpus. Bei Vowinckel stehen Film und Musik im Zentrum. Welche Rolle spielen der Comic oder das in der Science-Fiction oft bemühte Motiv der Entführungen von Luftfahrzeugen durch Außerirdische? Welche Rolle spielen die Akteure wie Sicherheitskräfte? Was steht in den Fachzeitschriften der Polizei? Wie werden die Flugzeugbesatzungen geschult? Das ist aber eher Anregung als Kritik. Hier zeigt sich, dass Annette Vowinckel mit ihrem empirisch geerdetem Essay jedenfalls eines hervorragend gelungen ist: zum Denken anzuregen. Zum Nachdenken, wie man heute eine Geschichte der Moderne schreiben kann, die dem Beobachter als bewegliches, ja oft flüchtiges Ziel erscheint, das bei genauerer Betrachtung zwischen den Händen zerrinnt. Einer Geschichte der Moderne kann man sich nur aus verschiedenen Richtungen annähern. Einen dieser vielen, sich zu einem Gesamtbild ergebenden Wege ist Vowinckel gegangen. Das Buch ist daher nicht eine Geschichte der Moderne am Beispiel von XY. Die Ideen des Buches entfalten sich genau anders herum. Über die "Airworld" und ihre Herausforderungen ergeben sich erkenntnisreiche Annäherungen an Aspekte der Moderne, bei der man nebenbei auch vieles über die Geschichte der Flugzeugentführung lernt.

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