M. Middell u.a. (Hrsg.): Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme

Cover
Titel
Hunger, Ernährung und Rationierungssysteme unter dem Staatssozialismus (1917 - 2006).


Herausgeber
Middell, Matthias; Wemheuer, Felix
Erschienen
Frankfurt am Main 2011: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
375 S.
Preis
€ 52,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Christian Gerlach, Universität Bern

Die kommunistische Bewegung und die sozialistischen Staaten traten an, dem Elend während der Industrialisierung und damit nicht zuletzt dem Massenhunger ein Ende zu bereiten. Das gelang ihnen auf längere Sicht auch meist, doch im Zusammenhang mit einer erzwungenen Industrialisierung im Zeitraffer und der Kollektivierung der Landwirtschaft kam es vorher zum Teil zu ungeheuren Hungersnöten, besonders in der Sowjetunion, China und Kambodscha. Aber auch in Kriegen und unmittelbar danach (wie in der Sowjetunion 1941-43 und 1946/47) und vereinzelt nach dem Abreissen von Wirtschaftsbeziehungen nach dem Zusammenbruch des europäischen Sozialismus (Nordkorea in den 1990ern) erlebten sozialistische Gesellschaften tödliche Hungerkrisen.

Der vorliegende Band mit 13 Beiträgen verschiedener Qualität widmet sich also einem wichtigen und vielschichtigen Thema. In ihrem Facettenreichtum bietet diese Sammlung sowohl hilfreiche Einblicke für Laien als auch nützliche Anknüpfungspunkte für Spezialisten. Sie vereinigt Aufsätze zu den Hungersnöten in der Sowjetunion 1932-34 und 1946/47, in China 1958-61 und Nordkorea bzw. zu ihrer Rezeption; zum Hunger von Straflagerinsassen in China sowie Verbindungen zwischen Hungersnot und Massenterror in der Sowjetunion; zu negativen Folgen von Agrarreformen in der DDR und Estland sowie zur Lebensmittelrationierung in der DDR und Polen.

Die so wichtige Frage nach den Ursachen von Hungersnöten ist theoretisch komplex. Zu berücksichtigen sind Agrarproduktion und verfügbare Nahrungsmittelmengen (gemäss availability-Theorie) genauso wie die Zugangsmöglichkeiten für bestimmte Gruppen zu Nahrungsmitteln und das Funktionieren von Märkten (entitlement-Ansatz, vertreten etwa von Amartya Sen) sowie die Auswirkungen staatlicher Politik (laut der sogenannten new famine theory). Zusätzlich sollte man auch noch Agrarstrukturen und internationale Verflechtungen beachten; all dies in Kombination, denn ein schlichtes ‚Entweder-oder’ hat wenig Sinn. Einzelne Elemente herauszugreifen ist zwar in Ordnung, nicht aber darauf aufbauend einseitig Kausalitäten zu behaupten – wie oft praktiziert. Die Beiträge dieses Bandes stammen meist von Historikern, einer eher theoriefernen Zunft. Entsprechend erscheint die Rezeption von Sen in einigen Beiträgen recht vereinfacht (so in Felix Wemheuers synthetisierender Einleitung, S. 12 und 18 f., und bei Sandra Fahy, S. 362). Unter den übrigen theoretischen Anleihen wirken einige unpassend oder beruhen auf Missverständnissen (so Bezüge auf Canetti und Bauman bei Robert Kindler, S. 46 f. und 50; auf Foucault bei Klaus Mühlhahn, S. 322; auf Stephen Devereux bei Sandra Fahy, S. 360 f.). Breitere internationale Vergleiche werden selten angestellt (Ausnahme: Alice Weinreb), und wo, sind sie teils sachlich fragwürdig (etwa S. 11 und 94, Wemheuer und Wheatcroft zur angeblich historisch einzigartigen Entstädterung in Sowjetrussland im Bürgerkrieg – das Osmanische Reich erlebte Ähnliches im Ersten Weltkrieg).

Zu den Glanzlichtern dieses Bandes gehört Wendy Goldmans Aufsatz über Zusammenhänge zwischen der durch Industrialisierung, Kollektivierung und Hungersnot hervorgerufenen sozialen Krise in der Sowjetunion und der Hinwendung der sowjetischen Führung zum Massenterror 1934 bis 1937. Goldman zufolge geschah das aus einer durchaus realistischen Furcht vor Aufruhr und Opposition heraus und keineswegs nur aus Verfolgungswahn. Starke Beiträge liefert das Buch auch zu den Opfern der sowjetischen Hungersnot von 1946/47 ausserhalb ihres in der Südwestukraine und Moldawien liegenden Zentrums. Auch russische Arbeiterfamilien und die Menschen in Estland waren von zahlreichen Todesfällen betroffen, Folgen in Form von Rationierungsausschlüssen und Inflation selbst in Polen zu spüren (so Donald Filtzer, Olaf Mertelsmann und Mariusz Jastrab, hier S. 187-190).

Verschiedene Autoren (so Wemheuer, Mertelsmann sowie Arnd Bauerkämper in seinem Beitrag über die DDR) argumentieren, dass nicht erst die Kollektivierung der Landwirtschaft, sondern bereits die ursprünglichen Landreformen nach Regierungsantritt der Kommunisten zu wachsenden Versorgungsschwierigkeiten in sozialistischen Staaten führten, da ein Meer von Kleinbauernhöfen entstand, die wenig für den Markt produzierten. Wachsende Proteste unter unterversorgten Arbeitern führten dann dazu, dass die Regierungen die Lösung in der landwirtschaftlichen Kollektivierung suchten, die Agrar-Ueberschüsse, Finanzmittel und Arbeitskräfte für eine Industrialisierung freisetzen sollten, jedoch auf Kosten der Agrarproduzenten, deren Agrarkonsum entweder stark reduziert wurde (wie in Estland) oder die in Massen starben wie in der Sowjetunion 1932/33 und China 1958-61. Nahezu alle Autoren dokumentieren auch, dass sozialistische Regierungen und Behörden durchaus immer wieder auf Hilferufe und Proteste reagierten (siehe Beiträge zur Rationierung von Jastrzab, Donna Harsch für die Sowjetische Besatzungszone in Deutschland sowie Alice Weinreb zur Schulspeisung in der DDR). Doch im Fall der grossen Hungersnöte kam Hilfe oder Entlastung zu spät, in zu geringem Masse oder drang wegen ineffizienter Statistiken, Melde-, Vorrats- und Liefersysteme teilweise nicht durch. Ausserdem richteten sich Zuweisungen stark nach dem Wert einer Person für die Produktion, während ‚Unproduktive’ besonders unzureichende Zuweisungen erhielten. Weinrebs Studie sowie Filtzers Angaben über Opfer unter russischen Arbeiterfamilien stehen dazu allerdings im Widerspruch.

Argumentative Schwächen finden sich bei den agrarproduktionsbezogenen Beiträgen des Bandes. Nach klugen Anfangsbemerkungen (S. 87 f.) schreitet Stephen Wheatcroft zu einem altbackenen Makro-Vergleich der sowjetischen und chinesischen Hungersnot allein auf Erzeugungs- und grossregionaler Verteilungsbasis, ohne Produktions- und Produktivitätsfolgen der jeweils neugeschaffenen Agrarstrukturen auch nur zu diskutieren. Mertelsmann stützt sich aus Datenmangel teilweise auf Vermutungen (S. 165-169). Bauerkämper möchte die Ineffizienz der SBZ/DDR-Agrarstrukturen zunächst weitgehend anhand von Grundnahrungsmittel-, Fleisch- und Milchproduktion zeigen, macht die Unterlegenheit der Kollektivbetriebe aber am Ende an der mangelnden Obst- und Gemüseerzeugung und am Fischfang (!) fest (S. 151). Seine Angaben zur internationalen Verflechtung der DDR-Agrarwirtschaft sind widersprüchlich (vgl. S. 131 f. mit 147 f. und 151 f.).

Einigen Beiträgen fehlen wichtige Angaben. Robert Kindler beschreibt die Hungersnot in Kasachstan 1932-34, als rund 30% der Bevölkerung starb, also ein besonders berührendes Thema, doch lässt er im Unklaren, was die wirtschaftlichen Ziele der dortigen Führung bei ihren Massnahmen waren. Klaus Mühlhahn gewinnt aus Überlebendenaussagen und Grundsatzerklärungen chinesischer Führer keine spezifischen Angaben über die Rationsstaffelung in chinesischen Arbeitslagern. Sandra Fahys Analyse der nordkoreanischen Hungersnot ist fragmentarisch, oberflächlich und ermangelt des internationalen Vergleichs, so dass sie „Besonderheiten“ ihrer Wahrnehmung feststellt, die wohl keine sind. Johan Dietschs Artikel zur nachträglichen Konstruktion einer angeblich genozidalen ‚ukrainischen’ Hungersnot („Holodomor“) und ihrer nationalistischen Instrumentalisierung ist ungeordnet, enthält Wiederholungen und innere Widersprüche. Offenbar ist die Genozid-These in der Ukraine weniger unumstritten, als er argumentiert.

Unübersehbar sind die editorischen und formalen Mängel im Buch. Es handelt sich um einen Tagungsband, doch soweit ich sehe, ist das nirgends vermerkt. Die Aufsätze der fremdsprachigen Autoren wurden übersetzt, leider nicht immer einwandfrei, aber es finden sich keine Angaben von wem. Dafür gibt es etliche Druckfehler, unvollständige Literaturangaben, Kommafehler und falsche Schreibweisen. Manche Autoren (Kindler, teilweise auch Filtzer und Bauerkämper) belegen Archivquellen unzureichend mit einer blossen Fundstelle, d.h. Archivsignatur, anstatt zumindest Urheber und Datum des Dokuments anzugeben – eine in der sowjetischen Tradition stehende, unhaltbare Unsitte nach dem Motto ‚Wenn’s in den Akten steht, dann muss es ja stimmen’. Goldman und Weinreb lassen bei Archivquellen meist die Datumsangabe weg.

Natürlich ist der Kalte Krieg nicht zu Ende, sondern wird ziemlich einseitig weitergeführt, und das gerade auch in der Geschichtswissenschaft. Davon ist auch dieser Band nicht frei, obwohl er auch von wachsender Verwissenschaftlichung zeugt. Trotz einiger Zwischentöne präsentieren alle Beiträge das Narrativ des Scheiterns und der Unterlegenheit des Sozialismus. Zumindest verbal tut dies auch die einzige, die sich nicht auf eine Krisensituation konzentriert, nämlich Alice Weinreb in ihrer ansonsten differenzierten Schilderung der Genese und Ausgestaltung der Schulspeisung in der DDR.

Für künftige Forschungen auf diesem Gebiet bleibt über die Reichweite dieses verdienstvollen Bandes hinaus genug zu tun. So bliebe zu klären, was genau die in diesem Buch nur beiläufig erwähnte russische Hungersnot von 1920-22 (vermutlich opferreicher als die sowjetische von 1932/33) nicht nur mit dem Kriegskommunismus zu tun hatte, sondern auch mit Erstem Weltkrieg und Bürgerkrieg (wie in diesem Band angedeutet) und eventuell auch mit der kommunistischen Landreform von 1917/18 und durchaus auch mit der Neuen Ökonomischen Politik (was der Band auslässt). Nüchterne Studien könnten erkunden, warum es einigen sozialistischen Ländern zu Hungersnöten kam und in anderen nicht. Ebenso fehlt ein systematisches Verständnis der Verbindungen zwischen Hunger und Massengewalt. Mehr als in diesem Band sollte auch dem Funktionieren von Märkten im Sozialismus Beachtung geschenkt werden. Und selbstverständlich ginge das Thema der Ernährung in sozialistischen Ländern weit über eine Geschichte des Mangels hinaus.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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