Antje Senarclens de Grancy und Heidrun Zettelbauer behandeln in ihrem beachtenswerten Sammelband „Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz“ fünf Grazer Bauten zwischen 1910 und 1934 und ihre vier jüdischen Architekten bzw. Baumeister. Die Herausgeberinnen und ihre 13 Mitautor/innen fokussieren dabei „den Blick auf das Vergessen als kulturelle Praxis im Feld der Architektur“ (Klappentext). Mit großem Bedacht sind die fünf Fallbeispiele ausgewählt, allesamt architektonische Prototypen der Moderne im urban-historischen Kontext der steirischen Landeshauptstadt: das erste Grazer Arbeitsamt (1931/32) von Architekt Eugen Székely (Abbruch: 1956), das Margaretenbad, das 1927/28 vom selben Architekten errichtet und vom jüdischen Baumeisterpaar Jenny und Bruno Zerkowitz in Auftrag gegeben wurde (Abbruch ab 1966 bis in die 1980er-Jahre), die Jüdische Zeremonienhalle, 1908–1910 vom Baumeister Alexander Zerkowitz geplant und ausgeführt (Zerstörung: 1938), das Kinderheim Lend des Vereins der steirischen Kinderfreunde, das 1929/30 von Architekt Franz Schacherl geplant wurde und die Stadtrandsiedlung Amselgasse, nach Plänen Eugen Székelys 1932/33 von der steirischen Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft sowie den Siedlern selbst errichtet.
Alle diese Bauten wurden abgetragen, zerstört oder wie das Kinderfreunde-Heim und die Kleinsiedlung Amselgasse im Laufe ihres Bestehens derart massiv umgebaut, dass von ihrer ursprünglichen architektonischen Substanz nichts mehr oder allenfalls nur noch Spuren vorhanden sind. Sie finden selbst in jüngeren Publikationen keine Erwähnung und sind wie ihre durchaus erfolgreich tätig gewesenen Architekten bzw. Baumeister vergessen. Nicht deren jüdische Identität, sondern erst die nationalsozialistische Verfolgungsgeschichte sei die gemeinsame Klammer – so die Herausgeberinnen im Klappentext. Daher geht es ihnen „gerade nicht“ um eine „Ergänzung“ oder „Vervollständigung“ des jüdischen Anteils an der Grazer Architektur- respektive Stadtgeschichte, sondern um eine Sensibilisierung für das „Beziehungsgeflecht“, die sozialen Räume, in denen sich die vier so unterschiedlichen Lebensentwürfe entfaltet haben (S. 18f.).
Entsprechend breit wird von den Autor/innen der Radius um die vorgestellten Bauten und ihre Planer gezogen. Eine Grundthese der Herausgeberinnen lautet: „Dem Medium der Architektur scheint das Vergessen grundlegend eingeschrieben“ (S. 13). Diese hat durchaus irritierende Züge, denn Architektur ist zweifellos ein unmittelbarer Bestandteil unserer Lebenszusammenhänge: als Wohnort, als Arbeitsplatz, als Kult- oder Freizeitraum oder aber als sogenannter Nicht-Ort (Marc Auge), der als Warte- oder Transitzone definiert ist. Daneben gibt es die symbolisch aufgeladenen Gedächtnisorte, die „lieux de mémoire“ (Pierre Nora), die sich ebenfalls baulich manifestieren können (aber nicht müssen). Die vorliegende Studie veranschaulicht wie Prozesse des Vergessens im „Medium Architektur“ verlaufen können. Dabei reicht die Bandbreite vom Versickern in der alltäglichen Wahrnehmung, zum Beispiel beim bis zur Unkenntlichkeit umgebauten, „adaptierten“ Kinderfreunde-Heim Lend, bis hin zur gewaltvollen Zerstörung der jüdischen Zeremonienhalle während der Novemberpogrome 1938, die (auch von ihrer Motivation her) einer Auslöschung gleich kommt.
Zunächst werden theoretische „Blickachsen“ quer durch die Materie gezogen. Dabei werden Fragen jüdischer Identität in Graz bzw. Arbeitsbedingungen jüdischer Architekten ebenso diskutiert (Gerald Lamprecht, Dieter A. Binder, Iris Meder), wie die Wirkkraft der sozialistischen Wohlfahrtseinrichtung der Kinderfreunde (Judith Laister). Das Arbeitsamt als architektonisches Krisenprodukt, als „Ort der Moderne“ (S. 109), der den Klassenkampf in Form von fordistisch organisierter Sozialbürokratie kanalisiert (Werner Suppanz, Gabu Heindl), wird hier ebenso verhandelt wie die komplexe Verortung des Erinnerns im Kontext der NS-Vergangenheit (Heidemarie Uhl). Grundlegend erscheint die „Blickachse“, die Senarclens de Grancy zum Selektionsprozess in der Architekturgeschichte legt. Wirksam wird hier der komplexe Begriff des Kanons. Nicht das kreative Potential, nicht das Werk, sondern das hinter dem Kanon stehende Wertesystem (Barbara Lange) ist relevant, wozu auch das über Generationen hin virulente „Lobbying“ durch die Architekturkritik und -geschichte zählt (vgl. die politischen Implikationen des Kaltes Kriegs bei der Erfolgsgeschichte des Bauhauses). Die Wirkkraft des Kanons kann sich selbst über Fakten materieller Überlieferung hinwegsetzen: von den fünf Beispielen sind nur Fotos oder Pläne vorhanden oder real bestenfalls „übersehene“ Details wie Kellerfenster, die man nicht der Mühe wert fand umzugestalten. Die jahrzehntelang unzugängliche Villa Tugendhat von Mies van der Rohe in Brünn oder die alte, 1945 zerbombte Berliner Bauakademie von Schinkel beweisen jedoch, dass nicht allein die Zugänglichkeit oder der Bestand, die reale Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, entscheidend sein müssen. Genauso wenig determinieren der Antagonismus von Zentrum und Peripherie / Provinz oder die Zuordnung in „modern“ versus „konservativ“ automatisch den Eingang oder Nicht-Eingang in die „Hitlisten der Architektur“ (S. 31). Gerade unter dem Blickwinkel des Vergessens, dem Ausblenden erscheinen die Bruchlinien, die (fehlenden) Kontinuitäten und Leerstellen in kulturellen Erzählsträngen und der „Nutzen des Vergessens“ (Gary Smith, Hinderk M. Emrich)1 wesentlich.
Im zweiten Teil werden die fünf Bauprojekte („Kristallisationspunkte“) eingehend vorgestellt. Dabei spielen ihre zeithistorische Kontextualisierung und ihre Bedeutung für das Grazer Stadtleben ebenso eine Rolle, wie der Prozess ihrer Transformierung. Dieser reicht vom Umbau durch geänderte Bedürfnisse der Nutzer/innen bzw. Bewohner/innen und „Sanierungen“ bis hin zum Abriss aufgrund eines neuen Verkehrskonzepts (Arbeitsamt) oder wegen des schlechten Bauzustands des unrentabel gewordenen Schwimmbads. Die schon erwähnte gewaltvolle Zerstörung der jüdischen Zeremonienhalle ist nur eine Facette des Verschwindens, der Auslöschung in der symbolischen Topografie von Graz. Der penibel recherchierten, faktenorientierten (Bau-)Geschichte werden teils theoretische, teils anekdotische „Splittertexte“ beigestellt, die auch „atmosphärische“ Aspekte des sozialen Lebens in den jeweiligen Bauten transportieren. Die Stadtrandsiedlung bietet Platz für persönliche Erinnerungen (und Fotografien) von Siedlern der ersten Stunde, aber auch für den (ständestaatlichen) Diskurs der „Entproletarisierung“ solcher Projekte. Zur Geschichte des Margaretenbads gehören Berichte von Badegästen, die auf einer Metaebene Wesenselemente moderner Körper-, Hygiene- und Freizeitkultur vermitteln genauso wie das Szenario der antisemitischen Nachbarschaft und die „Arisierung“ des Bads, welches von der jüdischen Baumeisterfamilie Zerkowitz initiiert und betrieben wurde.
Im dritten Komplex des Sammelbandes, in den „Biografischen Skizzen“, wird das „Beziehungsgeflecht“ der vier Protagonisten unter anderem im Kontext ihrer unterschiedlichen Definition von „jüdischer Identität“ untersucht. So haben sich der ältere Alexander Zerkowitz (1860–1927), aber auch der erfolgreiche Eugen Székely (1894–1962) durchaus selbstbewusst als Teil der jüdischen Gemeinde verstanden. Bruno Zerkowitz (1889–1942) hingegen galt als nicht religiös bzw. liberal, während der radikale Sozialist Franz Schacherl (1895–1943) auch familiär eng mit der steirischen Arbeiterbewegung und den Kinderfreunden verbunden war. Die angesehene Baumeisterfamilie Zerkowitz hat zahlreiche Bauten im Grazer Raum errichtet. Der europaweit vernetzte Székely war ein konsequenter Vertreter der Moderne, engagiertes Mitglied der Grazer Secession und des steirischen Werkbunds. Und Schacherl hat mit seinem bekannten (!) Partner Franz Schuster auch in Wien etliche Sozialbauten errichtet. Alexander Zerkowitz blieb durch seinen Tod 1927 das Schicksal seines Sohnes Bruno erspart, der im KZ Jasenovac ermordet wurde. Székely war schon 1935 nach Haifa emigriert, wo er bis zu seinem Tod als Architekt tätig war. Der Rechtsruck in den 1930er-Jahren hat seine Spuren nachhaltig verwischt. Schacherl war nach dem „Anschluss“ über Frankreich nach Angola geflohen, wo er bis zu seinem plötzlichen Tod für die portugiesische Regierung baute. Seine zynischen Polit-Collagen von damals wären eine eigene Untersuchung wert. „Architektur. Vergessen“ könnte auch der Untertitel zu einer Collage Schacherls vom 1. September 1939 (Kriegsbeginn) lauten (S. 287): unter anderem blicken Hitler und Göring auf eine schwebende (im Verschwinden begriffene?) Fotografie des Architekten im weißen Tropenanzug und fragen sich: „Ja, wo ist denn der Schacherl?“
Anmerkung:
1 Gary Smith / Hinderk M. Emrich (Hrsg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996.