C. Rudnick: Die andere Hälfte der Erinnerung

Cover
Titel
Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989


Autor(en)
Rudnick, Carola S.
Reihe
Histoire 25
Anzahl Seiten
766 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irmgard Zündorf, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Carola Rudnick setzt sich in ihrer Dissertation mit der öffentlichen Erinnerung an die DDR auseinander, oder genauer: mit der Geschichtspolitik, die diese Erinnerung beeinflusst. Dabei geht sie unter anderem der Frage nach, ob die „Geschichtsbilder und -narrative über die DDR und über den Herbst 1989 immer schon so eindeutig“ gewesen seien (S. 18), wie sie im Gedenkboomjahr 2009 vermittelt worden seien bzw. wie sie sich in den 20 Jahren von 1989 bis 2009 etabliert hätten. Unter dieser eindeutigen Erinnerung versteht die Autorin die Beurteilung der DDR als „zweite deutsche Diktatur“ und die Sicht der „Friedlichen Revolution“ als „bisher einzige gelungene deutsche Revolution ‚von unten‘“ (S. 17).

Rudnick untersucht zunächst die Diskussionen im Bundestag, in den Enquêtekommissionen und den verschiedenen Institutionen, die sich auf Bundesebene mit der Gedenkstättenförderung beschäftigten. Dies allein hätte für eine Qualifikationsarbeit bereits ausreichend Material geliefert. Die Autorin geht aber noch einen Schritt weiter und analysiert vor diesem Hintergrund die Entwicklung von sechs national bedeutenden Gedenkstätten zur DDR-Geschichte. Dabei haben jeweils zwei einen ähnlichen historischen Bezug: Die Gedenkstätten Bautzen und Berlin-Hohenschönhausen erinnern an politisch bedingte Haft, das Museum in der „Runden Ecke“ Leipzig und die Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg an die Staatssicherheit sowie die Gedenkstätten Berliner Mauer und Deutsche Teilung Marienborn (zusammen mit dem Grenzdenkmal Hötensleben) an die deutsche Teilung. Die Darstellung beginnt zunächst mit Hintergrundinformationen über die historischen Ereignisse in der DDR bzw. vor allem an den genannten Orten. Daran schließt sich eine sehr detaillierte Beschreibung und Analyse der Diskussionen und Beschlüsse über die Einrichtung, Institutionalisierung und Finanzierung der sechs Gedenkstätten seit 1989/90 an.

Die Beispiele sind gut gewählt, denn sie liefern jeweils unterschiedliche Perspektiven auf eine ähnliche Entwicklung der Geschichtspolitik bzw. der Debatten um diese. Die Diskussionen um Orte mit „doppelter Vergangenheit“ wie Buchenwald oder Sachsenhausen hat Rudnick mit Bedacht ausgespart, wäre damit doch noch ein ganz anderes geschichtspolitisches Feld einbezogen worden, das ihren Fokus auf die Auseinandersetzung um die DDR-Erinnerung gesprengt hätte.1 Im Mittelpunkt der Fallstudien stehen die jeweiligen Akteure und deren Interessen. Dazu zählen Politiker, Wissenschaftler und vor allem Zeitzeugen: ehemalige Häftlinge im Falle der Haftanstalten, ehemalige Oppositionelle und Bürgerrechtler im Falle der Staatssicherheitsgebäude sowie frühere Anwohner im Falle der Grenzanlagen. Die Konflikte kreisten stets um die Trägerschaft der Gedenkstätten und, eng damit verbunden, um deren Finanzierung und inhaltliche Ausrichtung. Rudnick gibt sämtliche Argumente der beteiligten Diskutanten und die politischen Entscheidungen, deren eventuelle Revision und die darauf folgenden neuen Beschlüsse im chronologischen Verlauf wieder. Dies führt zu Redundanzen, spiegelt aber auch deutlich die sich teilweise im Kreis drehenden Debatten.

Das Kapitel um die bundespolitische Auseinandersetzung über die Erinnerungskultur fokussiert die Auseinandersetzung der politischen Parteien (vor allem der SPD und der CDU); es liefert einen guten Überblick zu deren Strategien, wobei gelegentlich eine etwas vereinfachte Links-Rechts-Dichotomie durchscheint. Die Darstellung der Konflikte um die Gedenkstätten wird dagegen wesentlich komplexer. Entsprechend ihrer Fragestellung analysiert Rudnick zunächst die Geschichte der sechs Orte seit 1989/90. Sie stellt heraus, dass im Falle der Haftanstalten die ehemaligen Häftlinge die treibenden Kräfte hinter der Umwandlung in Gedenkstätten waren. Dagegen waren es bei der Gedenkstätte Berliner Mauer sowohl Anwohner als auch Vertreter anderer Institutionen der Erinnerungskultur, die den Wert des Ortes für eine künftige Gedenkstätte erkannten. Hier zeigen sich Konflikte, die weniger auf Parteipolitik zurückzuführen sind als vielmehr auf Perspektiven und Interessen der verschiedensten Gruppierungen.

Während die Ausführungen zu den Transformationen dieser Orte einen guten Überblick zur jeweiligen Entstehungsgeschichte der Gedenkorte liefern, der in dieser Detailtiefe bislang nicht vorlag, geht die Darstellung zur Schließung und Umwandlung der Staatssicherheitszentralen in Leipzig und Berlin darüber hinaus und bietet eine neue Sicht auf die dortigen Entwicklungen. Kurz gefasst, widerspricht Rudnick der heutigen Interpretation in den Gedenkstätten selbst, indem sie argumentiert, dass die Stasi-Zentralen nicht durch engagierte Bürger besetzt, sondern durch Verhandlungen mit Vertretern der Staatssicherheit geordnet übergeben worden seien. Darüber hinaus betont sie, dass frühere MfS-Mitarbeiter sogar teilweise selbst an der Umwandlung in Gedenkstätten beteiligt gewesen seien. Damit dekonstruiert sie die bisherigen Gründungsgeschichten sowohl des Museums in der „Runden Ecke“ als auch der Gedenkstätte Normannenstraße als Mythen. Rudnick wertet das Ausblenden dieser „unrühmliche[n] Gründungsgeschichte“ (S. 740) allerdings nicht einfach als Selbsterhaltungskampf der an den Gedenkorten tätigen Vereine, sondern vor allem als Streben nach öffentlicher Anerkennung der MfS-Opfer, Bürgerrechtler und Oppositionellen.

Diese neue, kritische Sicht erscheint bedenkenswert und dürfte weitere Diskussionen auslösen. Die darauf aufbauende Schlussfolgerung, dass die deutsche Erinnerungskultur insgesamt dem Narrativ der „Friedlichen Revolution von unten“ folge, während sich das Narrativ einer „Revolution von oben“ nicht habe durchsetzen können, bleibt jedoch unbelegt, weil der Umbruch in der DDR 1989/90 und die Erinnerung daran nur am Rande Themen der Studie sind. Das Buch nimmt einen viel breiteren Blickwinkel ein; untersucht wird die Entwicklung der Geschichtspolitik der vergangenen 20 Jahre und der damit verbundenen Erinnerungskultur an die DDR insgesamt. Dabei macht Rudnick mehrere geschichtspolitische Phasen aus. So sei die Zeit von 1992 bis 1995 durch Debatten auf Bundesebene von totalitarismustheoretischen und antikommunistischen Argumenten auf der einen Seite (CDU) und vom Bemühen um Entideologisierung und Differenzierung auf der anderen Seite (SPD) geprägt gewesen. Die Phase von 1995 bis 2005 zeichne sich dagegen vor allem durch Diskussionen um konkrete Gedenkstätten auf regionaler Ebene aus, die kaum noch dieser (vereinfachten) parteipolitischen Dichotomie zuzuordnen seien. Seit 2005 schließlich habe sich mit dem Regierungswechsel auf Bundesebene das totalitarismustheoretische Muster in der Geschichtspolitik durchgesetzt. Der Blick auf die bundespolitische Ebene erscheint auch hier wieder etwas verkürzt. Die Stärken der Arbeit liegen vor allem in der Betrachtung der regionalpolitischen Ebene, die Rudnick nicht mit einem einfachen SPD-CDU-Gegensatz zu erklären sucht.

Bei der Darstellung der geschichtspolitischen Diskurse kristallisieren sich jeweils wiederkehrende Konflikte heraus, die in dieser Deutlichkeit bisher noch nicht zusammengeführt wurden. Die Debatten um den Aufbau der verschiedenen Einrichtungen – vor allem zwischen „Zeitzeugen“ auf der einen und Wissenschaftlern auf der anderen Seite – verliefen immer ähnlich und sind mit heutigen Auseinandersetzungen zum Beispiel in der Gedenkstätte Leistikowstraße in Potsdam oder um den Gedenkort Andreasstraße in Erfurt vergleichbar. Dabei scheint nicht nur der „Zeitzeuge“ der Feind des Historikers zu sein, sondern auch der Historiker der Feind des „Zeitzeugen“; beide Akteursgruppen sind in einen ständigen Kampf miteinander verwickelt. Die Analyse solcher erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen ist eines der großen Verdienste dieses Buches.

Für die Lesbarkeit der Studie wäre neben einem sorgfältigen Lektorat und einer Auflösung der großen Zahl an Abkürzungen allerdings eine Straffung der extrem ausführlichen Darstellung und Analyse der Diskussionen, Beschlüsse, erneuten Diskussionen und revidierten Beschlüsse usw. auf die Kernpunkte der Argumente wünschenswert gewesen. Zudem hätte eine Analyse der jeweiligen Ausstellungen weitere interessante Einblicke in die Durchsetzung und Konstruktion verschiedener Geschichtsnarrative geben können. Für den eiligen Leser bieten sich aber die jeweils am Ende der Kapitel angefügten kurzen Zusammenfassungen an. Darüber hinaus besteht die besondere Leistung der Arbeit darin, mit der Analyse der auf die DDR-Vergangenheit bezogenen Geschichtspolitik seit 1990 eine gravierende zeithistorische Forschungslücke geschlossen zu haben. Carola Rudnicks Thesen könnten eine breite und fruchtbare Diskussion um die Rolle der Politiker, „Zeitzeugen“ und Historiker in der Erinnerungskultur auslösen. Insofern kann man dem Buch nur viele Leserinnen und Leser wünschen – Geduld müssen sie allerdings mitbringen.

Anmerkung:
1 Zudem sind diese Konflikte bereits ausführlich untersucht worden; siehe etwa Hasko Zimmer / Katja Flesser / Julia Volmer, Der Buchenwald-Konflikt. Zum Streit um Geschichte und Erinnerung im Kontext der deutschen Vereinigung, Münster 1999; Petra Haustein, Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR, Leipzig 2006 (vgl. Gabriele Hammermann: Rezension zu: Haustein, Petra: Geschichte im Dissens. Die Auseinandersetzungen um die Gedenkstätte Sachsenhausen nach dem Ende der DDR. Leipzig 2006, in: H-Soz-u-Kult, 12.09.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-193> [25.1.2012]).

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch