Die Geschichte der algerischen Migration nach Frankreich gehört zu den rechtlich wechselhaftesten, politisch umstrittensten und durch das lange Tabu des Algerienkrieges emotionalsten Kapiteln der europäischen Einwanderungsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Sarah Vanessa Losego hat eine mosaikartig angelegte mikrohistorische Studie zur Inklusion vor allem algerischer Migrant/innen im nordfranzösischen Industrierevier von Longwy vorgelegt, in der sie sozial- und ideengeschichtliche Ansätze verbindet. Die Arbeit ist als Dissertation im Forschungskontext des SFB 600 „Fremdheit und Armut“ an der Universität Trier entstanden, der sich dem „Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart“ widmet. Analog beschränkt sich Losego auch nicht auf die Darstellung und Analyse vergangener Inklusionspraktiken und Exklusionsprozesse, sondern bezieht auch gegenwärtige Diskurse über Migration und ‚Integration’ konzeptionell in ihre Überlegungen mit ein. Dies nicht zuletzt, um, wie sie in ihrem Schlussteil schreibt, mit einer „(selbst-)kritischen und selbstbewussten Migrationsforschung“ dazu beizutragen, „dass sich in den nationalen und internationalen Debatten ein (historisch) informierter, unpolemischer und redlicherer Blick auf Migranten und Migrationsphänomene durchsetzen wird.“ (S. 504).
„Fern von Afrika“ – der Titel ist aus dem Inhalt nicht ganz nachzuvollziehen und weckt andere Erwartungen – gliedert sich in drei nebeneinander stehende und nur lose verbundene Hauptteile. Im ersten wird die Einbürgerungspraxis im Untersuchungsgebiet zwischen 1945 und 1990 erforscht, im zweiten die auf nordafrikanische Arbeitsmigranten gerichtete Integrationspolitik der lokalen Ebene für die unmittelbare Nachkriegszeit bis zum Ende des Algerienkriegs analysiert und schließlich im dritten Teil auf Basis von Audio-Mitschnitten eines illegalen Lokalradios die Erinnerungskultur in der Region untersucht.
Dem vorgelagert ist ein einführendes Kapitel, in dem Losego die „Möglichkeiten und Grenzen einer mikrohistorischen Studie“ erörtert und ihre methodischen und konzeptionellen Voraussetzungen darlegt. Dazu gehören erstens ein differenziertes Verständnis von ‚Integration’ jenseits holistischer Konzepte, die Losego zufolge zu dichotomen und ethisch-normativ aufgeladenen Vorstellungen sozialer Wirklichkeit führten; zweitens die Verwendung des mikrohistorischen Konzepts der ‚Strategie’, welches „die Bedeutung spezifischer Handlungsoptionen und -muster von Akteuren in konkreten historischen Kontexten herausarbeit[e]“ (S. 30); und drittens „eine für die ‚Gender-Problematik’ sensibilisierte“ (S. 31) und transnationale Praxen integrierende Perspektive. Damit bewegt sich Losego forschungstheoretisch auf der Höhe der Zeit internationaler sozial- und kulturwissenschaftlicher Migrationsforschung.
Im ersten Hauptkapitel widmet sich Losego dem als dialektischem Zusammenspiel zwischen Administration und Einbürgerungskandidat/innen verstandenen Einbürgerungsverfahren. Dabei folgt sie der Aufforderung Alexis Spires, „in den Kellern der französischen Einwanderungspolitik“1 zu stöbern und ist äußerst fündig geworden. Anhand der umfangreichen Dossiers, die im Rahmen dieses Verfahrens über die Antragsteller von den Behörden erstellt wurden, analysiert sie das jeweilige historisch vorherrschende Verständnis von ‚Anpassung’ und ‚Würdigkeit’ und zieht aus diesen Akten Schlüsse über die Beweggründe von Ausländern, die französische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Neben den umfangreichen Datensätzen der Einwanderungsbehörden des Beckens von Longwy stützt sich Losego auf die aus Paris kommenden Verwaltungserlasse, um dem sich wandelnden Verständnis bzw. der strategisch wechselnden Politik der Naturalisation nachzugehen. Dabei bezieht sie die jeweiligen politischen und sozio-ökonomischen Umstände auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene ausführlich in die Darstellung mit ein. Im Untersuchungszeitraum von 1945–1990 unterscheidet sie fünf Phasen, in der sich jeweils politische, demographische und ökonomische Aspekte in ihrer Bedeutung für das Einbürgerungsregime abwechselten. Zugleich macht Losego eine deutliche Zweiteilung aus: Im Zuge der Erosion der traditionellen Inklusionsstrukturen des Industriearbeitermilieus habe sich ab Mitte der 1970er-Jahre ein Wandel der Einbürgerungspraxis abgezeichnet, der sich unter anderem durch eine Verrechtlichung des Verfahrens auszeichnete. Gleichzeitig sei insbesondere für die nordafrikanischen Migrant/innen die Einbürgerung ein notwendiger Schritt gewesen, um der Exklusion durch europäische Binnenmarktstrukturen auf dem Arbeitsmarkt (Freizügigkeit) zu entgehen. Diese konnte in einer Region, in der ein Großteil der Arbeitsplätze jenseits der Grenze lag, existenziell werden.
Die Spezifika der französischen Integrationspolitik gegenüber algerischen Migrant/innen im Becken von Longwy vor, während und nach dem algerischen Unabhängigkeitskrieg stehen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Dabei diskutiert Losego ausführlich die seitens der französischen Eliten vorherrschenden Vorstellungen der Differenz der nordafrikanischen bzw. bis zur algerischen Unabhängigkeit 1962 offiziell französischen „muslimischen“ Staatsbürger/innen Algeriens („Français musulmans d’Algérie“) und arbeitet fünf Motive heraus, die den Diskurs über das vermeintliche „nordafrikanische Problem in Lothringen“ (S. 251) ausmachten: Das Motiv der „gefährlichen Klasse“, das des „zweifach proletarisierten Proletariats“, das der „Integration ohne Assimilation“, das der „Psychologisierung des Sozialen“ sowie das der „nationalen Pflicht zur Solidarität“. Diese Motive zeichnet sie anschließend in den Verlautbarungen und Korrespondenzen von drei privat bzw. halbstaatlich organisierten sowie vorwiegend öffentlich finanzierten Vereinen nach, die sich der Betreuung, Unterbringung und Förderung ‚bedürftiger’ oder ‚benachteiligter’ nordafrikanischer Migrant/innen verschrieben hatten. Deutlich werden dabei sowohl die Kontrolleffekte der Unterbringung in staatlich subventionierten Wohnheimen, als auch die Vereinnahmung dieser Orte durch rivalisierende algerische Unabhängigkeitsgruppen. Hinzu treten die Versuche und Erfahrungen einzelner Migrant/innen, ihr Leben zwischen den konkurrierenden Institutionen Staat, Gewerkschaft, private Vereine und algerische Organisationen einzurichten.
Auf Basis von Audio-Mitschnitten des illegalen Gewerkschaftsradios „Lorraine Cœur d’Acier“ (LCA), das im Zuge der Proteste gegen die Werksschließungen im Becken von Longwy 1979/80 auf Sendung war, widmet sich Losego im dritten Teil der lokalen Erinnerungskultur. Radio LCA wurde von der kommunistischen Gewerkschaft CGT betrieben, bot jedoch einer breiten Öffentlichkeit die Chance, auch kontroverse Meinungen zu diskutieren und diente als Gegenöffentlichkeit gegenüber den staatlichen und arbeitgebernahen Medien. Anhand der lebensgeschichtlichen Interviews in der Geschichts-Sendung „Le passé présent“ arbeitet die Autorin ein „integratives Migrationsgedächtnis“ (S. 432) heraus, das die Region als „Schmelztiegel“ verschiedener Migrationen charakterisierte und dabei vor allem von den Kindern der italienischen (und polnischen) Migranten der Zwischenkriegszeit geprägt wurde. Referenzpunkte der Inklusion seien insbesondere der Zweite Weltkrieg und die Résistance einerseits sowie die Gewerkschafts- und Industriearbeit andererseits gewesen. Die nordafrikanische Migration komme jedoch in diesem Gedächtnis nicht oder höchstens partiell am Rande vor, weshalb Losego zusätzlich Mitschnitte der LCA-Sendung „La parole aux immigrés“ analysiert. Hier spielten jedoch vor allem aktuelle Probleme der Migrant/innen eine Rolle; individuelle Migrationserfahrungen aus der Vergangenheit seien nicht thematisiert worden. Losego macht dafür zum einen die Konkurrenz von gewerkschaftlichen und offiziellen (französischen wie algerischen) staatlichen Erinnerungen an den Algerienkrieg, zum anderen die Tatsache verantwortlich, dass es sich bei der nordafrikanischen um eine relativ ‚junge’ Migration handelte. Dies habe zu einem Rückzug algerischer Migrant/innen aus dem öffentlichen Gedächtnisdiskurs geführt. Hinzu trete die Erosion der gewerkschaftlichen und schwerindustriellen Lebenswirklichkeit für die jüngere Generation, die seit den späten 1970er-Jahren auf den Arbeitsmarkt kam.
Sarah Vanessa Losego bietet mit ihrer quellengesättigten Arbeit eine sehr gut lesbare und weitgehend überzeugend argumentierende mikrohistorische Studie zur Inklusion von Migrant/innen und ihren Familien in einem nordfranzösischen Industrierevier. Entgegen dem Titel untersucht sie dabei nicht nur die algerische bzw. nordafrikanische Gruppe der ‚Gastarbeiter’ sondern bezieht insbesondere ‚italienische Migranten’ der ‚zweiten Generation’ in ihre Studie mit ein. Auch wenn die drei Teile eher solitär nebeneinander stehen – und auch gut als Einzelstudien gelesen werden können – so ergeben sie in der Kombination doch ein breites Bild des Wandels von Inklusionsprozessen in dieser Region. Eine zusätzliche Ebene an Zwischenüberschriften oder deutlichere Überleitungen innerhalb der Unterkapitel hätten die Orientierung im Text zwar verbessern können und doch schmälert dies nicht die grundsätzliche Empfehlung für Leser/innen, die sich für die französische Migrationsgeschichte oder historische und aktuelle Inklusions- und Exklusionsprozesse interessieren.
Anmerkung:
1 Alexis Spire, In den Kellern der französischen Einwanderungspolitik (1945-1975), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 2 (2005), H. 3, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Spire-3-2005> (11.07.2012).