G. Marinelli-König (Hrsg.): Böhmische Länder in Wiener Zeitschriften

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Titel
Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805-1848). Bd. 1: Tschechische nationale Wiedergeburt – Kultur- und Landeskunde von Böhmen, Mähren und Schlesien – Kulturelle Beziehungen zu Wien


Herausgeber
Marinelli-König, Gertraud
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft 28 / Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse 801
Anzahl Seiten
XLVIII, 1027 S.
Preis
€ 140,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Preisinger, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Der vorliegende Band „Die böhmischen Länder in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz“ ist im Rahmen des Wiener Vormärz-Slavica-Projekts entstanden: Gertraud Marinelli-König sammelt seit 1982 Slavica in den Wiener gelehrten Zeitschriften und Unterhaltungsblättern der Vormärz-Periode. Ziel der komparatistischen Reihe ist, laut Vorwort zu Band 4, die „bibliographische Erfassung der binnenösterreichischen Rezeption der Kultur der slawischen Länder und Nachbarländer der Habsburger Monarchie“.1 Historisch erstreckt sich das Projekt auf den Zeitraum zwischen zwei politischen Zäsuren: von 1805, dem Beginn des Kaisertums Österreich, bis zur Revolution von 1848, die sowohl die politischen Verhältnisse als auch die Presselandschaft nachhaltig veränderte. Seit 1990 sind insgesamt 5 Materialbände erschienen: zu Russland (1990, 1998), zu den Polen und Ruthenen (1992), zu den Südslawischen Gebieten (1994) und zuletzt zu Oberungarn bzw. die Slowakei (2004). Der aktuelle Band ist den böhmischen Ländern gewidmet und stellt – aufgrund der Materialfülle – den ersten von insgesamt vier Teilbänden dar.

Das Prinzip der Reihe entspricht einem, wie es im Vorwort zum Russland-Band heißt, „Mosaikzyklus“2: Die Verfasserin hat tausende Textstellen aus Wiener Intelligenzblättern, Almanachen, gelehrten Zeitschriften und Unterhaltungsblättern – rund 50 an der Zahl – gesammelt, geordnet, bibliographisch erfasst und beschlagwortet. Die thematische Spannweite umfasst Organe wie die Rezensionszeitschrift „Annalen der Literatur und Kunst“, das „Hormayr-Archiv“, die „Allgemeine Theaterzeitung“, den Saphirschen „Humoristen“ und die Franklschen „Sonntagsblätter“, und darf sich damit als annähernd umfassend im Bereich der gelehrten Zeitschriften und Unterhaltungsblätter verstehen, wenngleich reine Fachjournale und Fachzeitschriften nicht berücksichtigt wurden. Die Erscheinungsdaten der einzelnen Blätter sind freilich unterschiedlich und decken sich vielfach nicht mit dem abgesteckten Zeitraum komplett. Generiert wird ein Textarchiv nach einer Systematik, die bereits in den erschienen Bänden zur Anwendung kam: Die Belegstellen werden bibliografisch erfasst und nach folgenden Themenbereichen sortiert: Literatur und Schrifttum; Sprachwissenschaften; Philosophie, Ästhetik, Rhetorik; Geschichte; Bildungsinstitutionen; Kunst; Recht; Religion; Landeskunde; Politische Ökonomie; Naturwissenschaften und Mathematik. Das Material wird wiederum in weitere Sachgebiete untergliedern und geht damit weitgehend mit einer fachdisziplinären Gliederung des Wissens konform.

Der vorliegende erste von vier geplanten Teilbänden zu den böhmischen Ländern konzentriert sich ausschließlich auf den Themenbereich „Literatur und Schrifttum“, und umfasst fünf Hauptkapitel sowie etliche Unterkapitel. Der umfangreichste Teil trägt den Titel „Nachrichten über Schriftsteller“ (S. 3-681) und enthält bibliografische Hinweise auf belletristische Beiträge von 259 großteils auf Deutsch publizierender Autoren aus Böhmen, Mähren und Schlesien bzw. biografische Notizen über sie, wobei die von dort nach Wien (bzw. Österreich ob und unter der Enns) zugezogenen Schriftsteller und Journalisten gleichfalls erfasst wurden. Weitere Unterkapitel sind: „Anonyma“ (S. 684-777), „Almanache“ (S. 712-750), „Gebrauchsliteratur“ (S. 751-767), „Übersetzungen“ (S. 768-799), „Böhmische Stoffe“ (S. 800-855). Die weiteren Kapitel lauten: „Literaturkritik“ (S. 857-941); „Zeitungen und Zeitschriften“ (S. 943-1005), „Bibliographien, Lexika“ (S. 1005-1008); „Buchproduktion und -vertrieb“ (S. 1009-1027).

Die so geordneten Belegstellen enthalten neben der bibliografischen Angabe bei nicht selbsterklärenden oder besonders interessanten Meldungen eine direkte Zitation aus der Originalstelle oder aber eine als „Anmerkung“ gekennzeichnete Erläuterung der Herausgeberin. Die Marinellische Belegsammlung wirkt bei der ersten Betrachtung wegen fehlender korpustheoretischer Überlegungen und der ab und zu begründungslosen Auswahl der Zitationen stark intuitiv, angesichts des heterogenen Materials bewährt sich das pragmatische Ordnungssystem aber letztlich doch. Wesentlich ist die Beibehaltung des Ordnungsschemas über alle Bände der Reihe hinweg: Wer die Slavica-Bände nebeneinander legt, dem erschließt sich ein synchrones wie diachrones Archiv in disziplinärer und transdisziplinärer Hinsicht, dessen Lektüre namens- als auch themenzentriert möglich ist. Die weitgehend unkommentierte Darstellung des Materials birgt Risiken wie zugleich den eigentlichen Reiz des Projekts: Erstens gilt es mit zu bedenken, dass das Material durch die Hände der Zensur ging und dementsprechend an Vaterlandskunde und den Zielen der Machterhaltung der Dynastie ausgerichtet war. Zweitens muss der Leser selbst Falschmeldungen, Fehlinformationen oder tendenziöse Darstellungen in der kommentarlosen Anführung erkennen. Eine kritische Ausgabe wäre in Anbetracht der Materialmenge wohl auch nicht möglich. Drittens findet man vor allem Marginales, Anekdotisches und Partikuläres: Der nicht auf die böhmischen Länder spezialisierte Literaturwissenschaftler wird feststellen müssen, dass ihm selbst mit Ausnahme von Adalbert Stifter und Charles Sealsfield von den zeitgenössisch-vielgepriesenen Autoren höchstens eine Handvoll Namen vertraut sind. Die Meldungen sind zuweilen, entsprechend der Ausrichtung der Unterhaltungsblätter von damals, skurril und völlig nebensächlich.

Konzipiert als Quellen- und Verweissammlung sowie Bibliografie scheint es wenig angebracht und möglich, eine Gesamtaussage über das Material zu treffen. Dem Vorwort des Bandes, verfasst vom Kulturhistoriker Moritz Csáky, scheint dies noch am ehesten zu gelingen: Erstaunlich sei, so schreibt Csáky, wie intensiv die „Peripherie“ im Zentrum wahrgenommen wurde. Tatsächlich ist von jenem homogenisierenden nationalstaatlichen Narrativ, wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Anwendung kommt, noch wenig zu spüren. Der Terminus „vaterländisch“, Teil einer politischen Doktrin, der dann verwendet wurde, wenn man keine nationale Festschreibung vornehmen wollte, ist dafür bezeichnend (vgl. S. XVII). Bewusst wird dem Leser angesichts der mannigfachen Textstellen, und hier ist Csáky zuzustimmen, dass die zentraleuropäische Region, als inhomogener Kommunikationsraum, auf ein „gemeinsames historisches und kulturelles Gedächtnis“ (S. VIII) zurückgriff, bei dem die plane Gegenüberstellung zwischen Wien als dem Eigenen und Prag als dem Fremden nicht aufgeht, wie die Verfasserin zu recht schreibt (S. XXV). Erkennbar ist vor allem im Kapitel „Literaturkritik“, das wesentliches Material zu literarischen Tendenzen enthält, das Bestreben, die böhmische Literatur und Presse im Gesamtverband der Monarchie deutlich sichtbarer zu machen. Insgesamt überrascht jedenfalls, wie detailreich und interessiert die Literatur der böhmischen Länder in Wien verfolgt wurde.

In der Partikularität liegt die Stärke des Slavica-Projekts: Den Leser ohne Meta-Text und ohne allzu starker Vorauswahl einen Katalog anzubieten, der die Grundlage zu weiteren Forschungen sein kann und will. Hilfreich ist der vorliegende Band jedenfalls für eine Vielzahl an weiterführenden Fragestellungen: Es lassen sich etwa Lebensläufe ebenso rekonstruieren, wie böhmische Themen- oder Motivforschung betreiben oder Aspekte verlags- und pressegeschichtlichen Interesses bearbeiten. Die in den Zeitschriften abgedruckten und hier wiedergegebenen Listen mit slawischen Schriftstellern dürften sich insbesondere als Ausgangspunkt weiterer Forschungen anbieten. Über die Literaturgeschichte hinausgehend sind Arbeiten zur Sozial- und Mentalitäts- wie Mediengeschichte nur einige jener Aspekte, zu denen der Quellenband eine wertvolle Hilfe sein kann. Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung von Zeitschriftenbeständen, hier wäre etwa an das Projekt ANNO der Österreichischen Nationalbibliothek zu denken, ist die Reihe sicherlich ebenfalls eine wertvolle Suchhilfe.

Anmerkungen:
1 Herbert Foltinek, Vorwort, in: Gertraud Marinelli-König, Oberungarn (Slowakei) in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805–1848). Blicke auf eine Kulturlandschaft der Vormoderne. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme der Beiträge über die historische Region und ihre kulturellen Verbindungen zu Wien, Wien 2004, S. VII.
2 Gertraud Marinelli-König, Rußland in den Wiener Zeitschriften und Almanachen des Vormärz (1805–1848). Ein Beitrag zur Geschichte der österreichisch-russischen Kultur- und Literaturbeziehungen, Wien 1990, S. CXXV.

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