Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte des nationalsozialistischen Autobahnbaus erschöpfend erforscht. Das 1996 erschienene Standardwerk von Erhard Schütz und Eckhard Gruber („Mythos Reichsautobahn“) bietet einen immer noch gültigen Gesamtüberblick über die politische Planungs- und Implementationsgeschichte dieses intensiv inszenierten und sich selbst inszenierenden Großprojekts.1 Die propagandistischen, ästhetischen, landschaftsökologischen, sozialgeschichtlichen und verkehrspolitischen Aspekte wurden an anderer Stelle mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen so umfassend untersucht, wie es die gedruckten Publikationen und die überlieferten zentralen Aktenbestände des „Generalinspektors für das deutsche Straßenwesen“ im Bundesarchiv Berlin erlauben.
Der Frankfurter Dissertation von Reiner Ruppmann gelingt es jedoch, durch einen auch methodisch begründeten Perspektivwechsel auf der Basis kommunaler und regionaler Aktenbestände neue Erkenntnisse über die Planungsgeschichte des Autobahnbaus von den 1920er-Jahren bis ins Jahr 1956 zu gewinnen. Während der Beginn des Untersuchungszeitraums mit der Gründung des HAFRABA-Vereins für den Bau einer Autobahn von Hamburg über Frankfurt nach Basel evident erscheint, ist das Enddatum der Fertigstellung des Frankfurter Kreuzes geschuldet, das die zentrale Kreuzungsfunktion der hessischen Metropole im deutschen Autobahnnetz nicht nur symbolisch, sondern auch materiell manifestierte.
Aus einer bundespolitischen Perspektive wäre das Jahr 1960 mit dem Einstieg in den forcierten Ausbau des Autobahnnetzes durch ein neues Straßenbau-Finanzierungsgesetz sicherlich angemessener. Ruppmanns Begriff der „Sattelzeit des Jahrhunderts der Autobahn“ von 1875/76 (Verabschiedung des Preußischen Straßenbau-Dotationsgesetzes) bis 1956 (Vollendung des Frankfurter Kreuzes) in Anlehnung an Reinhart Kosellecks berühmte Begriffschöpfung erscheint allzu hochtrabend und zeitlich zu unpräzise. Da die konzeptionellen Voraussetzungen für den Bau eines modernen Fernstraßennetzes seit dem Ende der 1920er-Jahre und die institutionellen Vorbedingungen erst 1933 geschaffen wurden, müsste die „Sattelzeit der Autobahn“ eher von 1929 bis 1960 datiert werden.
Ruppmanns innovative Leistung besteht in der Erforschung der „epistemic community“ aus dem Frankfurter Oberbürgermeister, den Frankfurter Bau- und Wirtschaftsdezernenten und den Straßenplanern in Frankfurt und Südhessen, die Mitte der 1920er-Jahre Frankfurts Funktion als Knotenpunkt im (Schienen-)Verkehrsnetz durch den Bau überregionaler „Autostraßen“ (so der zeitgenössische Begriff) ergänzen und perspektivisch noch vor dem antizipierten Prozess der Massenmotorisierung ausbauen wollten. Die detailgenaue, aber nicht detailüberfrachtete Darstellung leitet das herausgehobene Interesse der Stadt Frankfurt am visionären Projekt einer Nord-Süd-Autobahn präzise aus ihrer wirtschaftlichen Interessenlage her. Ruppmann präsentiert damit ein Fallbeispiel für eine langfristig orientierte kommunale Standortpolitik, die sich auch nach dem politischen Regimewechsel zum Nationalsozialismus nicht veränderte.
Die Straßenplaner in Frankfurt und Südhessen leisteten in ihrer Region wichtige konzeptionelle Vorarbeiten für die spätere Reichsautobahn. Dies war der entscheidende Grund, weshalb der HAFRABA-Verein 1933 personell fast unverändert als regionale Planungssektion in Fritz Todts Autobahnplanungsgesellschaft Gezuvor (Gesellschaft zur Vorbereitung der Reichsautobahn) eingegliedert wurde. Aufgrund ihrer Vorarbeiten gelang es den Frankfurter Straßenplanern, ihre Vorstellungen von der Linienführung der Autobahn(en) mit Frankfurt als zentralem Netzkreuz bei Todt vollständig durchzusetzen.
Ruppmann entwickelt eine überzeugende Erklärung dafür, dass die Selbstauflösung des HAFRABA-Vereins und seine Eingliederung in Todts Planungsapparat nicht allein als ein Akt der Selbst-Nazifizierung, sondern auch als eine erfolgreiche Selbstermächtigung zur Verteidigung ihres professionellen Status verstanden werden muss. Aufgrund des selbstgenerierten Zeitdrucks zur propagandawirksamen Fertigstellung erster Autobahnabschnitte hatte Todt keine Alternative, als sich der Fachkompetenz der regionalen Straßenplaner zu bedienen. Als Teil der gleichen „epistemic community“ fanden die Frankfurter Straßenplaner ungeachtet unterschiedlicher politischer Interessen sofort eine gemeinsame Sprache mit Todt, was die Kommunikation mit der zentralen Planungsinstanz erleichterte. Da das HAFRABA-Projekt im Gedächtnis der Öffentlichkeit eng mit dem früheren jüdischen Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann verbunden war, gab es für Todt ein besonderes propagandistisches Motiv, den HAFRABA-Verein unauffällig in seine Ämterstruktur zu inkorporieren.
Ruppmanns Darstellung zwingt dazu, die bisherige Reichsautobahnforschung in einem wichtigen Punkt zu revidieren. Zumindest im Fall des Autobahnbaus in (Süd-)Hessen lässt sich der Planungsprozess nicht mehr als ein zentralistisches top-down-Verfahren erklären. Das Beispiel (Süd-)Hessen zeigt, wie regionale Interessenvertreter – Verkehrsplaner in Großstädten und Regierungsbezirken – mit proaktiver Planung und durch standortpolitisches Lobbying beim Gauleiter die zentrale Autobahnplanung Todts im Sinne „ihrer“ Region beeinflussen konnten.
Fazit: Ruppmanns Monographie liefert gerade dank ihres regionalgeschichtlichen Ansatzes neue und allgemein relevante Erkenntnisse zur Geschichte der Reichsautobahn. Die immer noch weit verbreitete Vorstellung von der Autobahn als nationalsozialistischem Projekt wird nicht zum ersten Mal, aber am überzeugendsten, dekonstruiert.
Anmerkung:
1 Erhard Schütz/Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn. Bau und Inszenierung der „Straßen des Führers“ 1933–1941, Berlin 1996.