Die Fernsehdokumentation "Das Schweigen der Quandts" löste 2007 nicht nur erregte Debatten aus1, sie führte auch dazu, dass die Unternehmerfamilie den Bonner Historiker Joachim Scholtyseck beauftragte, die Diskussion über die Karriere Günter Quandts im "Dritten Reich" auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Kaum vier Jahre später liegt nun das Ergebnis der beeindruckenden Rechercheleistung vor, die das "Quandt-Team" (S. 857) unter Scholtysecks Leitung erbracht hat. Annähernd 50 Archive wurden von den Bonner Historikern durchforstet, Unmengen an Literatur gesichtet und auf 850 Seiten reinen Textes (zzgl. rund 200 Seiten Endnoten) der erste Teil der Quandt-Geschichte erzählt. Hinzu kommt, keineswegs selbstverständlich, dass die Auftragsannahme an die Öffnung des bis dahin unzugänglichen Familienarchivs für künftige Bearbeiter geknüpft wurde und die verwendeten Unterlagen im Hessischen Wirtschaftsarchiv einsehbar sind.
Nach dem unternehmensgeschichtlichen Boom der letzten anderthalb Jahrzehnte ist die Chance, etwas genuin Neues über einen Großindustriellen im "Dritten Reich" zu sagen, nicht eben immens. Der wissenschaftliche Reiz besteht daher darin, zum einen den Erfolg der Gründerfigur Günther Quandt (1881-1954), zum anderen die Langlebigkeit der familiären Eigentums- und Kontrollstrukturen über mehrere Generationen hinweg zu erklären. Ersteres deutet der Buchtitel an, letztere wird infolge des Abbruchs der Erzählung im Jahr 1954 nur teilweise herausgearbeitet. Die Studie legt ihr Schwergewicht auf den Werdegang Günther Quandts sowie die nationalsozialistischen Jahre. Bereits auf den ersten 200, vor allem den Ursprüngen des Familienunternehmens gewidmeten, Seiten werden immer wieder Linien bis in die 1940er-Jahre gezogen, und die folgenden 550 Seiten spielen komplett zwischen 1933 und 1945, ehe eine kurze Zusammenfassung über den Umbau nach 1945 und die Eigentumsaufteilung unter den beiden Söhnen Herbert und Harald den Band beschließt. Der Einstieg etwa bei BMW, heute wohl die bekannteste Quandt-Beteiligung, und die Karriere der Unternehmerfamilie in der Bundesrepublik bleiben unbeleuchtet.
Entsprechend sind aus unternehmensgeschichtlicher Perspektive gerade die Anfangskapitel von besonderem Interesse, denn hier schildert Scholtyseck ausführlich die Startbedingungen, Sozialisation und Lehrjahre des Unternehmers Günther Quandt. In eine brandenburgische Textilfabrikantenfamilie geboren, stieg Quandt in jungen Jahren in den elterlichen Betrieb ein und avancierte dort nach dem Rückzug des Vaters zum unumstrittenen primus inter pares der Familie. Seine Neigung zu Expansion und Konzernbau zeigte sich bereits in der von ihm betriebenen, über das vorsichtigere Wirtschaften seines Vaters hinausgehenden Arrondierung und Konzentration der regionalen Textilindustrie. Den eigentlichen Startschuss, so Scholtyseck, habe jedoch der Erste Weltkrieg gegeben, als Quandt zu einer einflussreichen Figur in der Kriegswirtschaftsorganisation avancierte, dabei die Interessen seiner Firma nie aus den Augen verlor, wertvolle Kontakte in die nationale Politik und Wirtschaft knüpfte und seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Berlin verlegte. Der "Ausbruch" (S. 45) aus der Provinz wurde zum Durchbruch Quandts, der auch in der turbulenten Nachkriegszeit von den sich aus Inflation und Krise ergebenden Chancen zu profitieren wusste. Scholtyseck scheut sich nicht, den von seinem Protagonisten selbst als despektierlich abgelehnten Begriff des Spekulanten zu benutzen, um Quandts Wachstumskurs der 1920er-Jahre zu beschreiben. Vom durchaus nicht immer erfolgreichen "Finanzjongleur" (S. 87) entwickelte sich Quandt rasch zur ernst zu nehmenden Größe in der Batterie- und Akkumulatorenproduktion (AFA, später VARTA) sowie im Waffen- und Rüstungsgeschäft, die zu den beiden zentralen Pfeilern der Quandt-Gruppe wurden. Ein Konzern im engeren Sinne entstand dabei nicht, vielmehr kontrollierten Holdings die verschiedenen Zweige, in denen die vorgefundenen Strukturen weitgehend erhalten blieben. Einen "in der Handschrift Günther Quandts verfassten Gesamtplan" (S. 175, 840) gab es nicht.
Die Investition in die Rüstungsbranche sollte sich, trotz erheblicher Startprobleme der angeschlagenen Berlin-Karlsruher Industrie-Werke (später: Deutsche Waffen- und Munitionsfabriken, DWM), nach 1933 auszahlen und Quandt zu den bedeutendsten Lieferanten für das deutsche Rüstungsprogramm avancieren. Der Beginn der Beziehungen zum NS-Regime hatte sich zwar ungewöhnlich rau gestaltet – Quandt wurde 1933 zunächst verhaftet und bei der AFA ein Kommissar eingesetzt –, doch schon bald gerieten die Beziehungen in ruhigere Gewässer. Der Industrielle trat noch im selben Jahr der NSDAP bei und arbeitete fortan gut mit den neuen Machthabern zusammen. In diesem Zusammenhang schildert Scholtyseck auch Quandts Scheidung von seiner zweiten Frau Magda und deren Ehe mit Joseph Goebbels. Obwohl weitgehend bekannt, ist das Kapitel insofern erhellend, als die Beziehungen zum Ehepaar Goebbels erkennbar unerquicklich für Quandt waren und von der bisweilen kolportierten Protektion durch den Gauleiter und Propagandaminister schwerlich die Rede sein kann.
Die folgenden Kapitel, die ausführlich "Arisierungen", Expansion ins besetzte Europa und Zwangsarbeit in Quandts Unternehmen thematisieren, sind gewissermaßen Pflichtprogramm. Wie die Studie zeigt, hatte auch Günther Quandt wenig Bedenken, die Verdrängung jüdischer Unternehmer, Manager und Angestellter nicht nur zu dulden, sondern selbst zu betreiben, wenn es seinen Interessen diente – was Hilfeleistungen im Einzelfall nicht ausschloss. An der territorialen Ausdehnung beteiligte sich die Quandt-Gruppe nach Kräften und mit viel Eigeninitiative, obschon nicht immer erfolgreich, sowie unter Zuhilfenahme der Sanktionsmacht des NS-Staats. Beim Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen fiel das Elend in den Quandt-Betrieben im Schnitt nicht geringer aus als in der deutschen Industrie generell; Unterschiede innerhalb der Gruppe belegen, dass vorhandene Spielräume meist ungenutzt blieben bzw. zu Lasten der Zwangsarbeiter ausgestaltet wurden. Sowohl Günther als auch sein inzwischen in Führungspositionen aufgerückter Sohn Herbert Quandt, daran lässt Scholtyseck keinen Zweifel, wussten um die Bedingungen und Folgen der Zwangsarbeit und scherten sich doch nicht. Nach dem Krieg verfielen sie auf jene apologetischen Formeln vom unpolitischen bis hin zum widerständigen, in jedem Fall dem NS-Regime ausgelieferten Unternehmer, die als typisch für das deutsche Wirtschaftsbürgertum nach 1945 gelten können.
Solchen Selbstkonstruktionen erteilt Scholtyseck immer wieder Absagen – mal, wenn er die "dreiste Lüge" identifiziert, die DWM seien erst 1943 auf ministerielle Weisung in die Waffenproduktion eingestiegen (S. 738), mal, wenn er resümiert, dass die "reibungslose Anpassung […] in der geradezu zwangsläufigen Kollaboration mit dem verbrecherischen Regime" (S. 844) resultierte. Der im Vorfeld geäußerten Sorge, Scholtyseck könne zum "Exponenten einer neuen 'Persilschein-Historiographie' in der Unternehmensgeschichte" werden2, baut er damit vor, ebenso wie mit stets sorgsam abwägenden Einschätzungen. Dies kommt allerdings der Analyse nicht immer zugute. An vielen Stellen dominiert eine Diktion des sowohl-als-auch; auf eine Aussage folgt nicht selten deren Qualifizierung und Einschränkung. Ist dies erkennbar dem Willen geschuldet, den Protagonisten Fairness entgegen zu bringen und den Einzelfall zu würdigen, so hätte man sich doch mehr Formulierungen von jener Klarheit gewünscht wie in der Charakterisierung Horst Pavels, rechte Hand erst Günther, dann Herbert Quandts, als "kühler Karrierist, […] frei von moralischen Skrupeln, wenn es darum ging, die durch die Nationalsozialisten gesetzten Gestaltungsspielräume zu nutzen" (S. 772).
Dort, wo Scholtyseck zu allgemeinen Aussagen gelangt, wird man ihm nicht immer zustimmen können. Dass den "meisten Unternehmer[n]" attestiert wird, sie hätten den Krieg aus "Grundsätzen der wirtschaftlichen Vernunft" abgelehnt (S. 233), reflektiert ebenso wenig den gegenwärtigen Forschungsstand wie die von Adam Tooze entlehnte Einschätzung, dass die deutschen Arbeiter "den Wiederaufbau der Reichswehr bisweilen sogar für wichtiger hielten als eine weitere soziale Angleichung" (S. 326). Ebenso will das Diktum, es sei "vermessen und geradezu naiv, von Geschäftsleuten ein anderes Verhalten zu erwarten, als jenes, das andere Deutsche […] an den Tag gelegt haben" (S. 851), nicht überzeugen, dokumentiert Scholtysecks Buch doch selbst die zentralen Unterschiede: Unternehmern boten sich weit mehr und gravierendere Möglichkeiten, zu Komplizen des Regimes zu werden, als den meisten Deutschen – zugleich aber Exit-Optionen, diese Möglichkeiten ungenutzt zu lassen und sich entsprechenden Erwartungen zu verweigern. Mochte Quandt auch, wie Scholtyseck überzeugend zeigt, ein im Kern flacher Charakter ohne echte Interessen abseits seines Unternehmens sein: Ein Durchschnittsbürger war er nicht. Und die Feststellung, Quandt sei nie Nationalsozialist gewesen, ist letztlich nur bedingt hilfreich, um die von Scholtyseck lediglich in Anführungszeichen verwendete "'Mitschuld'" (S. 762) zu ermessen.
Der Gewinn der Studie liegt somit vor allem auf traditionellem unternehmensgeschichtlichem Gebiet. Die intensive Ausleuchtung des familienunternehmerischen Milieus, aus dem Quandt stammte und das sein professionelles Selbstverständnis zeitlebens prägte; die detaillierte Schilderung der Expansionsmethoden und -ziele, inklusive der Rückschläge; das präzise Nachzeichnen der Leitungsstrukturen rund um den Patriarchen, der sich mit bemerkenswerter Ausschließlichkeit seinem Unternehmen verschrieb und die Zügel beinahe bis zum Tode nicht aus den Händen gab, zugleich aber geschickter in seiner Nachfolgeregelung agierte als vergleichbare Akteure; nicht zuletzt die ausführlichen Angaben zu den Tochterunternehmen – für all dies liefert der vorliegende Band reiches Material und wird dankbare Leser finden.
Anmerkungen:
1 Dazu Ralf Stremmel, Zeitgeschichte im Fernsehen. Die preisgekrönte Dokumentation "Das Schweigen der Quandts" als fragwürdiges Paradigma, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 58 (2010), S. 455-481.
2 Paul Erker, Kommentar, in: Andreas Heusler / Mark Spoerer / Helmuth Trischler (Hrsg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im "Dritten Reich", München, 2010, S. 139-144, hier S. 140, Anm. 3.