Titel
Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Tage. Die Biographie


Autor(en)
Berggren, Henrik
Erschienen
München 2011: btb Verlag
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
€ 26,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael März, Gotha

Es bedarf zweifelsohne eines unerschütterlichen Interesses und einer besonderen Leidenschaft für den Untersuchungsgegenstand, wenn sich ein Publizist über mehrere Jahre hinweg dem Vorhaben verschreibt, ein jüngst und gründlich behandeltes Thema erneut zu bearbeiten. Der schwedische Journalist und Historiker Henrik Berggren hat sich diese Mühe gemacht und mit seiner Biografie über Olof Palme dem hohen Risiko ausgesetzt, die umfänglichen Abhandlungen Claes Arvidssons und Kjell Östbergs zu repetieren.1

Im Unterschied zu ihnen ist Berggrens „Olof Palme. Vor uns liegen wunderbare Tage“ in deutscher Sprache erschienen und somit einem breiteren Publikum zugänglich. Dieser Umstand mag spontan zu der Frage verführen, ob Berggren tatsächlich mehr anzubieten hat als seine Vorgänger. Aus fachlicher Sicht erscheint es mir jedoch sinnvoller, diesen Vergleich in den Hintergrund zu stellen. Zum einen, weil die Autoren verschiedene Zugänge gewählt haben: Berggren wollte weder einen reinen Forschungsbeitrag liefern wie Östberg, noch war er von rein politjournalistischem Interesse geleitet wie Arvidsson. Und zweitens, weil Leser ohne Schwedischkenntnisse ohnehin mit Berggrens Beitrag Vorlieb nehmen müssen.

Für die Übersetzung des ursprünglich bei Norstedts erschienenen Werkes spricht allerdings nicht nur das dringende Desiderat – die letzte deutschsprachige Monografie über Olof Palme erschien vor mehr als zwanzig Jahren2 –, vielmehr erweist sich Berggren als vorzüglicher Wissensvermittler: Er erzählt routiniert und unterhaltsam, achtet auf eine unvoreingenommene Darstellung und vermag souverän mit den verschiedenen Quellengattungen umzugehen. Seine umfangreichen Recherchen führten ihn nicht nur in das obligatorische Arbetarrörelsens arkiv (Archiv der Arbeiterbewegung), sondern auch in Bildungseinrichtungen wie die Sigtunaschule und das Kenyon College in Ohio, welche Palme als Heranwachsender besuchte. Außerdem arbeitete sich Berggren durch eine beachtliche Zahl von institutionellen, journalistischen und fachlichen Publikationen und stand in Kontakt mit zwei Dutzend Zeitzeugen, darunter die Witwe und die Söhne Palmes. Den Vergleich mit Östberg muss Berggren in diesen Punkten also nicht scheuen.

„Vor uns liegen wunderbare Tage“ erzählt die Lebensgeschichte des schwedischen Starpolitikers und legendären Sozialdemokraten in chronologischer Reihung und gliedert sich in siebzehn Abschnitte, die sich mit den Umbrüchen in Palmes Leben decken. Vom textlichen Umfang her sind der politische Aufstieg und die Jahre als Premier und Oppositionsführer in etwa gleich gewichtet. Fast ein Viertel des Buches ist der familiären Vorgeschichte und der Kindheit in Stockholm, Ånga und Sigtuna gewidmet.

Diese Aufteilung mag einem allgemein interessierten Publikum einleuchten – für Leser mit zeitgeschichtlichem Interesse birgt sie allerdings Nachteile: Zwar versucht Berggren regelmäßig, Bezüge zur schwedischen Gesellschaftsgeschichte herzustellen, um die Perspektive der Kindheitsschilderung nicht zu stark auf Palme zu fixieren. Der Nachteil dieser Erzählweise besteht aber darin, dass sie den Zeitabschnitt bis 1952 – als Palme Vorsitzender des Schwedischen Studentenverbandes (SFS) wird und damit erstmals politisch in Erscheinung tritt –, textlich ungemein ausdehnt. In Ermangelung solider Quellen und angesichts eher lavierender Beschreibungen von Palmes erzieherischen Prägungen, seinen jugendlichen Anschauungen und seinem Oberklassen-Habitus, ist dies kaum gerechtfertigt.

Deutlichen Erkenntniswert bietet erst das Kapitel über den Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten. Hier gelingt es Berggren dank breiter Quellenbasis, Palmes persönliche Entwicklung vom „modern orientierten Mann der Rechten“ (S. 108) zum angehenden Studentenpolitiker „mit sozialem Bewusstsein“ (S. 136) schlüssig darzulegen. Die Stärke seiner Schilderung beruht darauf, dass er mehr über die Studienerfahrungen und -inhalte argumentiert, statt über einschneidende Erfahrungen auf der späteren Reise zu spekulieren – wie es Östberg bevorzugt.

Der sich daran anschließenden und zentralen Frage in Palmes Biografie widmet sich Berggren ebenso sorgfältig: Wie kam der Oberklassenspross zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP)? – Neben der „politischen Umorientierung“ (S. 190) in der Studienzeit werden zwei Faktoren angeführt: Zum einen Palmes Instinkt für die Dynamik der Nachkriegszeit, die er als internationaler Studentenpolitiker hautnah erlebte. Zum anderen die Konsensatmosphäre in der schwedischen Politik. In der Nachkriegszeit hatten sich die linke SAP und das bürgerliche Lager in vielen Positionen stark angenähert. Bertil Ohlin, der Vorsitzende der Liberalen, erschien „fast wie ein Sozialdemokrat“ (S. 252) und Tage Erlander mitunter konservativ. Im Umkehrschluss war es für Palme keine gravierende Richtungsentscheidung, der SAP beizutreten. Es lag außerdem nahe, die Erfahrungen als langjähriger Sekretär Erlanders zu nutzen.

Dem Politiker Palme schreibt Berggren von Beginn an ein klaren Reformwillen und eine feste Zielsetzung zu: Die „gut organisierte Klassengesellschaft“ (S. 254) der 1960er-Jahre wollte er liberalisieren und den Bürgern „mit Hilfe des Staates mehr Macht über ihr Leben“ (S. 248), mehr Selbstbestimmung, mehr individuelle Freiheit einräumen. Während Östberg eher darauf abzielt, Widersprüche in Palmes Grundauffassungen offen zu legen, betont Berggren ihre Kontinuität. Demnach hätten die entscheidenden Reformen während seiner ersten Regierungsjahre die frühe Absage an den Sozialismus sowjetischer Prägung und seinen Glauben an einen „Staatsindividualismus“ (S. 347) unterstrichen.

Zugleich bestreitet Berggren nicht, dass die Modernisierung zu gesellschaftlichen Umbrüchen führte, die Palme überraschten; zum Beispiel, dass es auch in der „nivellierte[n] Gesellschaft“ (S. 378) „unbefriedigte Erwartungen“ (S. 278) gab – wie zwei Schlüsselbegriffe der Sozialdemokratie lauteten. Die politischen Lager und ihre Gegensätze blieben erhalten und verstärkten sich mit der beginnenden Strukturkrise Mitte der 1970er-Jahre. Schließlich profitierten die bürgerlichen Parteien von einem Stimmungsumschwung der Bevölkerung: Man erkannte, dass die Individualisierung den einzelnen Bürger zwar unabhängiger von den Kräften der Wirtschaft machte, zugleich aber seine Abhängigkeit vom Staat verstärkte. Die bürokratisierte Zentralgewalt des demokratischen Sozialismus wurde von den neuen sozialen Bewegungen und einem neoliberalen Zeitgeist herausgefordert.

Berggren weist aber darauf hin, dass die Zustimmung zum Wohlfahrtstaatsmodell nie gefährdet war und Anfang der 1980er-Jahre sogar zunahm. So überstand die SAP unter Palme eine Schwächephase während der Fälldin- und Ullsten-Regierungen und kehrte 1982 mit gewandelten Zukunftsentwürfen aus der Opposition zurück.3 Das innerparteiliche Umdenken, die Einsicht in begangene Fehler und die Anerkennung der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen werden leider nur knapp umrissen.

Speziell das Verhältnis zwischen Palme und seinem Wirtschaftsminister Gunnar Sträng, dem Berggren die Verantwortung für die Wahlniederlage 1976 zuschreibt, lädt zu einer genaueren Betrachtung ein – zumal die SAP ihr soziales Selbstverständnis als „Partei mit den guten Gaben“ (S. 623) erst nach Strängs Rückzug Anfang der 1980er-Jahre wandelte und ein hartes Krisenprogramm beschloss. Hinter diesem stand ein junges Expertenteam um Kjell-Olof Feldt, der ins Machtzentrum der Partei aufrückte, obwohl seine Positionen bei der Arbeiterbewegung auf lebhaften Widerstand stießen. Neben den Sparreformen und der Deregulierung des Finanzmarktes sorgte der Streit um die Arbeitnehmerfonds für jahrelange Querelen. Die SAP verzeichnete einen enormen Mitgliederrückgang. Berggren verzichtet jedoch auf eine stärkere Einbeziehung der Parteigeschichte, sondern streift noch einmal alle Themen- und Handlungsfelder Palmes, um ihn abschließend mit einem begründeten Wohlwollen als stets neugierige, gestaltungswillige und moralisch standfeste Persönlichkeit zu charakterisieren. So weckt das Fehlen einer zusammenfassenden Würdigung keinen falschen Eindruck.

Anmerkungen:
1 Arvidsson fokussiert dabei auf das politische Wirken Palmes in den 1970er- und 1980er-Jahren, vgl. Claes Arvidsson, Olof Palme. Med verkligheten som fiende, Stockholm 2007. Östberg erzählt dagegen eine detaillierte Lebensgeschichte, die sich aus den Erkenntnissen des Forschungsprojektes „Palme i sin tid“ speist, vgl. Kjell Östberg, I takt med tiden. Olof Palme 1927-1969, Stockholm 2008; ders., När vinden vände. Olof Palme 1969-1986, Stockholm 2009. Vgl. dazu Michael März: Sammelrezension zu: Östberg, Kjell: I takt med tiden. Olof Palme 1927-1969. Stockholm 2008; Östberg, Kjell: När vinden vände. Olof Palme 1969-1986. Stockholm 2009; Björk, Gunnela: Olof Palme och medierna. Umeå 2006, in: H-Soz-u-Kult, 25.10.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-4-060> (16.03.2012).
2 Es handelte sich um ein journalistisches Porträt des Politikers Olof Palme, einschließlich einer Reportage zu den Ereignissen rund um das Attentat am 28. Februar 1986: Jochen Preußler, Olof Palme ermordet, Report aus Stockholm, Berlin 1990.
3 Die Wirtschaftshistorikerin Jenny Andersson bezeichnet die Abkehr von der Idee der „starken Gesellschaft“ geradezu als „valfrihetsrevolution“ (Wahlfreiheitsrevolution): Während es der ursprüngliche Gedanke der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei war, dem Bürger mit Hilfe des Staates „Wahlfreiheit“ gegenüber den ökonomischen Kräften zu verschaffen, sollte er nun mehr Macht über die staatlichen Institutionen (zurück-)erhalten, vgl. Jenny Andersson, När framtiden redan hänt. Socialdemokratin och folkhemsnostalgin, Stockholm 2009, Kap. 2.1.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension