Der Sammelband untersucht Wirtschaftskulturen in globaler Perspektive und stellt Fragen nach deren Interdependenz, Kontinuität und Wandel, transnationalen Austauschbeziehungen und Deutungsmustern. Er ist aus einer Tagung hervorgegangen, die im Februar 2010 vom Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte und dem Institut für Weltgesellschaft an der Universität Bielefeld veranstaltet wurde. Die Beiträge bilden das Destillat eines umfangreicheren und interdisziplinär ausgerichteten Veranstaltungsprogramms, das sich der institutionellen Varianz, Konvergenz und transnationalen Transfers in der „Weltgesellschaft“ annäherte.Mit der historischen Analyse des Wechselverhältnisses von Kultur und Wirtschaft schließt der Band an einen wirtschaftshistorischen Diskurs an, der in den vergangenen Jahren ein breites Spektrum an theoretischen Impulsen und empirischen Erkenntnissen hervorgebracht hat.1 Er überzeugt durch das breite Spektrum an Fallbeispielen in unterschiedlichen zeitlichen und geographischen Kontexten sowie die Betonung transnationaler Transfers zwischen Wirtschaftskulturen. In der Umsetzung zieht sich allerdings nicht durch alle Beiträge eine explizite Anbindung an den theoretischen Ansatz. Der Begriff „Wirtschaftskultur“ wird von den Herausgebern in einer neo-institutionalistischen Perspektive verwendet. Ein stärkerer paradigmatischer Bezug aller Beiträge hätte das analytische Potenzial einer theoretisch fundierten Forschung zu den Kulturen der Weltwirtschaft noch deutlicher aufzeigen können.
Einleitender Ausgangspunkt der Herausgeber ist die Weltgesellschaft (World Polity) als institutioneller Bezugsrahmen der Weltwirtschaft, deren zeitlichen Ursprung sie im Kontext des beginnenden Globalisierungsprozesses in der Mitte des 19. Jahrhunderts verorten. Der Weltmarkt wirke in der Weltgesellschaft einerseits homogenisierend, indem er Anpassungsleistungen der Teilnehmer erfordere. Andererseits ermöglicheund fördereseine Ausdifferenzierung in Teilmärkte die Persistenz heterogener und historisch gewachsener Kulturen. Diese Wirtschaftskulturen, so die Herausgeber, interagieren innerhalb der Weltgesellschaft auf Basis unterschiedlicher Handlungslogiken, die nicht unbedingt nationalstaatlich gebunden sind, sondern überstaatlich in „wirtschaftlichen Großräumen“ (S. 9) verankert sein können und die sich idealtypisch in korporative Marktwirtschaft und liberale Marktwirtschaft zusammenfassen lassen. Wirtschaftskulturen stünden zum Beginn des 21. Jahrhunderts in einem „Wettbewerb um die Spielregeln des Marktgeschehens […], der zwischen den wenigen historisch gewachsenen Wirtschafts- und Unternehmenskulturen entbrannt ist“ (S. 13). Die institutionelle Ausprägung einer Wirtschaftskultur, so lautet ein zentrales Argument der Herausgeber, werde damit zu einem wichtigen Wettbewerbsfaktor auf dem Weltmarkt, der komparative Vor- und Nachteile maßgeblich beeinflusse. An dieser Stelle könnte sich die Frage nach Hierarchien von Wirtschaftskulturen in der Weltwirtschaft stellen. „The ‚global economy‘ is not a level playing field“2, schreibt Douglass North und spielt damit auf wettbewerbshemmende Strukturen in der Weltwirtschaft an, denen auch Wirtschaftskulturen unterworfen sein dürften, die aber in dem Band nur gestreift werden.
Im zweiten Beitrag, der die einführende theoretische Sektion des Bands abschließt, nimmt Werner Abelshauser eine Erweiterung des Theorems von David Ricardo vor. Ausgehend von der Definition von Wirtschaftskultur als „einer an Märkten orientierten historisch gewachsenen institutionellen Landschaft“ (S. 35), überträgt er Ricardos Theorem der komparativen Vorteile von materiellen Produktionsfaktoren auf die institutionelle Rahmenbedingungen ökonomischen Handelns und schließt damit an die Diskussion um die Varieties of Capitalism an. Abelshauser entwickelt ein dynamisches Modell der Entstehung von Wirtschaftskulturen, deren Entwicklung anhand von Pfadabhängigkeiten verläuft und nicht zwangsläufig in die Durchsetzung effizienter Arrangements münden muss. Vielmehr können Lock-in-Effekte zur Persistenz ineffizienter Institutionen führen, deren Wandel allenfalls durch externe Schocks wie beispielsweise bei den Meiji-Reformen in Japan verursacht werde. Abelshauser betont die Bedeutung von Wirtschaftskulturen für den Weltmarkt in der Gegenwart und schließt mit der Handlungsempfehlung, „die eigenen komparativen institutionellen Vorteile zu erkennen, sie durch produktive Ordnungspolitik zu stärken und schließlich Strategien zu entwickeln, die geeignet sind, sie auf geeigneten Märkten umzusetzen“ (S. 56).
In der zweiten Sektion beschäftigen sich vier Beiträge mit der historischen Genese von Wirtschaftskulturen in unterschiedlichen Räumen. Raphaëlle Chappé, Edward Nell und Willi Semmler verdeutlichen in einem sehr anschaulichen Überblick,der sich allerdings nicht explizit auf den einleitenden institutionentheoretischen Ansatz bezieht, die historische Entwicklung einer Risikokultur an der Wall Street, die sie für die Finanzkrise des Jahres 2008 verantwortlich machen. Gibt es eine spezifisch russische Wirtschaftskultur? Diese Frage beantwortet Stephan Merl im folgenden Beitrag mit Bezug auf langfristige Pfadabhängigkeiten positiv. Die sowjetische Kommandowirtschaft habe vorrevolutionäre Elemente in sich getragen, die wiederum über den Zusammenbruch der Sowjetunion hinweg wirkungsmächtig blieben. Ausgehend von der idealtypischen Zuspitzung auf liberale und koordinierte Marktwirtschaften zeigt Gunnar Flume anschließend am Beispiel Schweden die Ausdifferenzierung von Wirtschaftskulturen sowie die Entstehung institutioneller Hybride und deren Konsequenzen für die Unternehmenskulturen schwedischer Firmen. Susanne Rühle schließt die Sektion mit einem Vergleich zwischen dem gegenwärtigen chinesischen Netzwerk-Kapitalismus (Guanxi) und dem Stellenwert von Unternehmerpersönlichkeiten während der europäischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Deutlich werden in den vier Beiträgen die langfristige Wirkungsmächtigkeit von Pfadabhängigkeiten und ihr Einfluss auf die besprochenen Wirtschaftskulturen bis in die Gegenwart.
Die nun folgenden vier Beiträge knüpfen an die einleitende Feststellung der Herausgeber an, dass Wirtschaftskulturen nicht nationalstaatlich gebunden sein müssen, sondern ein transnationaler Austausch auch auf globaler Ebene möglich sei. Unter der Sektionsüberschrift „Transnationale Wirtschaftskulturen“ kommt zunächst Christof Dejung am Beispiel der Schweizer Handelsfirma Gebrüder Volkart zum Ergebnis, dass große Ähnlichkeiten zwischen indischer und europäischer Kaufmannskultur erkennbar seien. Diese in hohem Maß gemeinsam geteilte Kaufmannskultur habe es Europäern erleichtert, mit lokalen Partnern Kooperationen einzugehen. Michael Hoelscher stellt anschließend die Frage nach der Rolle von Wirtschaftskultur im europäischen Integrationsprozess. Auf Basis der European Value Study führt er eine Cluster- und Diskriminanzanalyse durch, aus der er die Existenz dreier Wirtschaftskulturen um ein skandinavisches Cluster, ein süd- und westeuropäisches Cluster sowie ein osteuropäisches Cluster ableitet. Klaus Nathaus schließt mit einer Untersuchung transatlantischer Transferbeziehung bei der Produktion populärer Musik an. Monika Dommann untersucht in ihrem Beitrag die historische Entwicklung von Autorenrechten als internationalen Prozess vom 18. Jahrhundert bis ins späte 20. Jahrhundert. Gegenüber dem Forschungsdiskurs, der die vermeintlich unterschiedlichen Spielarten des Kapitalismus betont, verweisen die Beiträge auf Ähnlichkeiten und transnationale Transfers zwischen Wirtschaftskulturen, die ein integrierendes Potenzial entfalten können.
Die abschließende vierte Sektion „Deutungsmuster im Wandel“ beginnt Margrit Grabas mit einem Plädoyer für eine kulturalistisch erweiterte Konjunkturforschung, indem sie Kultur ein erklärendesPotenzial bei der Analyse marktwirtschaftlicher Entwicklungszyklen einräumt. Wirtschaftskrisen seien an soziokulturell und institutionell bedingte Entscheidungen von Akteuren gekoppelt, deren Bewältigung auf politischer, sozioökonomisch-technischer und institutionell-kultureller Ebeneerfolgen müsse. Im letzten Beitrag des Sammelbands widmet sich Roman Köster dem Wandel der Kapitalismusanalyse im ökonomischen und soziologischen Diskurs des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Er erkennt in den 1960er Jahren einschneidende Bruchlinien, die zu einer grundsätzlichen Neuinterpretation des Kapitalismus führten. Damit einhergegangen sei ein Bedeutungsverlust des Kapitalismus als sozioökonomische Analysekategorie, der in der neueren Kapitalismuskritik unzureichend reflektiert werde.
Der Begriff Wirtschaftskultur schließt als integrierendes Konzept an die Varieties of Capitalism-Theorie, die World-Polity-Theorie sowie den soziologischen und ökonomischen Neo-Institutionalismus an. Er verfügt über erhebliches analytisches Potenzial für die Erklärung institutioneller Wettbewerbsfähigkeit in historischer Perspektive. Dieses Potenzial wird in dem Sammelband deutlich, hätte aber beispielsweise durch einen abschließenden Bezug der Beiträge auf den theoretischen Rahmen noch stärker betont werden können. Ebenfalls bietet der Begriff „Wirtschaftskultur“ Anschlussmöglichkeiten an den Begriff „Wirtschaftsstile“ und damit an den Diskurs um das Verhältnis zwischen Kultur und Wirtschaft in der Tradition der historischen Schule, auf den in dem Band nicht verwiesen wird.3
Anmerkungen:
1 Exemplarisch: Susanne Hilger (Hrsg.), Wirtschaft - Kultur - Geschichte. Positionen und Perspektiven, Stuttgart 2011; Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004.
2 Douglass C. North, Understanding the Process of Economic Change, Princeton, Oxford 2005, S. 164.
3 Betram Schefold, Wirtschaftsstile (= Studien zum Verhältnis von Ökonomie und Kultur 1), Frankfurt am Main 1994.