Im Dickicht der kaum noch überschaubaren bürgertumsgeschichtlichen Arbeiten sind familienbiographische Studien, die über mehrere Generationen hinweg den Wandel bürgerlicher Werte und Lebensentwürfe rekonstruieren, immer noch eher selten zu finden. Insofern trägt die Dissertation Ulf Morgensterns von vornherein dazu bei, eine Forschungslücke zu schließen. Mit seiner Studie zur Geschichte der bildungsbürgerlichen Familie Schücking aus Westfalen will Morgenstern einen „historischen Längsschnitt durch rund 150 Jahre Entwicklung deutscher liberaler Bürgerlichkeit“ (S. 11) präsentieren, die „für bildungsbürgerliche Familien konstituierende Weitergabe von Werten und Idealen“ in einer „Langezeitbeobachtung“ (S. 29) aufarbeiten und der Lebensführung seiner Protagonisten nachgehen.
Ein derart ambitioniertes Unternehmen setzt einen umfangreichen Korpus aussagefähiger Quellen voraus, die Ulf Morgenstern fast schon im Überfluss zur Verfügung standen. Zur Überlieferung, die der Autor selbst als „bürgertumsgeschichtlichen Glücksfall“ (S. 491) charakterisiert, gehören u.a. sechs, bis dato zum Teil unbekannte Privatnachlässe mit tausenden von Privatbriefen, autobiographischen Skizzen und ungedruckten Manuskripten sowie einschlägige Materialien in zahlreichen öffentlichen Archiven. Etwas überraschend verzichtet Morgenstern auf einen elaborierten theoretischen Überbau, um die Materialfülle zu ordnen und setzt stattdessen „entgegen allen Theorie-Trends der gegenwärtigen Biographik“ auf einen „klassischen narrativen Ansatz“ (S. 32). Ohne methodische Vorüberlegungen kommt freilich auch eine Arbeit, die sich als hermeneutische Studie versteht, nicht aus. So greift der Verfasser Prämissen der Generationenforschung auf und rückt die politische Generationszugehörigkeit der Familienmitglieder und die naheliegende Frage, ob ihre Überzeugungen und Leitbilder dem zeitgenössischen Mainstream entsprachen, in den Mittelpunkt seiner Darstellung.
Den narrative Kern der Studie bildet die Rekonstruktion der Lebenswege von Lothar Engelbert (1873–1943), Walther (1875–1935) und Levin Ludwig Schücking (1878–1964) – Enkelkinder des Schriftstellers Levin Schücking (1814–1883) und Söhne des Landrichters Lothar Engelbert (1844–1901), der nach Ansicht Morgensterns mit seiner Verehrung Bismarcks, seiner Sympathie für die imperialistische Politik des wilhelminischen Reichs und seiner materialistischen Gesinnung den „puren bürgerlichen Durchschnitt“ (S. 238) verkörperte, gleichwohl aber auch als eigenwilliges „impulsive[s] Irrlicht“ (S. 238) auffiel und etwa als Katholik den anti-ultramontanen Kurs der Reichsregierung entschieden unterstützte. Dem Wunsch des Vaters entsprechend setzten seine Söhne die bildungsbürgerlichen Traditionen der Familie fort. Lothar Engelbert schlug eine Laufbahn als Anwalt und Bürgermeister ein, Walther reüssierte als Völkerrechtler, Parlamentarier und Richter, während sich der Anglist Levin Ludwig in der Wissenschaft einen Namen machte.
Die in der Tat unerlässliche Frage, ob ihre Lebenswege repräsentativ für bildungsbürgerliche Biographien zwischen Kaiserreich und frühen Bundesrepublik stehen, beantwortet Morgenstern abgewogen. Im Wertekanon der drei Schückings spiegeln sich auf der einen Seite zeittypische bürgerliche Überzeugungen gewiss wider: Der Glaube, mit Arbeit, Leistung, Disziplin und Fleiß individuellen Erfolg zu begründen und die Reputation der Familie auf Dauer zu bewahren, die hohe Wertschätzung von Bildung, Wissenschaft und Forschung, „das Streben nach ‚Stärke bzw. Tüchtigkeit im Kopf‘“ (S. 498) sowie die freilich eher schon übersteigerte, bisweilen völlig unkritische Pflege des Familiensinns. Zum Dreh- und Angelpunkt entwickelte sich hier die Erinnerung an die schriftstellerische Leistungen Levin Schückings, die Generationen übergreifend familiäre Identität stiftete.
Auf der anderen Seite weist der Autor darauf hin, dass sich gerade die Entwicklung ihres politischen Denkens nicht in gängige bürgerliche Schubladen pressen lässt. Mit ihrem „katholischen, patrizisch-bildungsbürgerlich-gelehrten Familienhintergrund“ (S. 495) repräsentieren die linksliberalen Schückings eher eine Sonderformation des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Ihr politisches Verhalten wurde überdies von einem geradezu „querulantischen Einschlag“ (S. 493), von einem bemerkenswerten familienspezifischen Eigensinn mitbestimmt, der sich u.a. durch einen unerschütterlichen Glauben an die eigenen Ideale, einem dezidierten Gerechtigkeitsgefühl, dem Vertrauen in „das Gute im Menschen“ (S. 494), ein tiefes Gefühl der Zusammengehörigkeit zwischen den Brüdern, und durch den Stolz auf die „patrizisch münsterische Herkunft“ (S. 498) auszeichnete.
Stand Lothar Schücking zeitlebens politisch fest an der Seite Bismarcks und Preußens, brachen Lothar Engelbert, Walther und Levin um 1900 mit den politischen Leitbildern des Vaters. Sie fühlten sich zunehmend „pazifistisch-demokratischen Denkmustern“ (S. 275) verpflichtet, setzten sich für eine Demokratisierung des monarchischen Obrigkeitsstaats ein, und nahmen freiwillig in Kauf, in ihrem zumeist nationalliberal gesinnten beruflichen Umfeld als Außenseiter zu gelten. Nach dem Ende des ungeliebten Kaiserreichs avancierte vor allem Walther Schücking zum politischen Hoffnungsträger nicht nur liberaler Kreise. Er gehörte u.a. zur sechsköpfigen Delegation des Deutschen Reiches bei den Friedensverhandlungen in Versailles und zählte zu den profiliertesten Köpfen in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), für die er bis 1928 in der Nationalversammlung und im Reichstag saß. Sein politisches Engagement blieb allerdings – im Übrigen wie bei seinen beiden Brüdern – ein Engagement auf Zeit und in seinen Wirkungen begrenzt. Sein wenig ausgeprägtes Gespür für politischen Pragmatismus und Parteitaktik, sein Unmut über Parteiintrigen und seine „pazifistische Prinzipientreue“ (S. 371) standen einer politischen Karriere in der ersten Reihe der DDP letztlich im Weg. Ernüchtert zog sich Walther Schücking allmählich aus der Politik zurück und verlegte sich wieder stärker auf die Wissenschaft. Seit dem Wintersemester 1926/27 lehrte er in Kiel, bevor er mit der Ernennung zum Richter am Internationalen Gerichtshof den Zenit seiner beruflichen Laufbahn erreichte.
Die NS-Herrschaft ließ für linksliberales politisches Denken kaum noch Platz und wurde von den Schückings als tiefe Zäsur empfunden, die nun davon überzeugt waren, „aufgrund des Eintretens für ihre demokratischen Ideale […] zusehends aus einer ‚deutschen‘ bürgerlichen Existenz hinausgedrängt zu werden“ (S. 459). Nachdem seine Dortmunder Kanzlei von der SA durchsucht und sämtliche Akten vernichtet worden waren, fiel Lothar Engelbert wegen seiner angeblich kommunistischen Gesinnung dem Berufsverbot zum Opfer, zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und verbrachte mit dürftigen finanziellen Ressourcen die nächsten Jahre im münsterländischen Sassenberg in der „inneren Emigration“ (S. 411). Walther Schücking verlor zwar seinen Lehrstuhl in Kiel, behielt aber seinen Sitz am Internationalen Gerichtshof, was ihm eine weiterhin privilegierte materielle Lebensführung erlaubte. Er legte sich ein neues Ferienhaus zu, finanzierte das Studium seiner beiden Kinder und unterstützte von Den Haag aus vor allem seinen Bruder Lothar Engelbert. In Leipzig wurde Levin Ludwig aus diversen Gremien der Universität verdrängt und bemühte sich fortan, in seiner „akademischen Nische“ (S. 445) beruflich zu überleben. Politisch isoliert und in Leipzig gesellschaftlich an den Rand gedrängt, bewegte sich sein Verhältnis zu den NS-Machthabern bis zur Zerstörung des anglistischen Instituts nach Luftangriffen Anfang Dezember 1943 zwischen „Burgfrieden“ (S. 447) und Momenten verschärfter Repressionen (wie etwa das temporäre Ausreiseverbot 1938).
Levin Ludwig verließ Leipzig und zog sich zunächst in sein Ferienhaus in der bayerischen Gemeinde Farchent zurück. In den nächsten Jahren übernahm er mehrere Lehraufträge und wurde 1957 in München zum Honorarprofessor ernannt. Nach Ansicht Ulf Morgensterns zeichneten sich die Lebensführung und das politische Denken Levin Ludwigs in der frühen Bundesrepublik durch zahlreiche Kontinuitäten aus. Die linksliberalen, pazifistischen Grundüberzeugungen und die Nähe zu Idealen der Lebensreformbewegung im wilhelminischen Zeitalter interpretiert Morgenstern als „alte Erbstücke des Schückingschen Nonkonformismus“ (S. 472), der auch die Lebenswege der nachwachsenden Generation bestimmt habe. Da die Biographien der Kinder und Enkel Levin Ludwigs nur noch skizziert werden, ist die Diagnose, dass die (west)deutsche Gesellschaft an der Wende zum 21. Jahrhundert „noch ein erhebliches Maß an Bürgerlichkeit“ (S. 490) in sich trage, eher als These und weniger als empirisches Ergebnis zu verstehen.
Ulf Morgenstern arbeitet den Wandel und die Kontinuitäten liberalen politischen Denkens in der Familie Schücking stringent heraus und zeichnet den eigensinnigen Charakter seiner Protagonisten anschaulich nach, der erheblich dazu beitrug, dass die Schückings häufig nicht dem politischen Mainstream ihrer jeweiligen Generation entsprachen. Die Absicht, die Konturen bürgerlicher Lebensführung in einem Längsschnitt zu verfolgen, löst die Studie indes nur partiell ein, die zwar das Familienleben und auch die Geselligkeitsformen deskriptiv aufgreift, zentrale Aspekte wie etwa die konkreten materiellen Ressourcen der Familien, Strategien der Haushaltsführung sowie den Wandel von Konsummustern und Wohnverhältnissen allerdings nur anreißt bzw. außen vor lässt. Für das Verständnis von „Bürgerlichkeit“ – insbesondere im 20. Jahrhundert – sind weitere familienbiographische Arbeiten mit einem explizit sozialhistorischen Zugriff unverändert erwünscht.