Titel
The Migration Apparatus. Security, Labor, and Policymaking in the European Union


Autor(en)
Feldman, Gregory
Erschienen
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens Adam, Humboldt-Universität zu Berlin

Wie lassen sich komplexe, räumlich schwer begrenzbare und institutionell vielfältig verflochtene Systeme zur Regulierung von Bevölkerungen oder zur Steuerung politischer „Probleme“ ethnographisch untersuchen? So lautet eine zentrale Fragestellung in den gegenwärtigen Diskussionen zu einer Anthropologie politischer Felder1, zu denen Gregory Feldman mit seinem Buch „The Migration Apparatus“ einen wichtigen Beitrag leistet. Im Fokus steht das sich zunehmend verdichtende System der EU zum „Migrationsmanagement“, mit dem europäische Politiker und Beamte versuchen, das „Problem“ einer unkontrollierten Wanderung von Migranten aus dem globalen Süden nach Europa in den Griff zu bekommen. Dieses „Problem“ – so zeigt Feldman auf – ist nicht nur politisch und diskursiv produziert, sondern verweist auf dominante Formen des Umgangs europäischer Öffentlichkeiten mit Migration entsprechend einer Logik der Abwehr, Abgrenzung und Restriktion, welche die längerfristigen und strukturellen Rahmenbedingungen dieser Wanderbewegungen auszublenden versucht. Dass dieses System nicht nur die massiven Ungleichheiten einer globalen Wirtschaftsordnung verteidigt und reproduziert, sondern gewaltdurchzogen ist und regelmäßig zu tödlichen Konsequenzen führt, wird als Reaktion auf die Geschehnisse vor und auf Lampedusa vermehrt auch von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen.2

Gregory Feldmans Studie bildet eine kulturanthropologische Analyse dieses expandierenden europäischen Politikfeldes, das sich aus einer „verwirrenden Anzahl von Akteuren, Wissenspraxen, technischen Anforderungen, Arbeitsbestimmungen, Sicherheitsdiskursen, normativen Subjektivitäten und umgenutzten Institutionen“ zusammensetzt und somit „die Bedingungen für die ordnungsgemäße Bewegung von Millionen von Körpern erzeugt“ (S. 180). Sie führt auf ihren 200 Seiten zu einer beeindruckenden Vielzahl von lokalen Kontexten, bürokratischen Einrichtungen, Konferenzen, Interaktionsräumen, politischen Diskursen und Rationalitäten.

Die einzelnen Kapitel des Buchs bieten entsprechend Einblicke in unterschiedliche Praxis-, Diskurs- und Regulierungsfelder dieses europäischen Migrationsmanagements: Den Auftakt hierzu bildet im zweiten Kapitel die Analyse der diskursiven Rahmung von Migration und Zuwanderung in Europa im Zuge einer – Feldman zufolge – prägenden Auseinandersetzung zwischen den beiden rechten Positionen des Neoliberalismus und des Neonationalismus. Im dritten Kapitel geht es um die Etablierung von dominierenden Wissensordnungen, die exemplarisch anhand der Entwicklung eines europäischen „Asylum and Migration Glossary“ (S. 64ff.), der Erstellung von interaktiven Karten zur Darstellung von Migrationsbewegungen (S. 69ff.) sowie anhand der Harmonisierungen von politischen Zielsetzungen in internationalen Verhandlungsrunden (S. 72ff.) nachgezeichnet wird. Das vierte Kapitel diskutiert unterschiedliche Organisationsformen, Techniken, Harmonierungsbestrebungen und konkrete Operationen zur europäischen Grenzkontrolle, deren verbindendes und elementares Ziel die Unterbindung unerwünschter Mobilitäten und Zuwanderung ist. Im Zentrum des fünften Kapitels steht die Analyse der Entwicklung und Ausdehnung von biometrischen Informationssystemen und elektronischen Reisedokumenten, die mobile Personen – anders als die zuvor diskutierten Regulierungsfelder – nicht als Teil einer gesichtslosen Masse, sondern als „hyperindividualisierte Subjekte“ adressieren und wohlhabende, produktive und kosmopolitische Reisende durch „Registered Traveler Programs“ einen vereinfachten Zugang zur EU gewähren sollen. Im sechsten Kapitel geht es schließlich um die Vorstellung und praktische Regulierung einer „zirkulären Migration“, die eine temporäre Zuwanderung entsprechend der Bedürfnisse des europäischen Arbeitsmarktes ermöglichen soll und – so Feldmans Argument – die (überschaubaren) Differenzen zwischen der neoliberalen und neonationalen Rechten zu versöhnen vermag.

Diese Kapitel werden durch die Orientierung an zwei Leitbegriffen – „apparatus“ und „non-local ethnography“ – zusammengehalten. Die Relevanz des Buchs ergibt sich insbesondere aus den konzeptionellen und methodischen Überlegungen, die Feldman an diese Begriffe anschließt. Bereits mit dem Titel des Buches knüpft Feldman an Überlegungen an, die Paul Rabinow in Rückgriff auf Michel Foucault zur anthropologischen Untersuchung zeitgenössischer Machtfelder entwickelt hat.3 Ein „apparatus“ entsteht demnach durch das temporäre Zusammenfließen ursprünglich unverbundener Elemente – etwa von Diskursen, architektonischen Arrangements, Gesetzen, wissenschaftlichen Aussagen usw. – zum Zwecke der Kontrolle von Bevölkerungen oder der Steuerung ökonomischer Prozesse (S. 15 und 188). Es sind in der Regel Momente der „Krise“, in denen sich ein apparatus zusammenfügt, um ein entstehendes „Problem“ zu definieren und zu bearbeiten. Ein apparatus funktioniert dabei ohne eine zentrale, greifbare Autorität. Vielmehr fließen die vielfältigen Praxen, administrativen Routinen oder Sprechakte, die Bürokraten, Techniker, Experten oder Policymaker zur Bearbeitung des „Problems“ in Gang setzen, ohne eine zentrale Kontrollinstanz zu einem komplexen Gesamtgefüge zusammen (S. 16).

Grundlegend für einen apparatus und seine ethnographische Erforschung sind einerseits das Zusammenwirken zwischen Prozessen der politischen Problematisierung und den zur Bearbeitung solcher „Probleme“ sich zusammenfügenden Assemblagen aus Akteuren, Institutionen, Wissensfeldern usw.; andererseits die Suche nach Techniken, Mechanismen, Sprechformen und anderen Hilfsmitteln, die einen „Netzwerk-Effekt“ ausüben und somit die heterogenen Elemente eines apparatus zusammenhalten können (S. 16 und 188ff.).

Um solche Netzwerk-Effekte ethnographisch aufspüren zu können, entwickelt Feldman den Ansatz einer „non-local ethnography“ (S. 17ff. und S. 188ff.), der sich im Kern dadurch auszeichnet, politische Rationalitäten in das Zentrum der Feldforschung zu rücken. Denn solche politischen Rationalitäten betrachtet Feldman als dauerhafter und für das Verständnis der Entstehung eines apparatus relevanter als konkrete menschliche Netzwerke, sichtbare Orte, institutionelle oder räumliche Ordnungen, die temporär von einem solchen System zur Bevölkerungsregulierung erfasst werden. So führt der empirische Fokus auf ein Akteursfeld, auf ein Netzwerk, auf technische und architektonische Arrangements oder auf Bürokratien hier nicht zu einem langfristigen Involvement und dichten Beschreibungen, sondern zu den politischen Rationalitäten, Machtlogiken und grundlegenden Prozessen, die sich an diesen sichtbaren Elementen des apparatus materialisieren. Es bleibt die Frage, was eine solche ‚pit-stop-Forschung’ zu einer Ethnographie macht – laut Feldman ist es das Festhalten an zentralen Grundlagen der ethnographischen Methode, die er mit den Begriffen „displacement“ und „contingency“ zu greifen versucht: „displacement“ meint im Forschungsprogramm einer „non-local ethnography“ allerdings nicht primär die räumliche Bewegung an „fremde Orte“, sondern die Annahme von „counterintuitive standpoints“ (S. 19), um die Diskurse, Rationalitäten oder Annahmen, die in einem Feld als gegeben betrachtet werden, zu dezentrieren; der Fokus auf „historical contingency“ soll den Blick auf die „Kämpfe, Konflikte und Gewalt“ lenken, durch die Diskurse oder politische Rationalitäten ihre Hegemonie, Dominanz oder scheinbare Allmacht erlangen und somit zu einer Analyse ihrer gesellschaftlichen Konstruktionsprozesse führen (S. 194ff.).

Im Ergebnis zeichnet Feldman ein dunkles Bild vom zeitgenössischen Europa: der „migration apparatus“ trägt zum Erhalt einer „drastisch unausgeglichenen globalen Wirtschaftsordnung“ bei und legitimiert den systemischen Ausschluss der Menschen aus dem globalen Süden; er transformiert lebende Menschen zu „Problemen“ und passiven Policy-Objekten; er führt zu einer Reduzierung der Kritikfähigkeit und des Handlungsvermögen von Politikern, Bürokraten oder Journalisten, indem etwa bestimmte technische oder architektonische Arrangements, Nützlichkeitserwägungen oder bürokratische Akte als plausibel oder allein gültig erscheinen; er produziert „soziale Gleichgültigkeit und Verbindungslosigkeit“ zwischen Menschen, auch wenn sie – wie etwa policy-maker, Bürokraten und Migranten – eigentlich durch den gleichen sozialen Prozess miteinander verknüpft sind (S. 4). Mit dieser umfassenden Analyse der Funktionsweisen des „migration aparatus“ verbindet Feldman letztlich eine aufklärerische Hoffnung: ein Verständnis der Rationalitäten und Zusammenhänge des apparatus könnte ein erster Schritt sein, um mit seinen Kategorisierungen und Machttechniken zu brechen (S. 198).

Das Forschungsprogramm einer „non-local ethnography“ führt somit zu einem beeindruckenden Gesamtbild dieses Systems zur Bevölkerungsregulierung; die breit angelegte Analyse wird allerdings mit einem Mangel an tieferen ethnographischen Einblicken in konkrete Akteursfelder oder lokale Kontexte bezahlt. Feldman ist sich dieser Konsequenz bewusst und argumentiert, dass seine Forschungspraxis mit der beängstigenden Oberflächlichkeit zeitgenössischer politischer Diskussionen und Prozesse korrespondiert (S. 193).

In einer der eher seltenen längeren ethnographischen Sequenzen dokumentiert Feldman die Exkursion in ein Abschiebegefängnis, die im Rahmenprogramm einer Konferenz zur politischen Koordinierung von Migration im mediterranen Raum angeboten wurde. Die Mitarbeiter von Innenministerien unterschiedlicher europäischer und nordafrikanischer Staaten besichtigen in einer geführten Tour die architektonischen Bedingungen des Internierungslagers. Die Beobachtung, dass die Besucher den Augenkontakt zu den Abschiebehäftlingen meiden und diesen mit offensichtlicher Interessenlosigkeit begegnen, führt Feldman zu seiner zentralen Fragestellung nach der Produktion von „sozialer Gleichgültigkeit und Verbindungslosigkeit“ in transnationalen Systemen zur Bevölkerungsregulierung (S. 4). Diese ethnographische Sequenz führt aber auch zu Mutmaßungen über die unterschiedlichen epistemologischen Positionen von Ministerialbeamten und Migranten: Beamte, IT-Techniker oder policymaker seien auf ihren jeweiligen Ausschnitt fixiert; sie verfügten kaum über die Weitsicht, um das Zusammenwirken unterschiedlicher Politikbereiche, Aktionen und Diskurse zu einem komplexen apparatus zu verstehen. Die Migranten aus dem globalen Süden hingegen, die Zielscheibe all dieser Maßnahmen sind, befinden sich nach Feldman in einer Position, um die Totalität dieses Gefüges zur Bevölkerungsregulierung mit all ihren Machttechniken und Netzwerkeffekten zu verstehen (S. 17). Und so bleibt zum Schluss die Frage, ob der Autor in dieser Randbemerkung nicht Ausgangspunkte für eine Forschungspraxis benennt, die auch in komplexen politischen Feldern dichtere ethnographische Beschreibungen ermöglichen würden: etwa den vielfältigen Machttechniken und -effekten eines solchen apparatus aus der Perspektive von Migranten nachzuspüren.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Cris Shore, Susan Wright, Davide Però, Policy Worlds. Anthropology and the Analysis of Contempory Power, New York 2011.
2 Siehe exemplarisch den am 4. Oktober 2013 auf Süddeutsche.de erschienenen Artikel: So rüstet sich die Festung Europa: <http://www.sueddeutsche.de/politik/eu-fluechtlingspolitik-so-ruestet-sich-die-festung-europa-1.1786857> (17.01.2014).
3 Paul Rabinow, Anthropos Today: Reflections on Modern Equipment, Princeton 2003.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/