Der Versuch, gesellschaftliche Transformation durch Hinterfragung der vermeintlich bestehenden Geschlechterordnung herbeizuführen, ist nicht erst ein Kennzeichen heutiger Entwicklungshilfe. Bereits die Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts erkannte den Faktor Geschlecht als zentrales Mittel gesellschaftlichen Wandels. Dieser Umstand hat vor allem für die historische Forschung zu Mission auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches in den letzten Jahrzehnten wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Lange jedoch nahmen Historiker eine einseitige Perspektive ein, indem sie lediglich nach dem Import neuer Rollenbilder fragten. Die Geschichte dieses vermeintlichen Transfers schrieben sie entweder im Sinne einer linearen Erfolgsgeschichte oder, wie manch postkolonial orientierte Arbeiten älteren Datums, eines Narratives der Viktimisierung. Ausgeblendet blieb dabei oft, auf welche Reaktionen die Bemühungen der Missionare um einen Wandel der Geschlechterordnung vor Ort trafen.
In diese Lücke stößt die vor kurzem erschienene Monographie Barbara Reeves Reeves-Ellingtons, in der die Autorin die Tätigkeit amerikanischer protestantischer Missionare auf dem Gebiet der heutigen Türkei und des heutigen Bulgarien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert untersucht. Schon der Titel ihres Buchs, "Domestic Frontiers", deutet den innovativen Charakter ihres Ansatzes an. Reeves-Ellington begreift die missionarische Begegnung als Kontaktzone und dynamischen Prozess. Dies führt sie zu der Fragestellung, auf welch unterschiedliche Art amerikanische Missionare Ideen von Häuslichkeit exportierten, wie diese vor Ort verhandelt wurden und wie die diversen Interpretationen dieses Ideals wiederum auf die Mission zurückwirkten, kurz: wie sich die Verhandlungen des Häuslichkeitsideals zwischen Missionaren und lokaler Bevölkerung im Laufe und infolge der Begegnung wandelten. Dabei versteht Reeves-Ellington unter Häuslichkeit den auch für das europäische Bürgertum des 19. Jahrhunderts charakteristischen Gedanken geschlechtsspezifischer Sphärentrennung, aufgrund dessen der häusliche Bereich als weibliche Domäne verstanden, gleichzeitig jedoch die gesellschaftliche Rolle von Frauen als Erzieherinnen künftiger Generationen aufgewertet worden sei – ein Paradox, das den Eintritt von Frauen in die Mission erst ermöglichte. Dieser Fragestellung geht sie anhand der Analyse von missionarischen Begegnungen auf dem Gebiet der heutigen Türkei und des heutigen Bulgarien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Osmanischen Reichs nach.
Im ersten Kapitel untersucht sie die Umsetzung des Häuslichkeitskonzepts in der Missionarsfamilie. Missionsleitungen in den Metropolen wiesen dem Heim des Missionars eine doppelte Funktion zu. Es sollte gleichermaßen als Rückzugsort wie als in die Gesellschaft hineinwirkender Ort der Zivilisierungsmission dienen. Plausibel zeigt Reeves-Ellington, wie diese widersprüchlichen Anforderungen zu einer merklichen Kluft zwischen Ideal und Praxis und ständigen Neuverhandlungen über Sinn und Zweck häuslichen Lebens führten. In dem Maße, wie sich Missionarsfrauen immer stärker in der Mission engagiert hätten, sei es zu einer graduellen Entfernung vom Ideal der Häuslichkeit gekommen – bis man sich schließlich zur Entsendung lediger Missionarinnen entschlossen habe, um die überforderten Ehefrauen der Missionare zu entlasten.
Im zweiten Kapitel untersucht sie am Beispiel der Tätigkeit amerikanischer Missionare in Stara Zagora im heutigen Bulgarien, wie auf dem Ideal der Häuslichkeit basierende Konzepte der Mädchenbildung vor Ort angenommen wurden. Im Kontext des aufkommenden Nationalismus habe es in der entstehenden bulgarischen Mittelschicht ein wachsendes Interesse an Mädchenbildung gegeben: Mädchen als Mütter künftiger Generationen sei eine zentrale Rolle im „nation building“ zugewiesen worden. Christlich-orthodoxe Initiativen auf dem Gebiet der Mädchenbildung seien jedoch zunächst kurzlebig gewesen. Eben dies habe der amerikanischen Mission den Einstieg in das Feld erleichtert. Nach anfänglichen Sympathien für die amerikanische Initiative unter der lokalen Bevölkerung sei die Stimmung jedoch umgeschlagen, als eine Schülerin zum Protestantismus konvertiert sei. Dezidiert unterstrichen nun lokale Nationalisten die enge Verbindung von Glaube und Nation - ein Mittel, dessen sich bald auch bulgarische Protestanten bedienten. Auch die Konvertitin Maria Gencheva, aufgrund deren Übertritt es zu Ausschreitungen gegen die Mission gekommen sei, bezeichnet Reeves-Ellington als "player in the nascent Bulgarian national home" (S. 77) – wobei ihre Argumentation hier insofern eine gewisse Schwäche aufweist, als sie nicht auf Selbstzeugnisse Genchevas zurückgreifen kann. Dies ist zwar ein Problem, mit dem Untersuchungen über Mission oft konfrontiert sind. Es hätte jedoch stärker als solches reflektiert werden können, um deutlicher zwischen den Motiven von Konvertitinnen und deren eventueller Instrumentalisierung durch andere Akteure zu differenzieren.
Dass es Reeves-Ellington allerdings im Ganzen sehr wohl darauf ankommt, zwischen den Intentionen der Missionare und der lokalen Bevölkerung zu differenzieren, zeigt das dritte Kapitel. Hier betont sie anhand einer Analyse orthodoxer Zeitschriften zwar die Popularität des von den Missionaren propagierten Häuslichkeitskonzepts unter orthodoxen Christen im entstehenden Bulgarien, hebt jedoch gleichzeitig die Aneignungsprozesse hervor, zu denen es im Laufe dieses Prozesses gekommen sei. An dieser Stelle bezieht sie sich vor allem auf die Verknüpfung von Häuslichkeit und orthodoxem Glauben im bulgarischen Nationalismus ‒ und veranschaulicht damit das Scheitern des Projekts der amerikanischen Mission, das auf der Annahme basiert hatte, über die Einführung bürgerlicher Rollenmodelle nicht nur eine kulturelle Konversion, sondern letztlich eine Hinwendung zum Protestantismus in Gang setzen zu können.
Dass Häuslichkeitskonzepte auch in der Mission selbst Aneignungs- und Transformationsprozesse durchliefen, verdeutlicht Reeves-Ellington im vierten und fünften Kapitel ihres Buches. Hier kehrt sie weitgehend zur amerikanischen Perspektive in der Begegnung zurück. Ledige Missionarinnen werden als treibende Kraft von Aneignungen des Häuslichkeitsideals dargestellt, so etwa in dem in Kapitel vier untersuchten Fall der Missionarinnen Esther Maltbie und Anna Mumford, der innerhalb der Mission deshalb zum Konflikt geführt habe, weil hier zwei ledige Frauen ihr Zusammenleben als "[a] missionary family" (S. 108) definierten. Der daraus folgende Konflikt, in dessen Zuge beide Frauen den Widerstand ihrer männlichen Kollegen erfuhren, ist für Reeves-Ellington Beleg für die durchaus kontroverse Art und Weise, auf die Häuslichkeit und damit geschlechtsspezifische Handlungsräume innerhalb der Mission interpretiert wurden.
Die Kulmination dieses Prozesses beschreibt Reeves-Ellington im letzten Kapitel ihres Buchs am Beispiel des Constantinople Home, einer von Angehörigen der amerikanischen Mission gegründeten höheren Bildungseinrichtung für Mädchen. Trotz ihres Namens, so Reeves-Ellington, hatte diese Einrichtung mit bürgerlicher Häuslichkeit nur noch wenig gemein, handelte es sich doch um eine ausschließlich weibliche Kommunität, deren Gründerinnen sich zudem prononciert für die Ausbildung von Frauen zu außerhäuslicher Tätigkeit einsetzten. Vom Gedanken der Evangelisierung hingegen nahmen sie offenbar auch aufgrund der lokalen Nachfrage Abstand, wie Reeves-Ellington am Beispiel des Umgangs mit mehreren muslimischen Schülerinnen, darunter der späteren Intellektuellen Halide Edip, zeigt, während die Missionsleitung in den USA das Seminar weiterhin als Mittel der Evangelisierung und Ausbildungsstätte für künftige Pastorengattinnen sah. Diese wachsende Kluft zwischen Metropole und Peripherie habe schließlich zur Unabhängigkeit der Einrichtung von der Missionsgesellschaft in Boston geführt.
Insgesamt ist Reeves-Ellington eine ansprechend erzählte Darstellung gelungen, die, obwohl auch sie der Perspektive der Missionare breiten Raum gibt, überzeugend darlegt, wie wenig die isolationistische Perspektive der älteren Forschung zu Mission und Kolonialismus aufrechtzuerhalten ist. In zwei von fünf Kapiteln werden in größerem Umfang bulgarische Quellen und Literatur berücksichtigt und die Perspektiven der bulgarischen Akteure, ihre Kritik und Aneignungsbestrebungen einbezogen. Dass die Begegnung vor Ort nicht nur Dynamiken in Gang setzte, die sich der Kontrolle der Missionare entzogen, sondern dass diese auch unweigerlich auf die Mission zurückwirkten, hätte noch stärker herausgearbeitet werden können. Dennoch zeigt Reeves-Ellington eindrücklich, dass Mission keineswegs als ein einseitiger Prozess kulturellen Transfers oder als reibungslose Kommunikation zwischen Metropole und Peripherie zu betrachten ist. Zudem verdeutlicht ihre Analyse den zentralen Stellenwert der Kategorie gender in globalen kulturellen Transformationsprozessen seit dem 19. Jahrhundert All dies macht ihre Monographie zu einem bereichernden Beitrag nicht zur Geschichte missionarischer Begegnungen, sondern auch zur transnationalen und Globalgeschichte.