Verwissenschaftlichung, Ordnung und „Engineering“ des Sozialen

Reinecke, Christiane; Mergel, Thomas (Hrsg.): Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 2012 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-39787-0 374 S., 9 SW- und 4 Farbabb. € 39,90

Brückweh, Kerstin; Schumann, Dirk; Wetzell, Richard F.; Ziemann, Benjamin (Hrsg.): Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980. Basingstoke 2012 : Palgrave Macmillan, ISBN 978-0230279070 336 S., 8 SW-Abb., 1 Tabelle £ 65.00 / $ 95.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Kuchenbuch, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Als Lutz Raphael 1996 in „Geschichte und Gesellschaft“ einen Aufsatz zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ veröffentlichte1, ging er wohl nicht davon aus, dass er damit das Stichwort für einen kleinen Forschungsboom liefern würde: Die verstärkten Interferenzen von Wissenschaft und Politik, allgemein der Bedeutungsgewinn von Expertenwissen für Praktiken des Regulierens und Regierens von Gesellschaften werden inzwischen als Strukturmerkmale des späten 19. und des 20. Jahrhunderts gehandelt, die Regionen und politische Systeme übergreifen.2 Raphael plädierte aber nicht nur dafür, einem zuvor übersehenen historischen Phänomen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Es ging ihm auch darum, die Sozialgeschichte für die Historizität des sozialwissenschaftlichen Datenmaterials zu sensibilisieren, das ihren Analysen zu Grunde liegt. Er riet zur Einbeziehung von Methoden der Historischen Semantik, von ideen- und begriffsgeschichtlichen Ansätzen. Es tut der Qualität des Aufsatzes keinen Abbruch, dass man ihn inzwischen als historiografiegeschichtliche Quelle lesen kann: Er zeugt von der Einsicht, dass auch die Sozialgeschichte ein Produkt der Verwissenschaftlichung des Sozialen ist, und das weist ihn klar als Produkt jenes Abschnitts des 20. Jahrhunderts aus, mit dessen Frühphase sich die Zeithistoriker inzwischen vermehrt beschäftigen – der Epoche „nach dem Boom“.

Die „Herausforderungen“ der Kulturgeschichte, die Raphael implizit aufgriff, waren auch als Kritik am „technokratischen Zugriff“ (Hans Medick) gemeint, den die Historische Sozialwissenschaft durch ihr Theoriedesign zu reproduzieren schien. Zwei der Herausgeber der beiden hier zu besprechenden Sammelbände haben jüngst darauf hingewiesen, dass die bundesrepublikanische Sozialgeschichte viele normative, modernisierungstheoretisch geprägte Ziele mit der Wohlfahrtspolitik der Nachkriegsjahrzehnte teilte. Bis tief hinein in ihre Heuristik zog sich die „Romanze“ mit der empirischen Sozialforschung – sozialwissenschaftliche Daten wurden zur historischen Fakten.3 Will man den Unterschied zwischen den vorliegenden Bänden auf eine Formel bringen, dann besteht er in der Konsequenz, mit der auf diese Feststellung reagiert wird. „Engineering Society“ entspringt einem Interesse an der Verwissenschaftlichung des Sozialen als einem historischen Makroprozess. „Das Soziale ordnen“ zeigt sich dagegen stärker von Raphaels methodologischer Anregung geprägt: Das Buch befasst sich mit der Historizität der Diagnoseinstrumente, die Interventionen ins Soziale erst nötig erscheinen ließen, mit medialen Vergegenständlichungen des Sozialen als „geordneter Wirklichkeit“ und der Funktion dieser Vergegenständlichungen für die „Verständigung sozialer Gruppen über sich selbst“ (so Thomas Mergel und Christiane Reinecke in ihrer konzisen Einleitung, S. 8).

„Engineering Society“ zeigt, wie viel sich seit Mitte der 1990er-Jahre getan hat. Die Beiträge bewegen sich alle dahingehend auf der Höhe der Forschung, dass sie sensibel sind für die Komplementarität der Politisierung der Wissenschaft und der Verwissenschaftlichung der Politik. Sie sind zudem empfänglich für die Kontingenz und Komplexität, aber auch für die Fragilität der jeweiligen Allianzen zwischen Journalisten, Politikern, Mitarbeitern in Behörden, Wissenschaftlern, Unternehmen, die die Anwendung von Expertenwissen durchsetzten – und für die damit verbundenen Konflikte. Begrüßenswert ist vor allem die geografische Breite, in der das veranschaulicht wird. So vergleicht Julia Moses den Prozess der Verrechtlichung von Arbeitsunfällen und -risiken in Großbritannien, Deutschland und Italien zwischen 1870 und 1920 – und die Rolle, die die Statistik dabei spielte –, während Emil Walter-Busch den Implementierungsgrad angewandter Sozialforschung in den USA und der Schweiz für die 1930er- bis 1960er-Jahre untersucht. Immerhin ein Beitrag, Martin Lengwilers Analyse der Bedeutung von Expertenwissen im International Congress of Actuaries und der International Labour Organization, befasst sich dezidiert mit supranationalen Organisationen. Vor allem widmen sich mehrere Autoren Ländern, die in der deutschen Geschichtswissenschaft oft zu kurz kommen: Harry Oosterhuis befasst sich mit der Rolle psychotherapeutischer Expertise für die Definition und Formung niederländischer „Citizenship“ in der Nachkriegszeit; Thomas Etzemüller beleuchtet am Beispiel Alva und Gunnar Myrdals die Spezifika des „Social Engineering“ im sozialdemokratischen Schweden. Till Kösslers Aufsatz zur Adaption wissenschaftlichen Wissens über die Kindheit durch politisch verfeindete Lager im Spanien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts macht klar, dass der wissenschaftsgestützte Interventionismus nicht selten transnationalen Beobachtungsverhältnissen entsprang, in diesem Fall einem innerspanischen Rückständigkeitsdiskurs.

Es ist eine Stärke des Bandes, dass er die Heterogenität der Akteure und Institutionen verdeutlicht, die in Verwissenschaftlichungsprozesse involviert waren. Psychotherapeuten, Versicherungsmathematiker, Kriminologen, Marktforscher und Unternehmensberater begegnen dem Leser, sogar Kirchenvertreter. Benjamin Ziemanns und Chris Dols Analyse der Adaption organisationssoziologischen Wissens durch katholische Kirchenreformer in der Bundesrepublik und in den Niederlanden zeigt zudem eindringlich, dass Expertenwissen über den Menschen und das Soziale fast immer „contested knowledge“ war – in diesem Fall konfligierte es mit theologischen Dogmen.

Angesichts der Qualität der Einzelbeiträge in „Engineering Society“ ist es schade, dass sich die Herausgeber in ihrer Einleitung nicht zwischen Systematisierungsversuch und Inhaltsüberblick entscheiden können. Ohnehin bleibt vage, ob der Band – er ist aus einer Tagung am „Humanities Research Institute“ der University of Sheffield hervorgegangen4 – eher aktuelle Forschungsprojekte präsentieren oder eine Zwischenbilanz der Forschung zum humanwissenschaftlichen Interventionismus darstellen soll. Manche Beiträge sind Fallstudien, andere fassen ganze Monografien aus großer Flughöhe zusammen. Das lässt die Auswahl willkürlich erscheinen: Wenn ein Überblick angestrebt wurde, warum gibt es dann jeweils zwei Aufsätze zur Sozialpsychologie und zum Umfragewesen, aber keinen beispielsweise zur Eugenik, zum „Testing“ von Personal oder zu makroökonomischer Expertise? Das Buch ist nicht frei von Redundanzen, und die Einleitung nimmt einfach zu viel vorweg; so paraphrasiert sie teils den ihr folgenden Beitrag Lutz Raphaels.

Dieser liefert einen Literaturbericht zur Verwissenschaftlichungsforschung und benennt Desiderata: Meist würden diskursgeschichtliche Zugänge gewählt, seltener dagegen werde die konkrete Praxis der Experten angesehen, die Erprobung ihrer Instrumente in spezifischen Kontexten und die Routinisierung ihrer Handlungsweisen. Auch die Interessen ihrer Klienten und die Widerstände der Betroffenen blieben oft unterbelichtet. Raphael stellt aber auch einen stark typologisierenden Periodisierungsvorschlag zur Debatte. Er definiert vier „Konfigurationen“ der Verwissenschaftlichung des Sozialen, die ich hier nur vergröbert darstellen kann: Diese habe mit der Sozialreform der Jahre 1880–1910 begonnen, die Kritik am Laissez-faire des Liberalismus übte und stark von der „sozialen Frage“ angetrieben war. Ihr sei das gemeinschaftsbezogene „Social Engineering“ der Jahre bis 1945 gefolgt, das wissenschaftsgestützte Interventionen vor allem zur Stabilisierung des vermeintlich bedrohten sozialen Zusammenhalts der jeweiligen Bevölkerung vornahm. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten sei die Verwissenschaftlichung dann optimistisch geworden; die Jahre bis circa 1970 sieht Raphael geprägt von makroökonomisch untermauerten Modernisierungsanstrengungen. Zuletzt sei das „Age of Therapy“ gefolgt, in dem sich vor allem die Klientel der Spezialisten erweitert habe: Expertise wurde zum individuellen Beratungsangebot. Überhaupt konstatiert Raphael eine verstärkte Fokussierung sozial- und humanwissenschaftlichen Wissens aufs „Selbst“, die mit einer antietatistischen Deregulierungskonjunktur korrespondierte.

Raphaels Anregungen sind den Beiträgen fast als Devise vorangestellt. Mehr als ein Aufsatz arbeitet sich aber auch an Nikolas Roses Überlegungen zur „gouvernementalen“ „Regierung der Seele“ im 20. Jahrhundert ab: Rose postuliert, nach 1945 sei unter Mithilfe der „Psy“-Wissenschaften eine Internalisierung bestimmter Aktivitäts- und Flexibilitätsnormen erfolgt, die mit einer (neo)liberalen Selbstverantwortlichkeitsideologie in Verbindung gestanden habe.5 Vor allem Mathew Thomson kritisiert diese Generalisierung in einem Beitrag, der zeigt, wie uneinheitlich, konfliktdurchsetzt und für heutige Begriffe auch wenig wissenschaftlich die britische Psy-Landschaft lange war. Und er macht sich ausgehend von dieser Feststellung Gedanken über die Leitbegriffe des Bandes. Der Prozessbegriff „Scientization“ sei im englischen Sprachgebrauch nicht nur unbequem, er suggeriere auch eine Linearität, die den Blick auf Misserfolge und Konkurrenzen der Experten verstelle. Die Metapher „Engineering“ berge die Gefahr, dass man die Popularisierung und Diffusion wissenschaftlichen Wissens aus dem Blick verliere, obwohl gerade „bottom-up“-Prozesse äußerst bedeutsam gewesen seien – zum Beispiel bei der Verbreitung der Psychotherapie. Man könnte noch weiter gehen und fragen, ob nicht die Unterscheidung zwischen Spezialisten und Betroffenen selbst ein Effekt sozialwissenschaftlicher Zuschreibungen ist. „Betroffenheit“ ist zudem eine Kategorie, die Akteure im eigenen Interesse strategisch einsetzen konnten. An dieser Stelle ist anzumerken, dass man sich manchmal etwas mehr begriffsgeschichtliche Reflexion gewünscht hätte, etwa was die Wörter „social“ und „society“ anbelangt: Wenn die Einleitung die Untersuchung der „application of social scientific knowledge in various social fields“ als Ziel nennt (S. 2), dann hat das etwas Tautologisches, selbst wenn man nicht so weit gehen will, das Soziale – etwa mit Bruno Latour – selbst als ein Artefakt der modernen Sozialwissenschaften zu betrachten.

Die theoretischen Vorüberlegungen der Einleitung wirken generell etwas lustlos: Da wird Niklas Luhmann bemüht, der auf die Eigenlogiken gesellschaftlicher Subsysteme und die „Translationen“ zwischen ihnen aufmerksam mache. Michel Foucaults Gouvernementalitätskonzept gegenüber ist man, wie Thomson, eher skeptisch. Es fällt aber auf, dass dieses in einigen Beiträgen zumindest unterschwellig auftaucht, bei Etzemüller und Oosterhuis etwa, und mehr noch in den Aufsätzen, die sich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts befassen: Elizabeth Lunbecks lesenswerter Beitrag zur Kritik am zunehmenden Narzissmus in den USA seit den 1970er-Jahren hat mit Sozialtechnologie wenig zu tun, aber umso mehr mit der Entdeckung des „Selbst“ in der „Me-Decade“. Er ragt zudem aus dem Zeitraum 1880–1980 hinaus, ebenso wie Peter Beckers nicht minder anregende Auseinandersetzung mit dem Einfluss der Neurowissenschaften auf den kriminologischen Diskurs in der jüngeren Vergangenheit. Benjamin Ziemann und Anja Kruke befassen sich mit dem Bedeutungszuwachs der Meinungsforschung in der Bundesrepublik und bemühen dabei Jürgen Links Theorie des „flexiblen Normalismus“. Diese hebt darauf ab, dass massenmedial verbreitete statistische Verdatungen der Normalverteilung von Lebensstilen, Normen, Wünschen etc. ihren Rezipienten zunehmend zur persönlichen Orientierung dienen – bis heute. Dieses Wissen fungiert mithin als (nicht selten kommodifiziertes) Interpretationsangebot für die „Subjektivierung“. Mit einem ingenieurhaft-expertokratischen „Engineering“ hat das wenig zu tun.

Vielleicht ist überhaupt „Ordnung“ der bessere Begriff? Schon der Titel des zweiten zu besprechenden Sammelbands spielt mit dem schillernden Sinngehalt des Ausdrucks – er kann intervenierende Praktiken genauso meinen wie klassifizierende Sinnstiftungsoperationen. „Das Soziale ordnen“ ist weniger breit angelegt als „Engineering Society“. Die Beiträge befassen sich in erster Linie mit sozialwissenschaftlichem Wissen über gesellschaftliche Ungleichheit. Anders als „Engineering Society“ eignet sich der Band kaum als Einführungslektüre; er liefert kein Panorama der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“, sondern versammelt Fallstudien. Hervorgegangen ist das Buch aus einem Workshop des Sonderforschungsbereichs 640 „Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Der Topos „Ungleichheit“ bietet sich an, weil er chronisch definitionsbedürftig ist. Fast immer sind Modelle gesellschaftlicher Stratifizierung multidimensional; sie sind komplexe Produkte wissenschaftlicher Praxis und als solche höchst vermittlungsbedürftig. Das zeigt Nicole Kramers Beitrag zur Entdeckung des Alter(n)s als sozialwissenschaftliches und politisches Problem in Großbritannien und der Bundesrepublik, oder, sehr gelungen, Cornelius Torps Analyse des Wandels der Definition von Altersarmut im Großbritannien der Zwischen- und Nachkriegszeit, der veränderten Datenerhebungstechniken entsprang. Wechselwirkungen zwischen Erhebungspraktiken und kollektiven Selbstdiagnosen nimmt ebenso Johanna A. Brumberg in den Blick: Sie rekonstruiert, wie das Prozedere des U.S. Census Bureau mit der Entdeckung des Babybooms um 1940 zusammenhing. Auch Christiane Reinecke widmet sich veränderlichen Techniken der Verdatung der Wirklichkeit, und zwar am Beispiel des „Mappings“ sozialer Ungleichheit im städtischen Raum der Bundesrepublik. Sie konstatiert eine Verschiebung von der Vergemeinschaftungsemphase der 1950er-Jahre (enge lokale Bindungen galten als erstrebenswert) zur Mobilitätsemphase der 1960er- und 1970er-Jahre (Ortsgebundenheit wurde nun als Benachteiligungs- und Segregationsfaktor verstanden).

„Das Soziale ordnen“ ist länderübergreifend angelegt. Teils wird verglichen, teils werden Transfer- und Adaptionsprozesse analysiert, und zwar zwischen den USA, Großbritannien und der Bundesrepublik. Reet Tamme etwa befasst sich mit der (von amerikanischen Theorien geprägten) britischen „Race-Relations“-Forschung und -gesetzgebung der 1960er-Jahre. Thomas Mergel steuert außerdem einen Aufsatz zur DDR-Ungleichheitsforschung bei, die vor dem Problem stand, dass die Analyse sozialer Schichtung und individueller sozialer Mobilität kaum zu vereinbaren war mit der politischen Ideologie eines Staats, dessen Bürger gewissermaßen per Dekret „gleich“ waren. Manche Sozialwissenschaftler versuchten zwar, „westliche“ Ansätze auf die DDR-Verhältnisse umzumodeln; allerdings verschwanden solche Studien meist in den Schubladen der verantwortlichen Kader. Mergel verdeutlicht also, dass die Verwissenschaftlichung des Sozialen unter den Bedingungen des Ausschlusses der Zivilgesellschaft völlig andere Formen annahm. Er zeigt ex negativo einmal mehr, dass der reflexive Charakter sozialwissenschaftlichen Wissens in den kapitalistisch-demokratischen Ländern Effekt komplexer Aushandlungen zwischen Öffentlichkeit/Medien, Politik und Wissenschaft war.

In „Das Soziale ordnen“ überzeugen entsprechend vor allem Beiträge, die sich den diskursiven Praktiken der Vermittlung von Handlungsbedarf und Lösungskompetenz mit Blick aufs Soziale widmen – und zwar in ihrer Wechselwirkung mit der Entstehung wissenschaftlichen Wissens. Eva Barlösius’ Analyse westdeutscher und amerikanischer Visualisierungen der jeweiligen Sozialstruktur zeigt zum Beispiel, wie solche Repräsentationen von Gesellschaft diese mal eher statisch schichtungstheoretisch, mal als Summe individueller Positionierungen erscheinen ließen, wobei letzteres stärker die Möglichkeit des sozialen Aufstieg durch Leistung verhieß. Barlösius belegt zudem, dass die amerikanischen „Social Stratification“-Poster in den 1990er-Jahren auf neue, „intersektionale“ Konzepte reagierten, also begannen, die realitätskonstituierende Wirkung sozialwissenschaftlicher Kategorisierungen mitzureflektierten. Andere Beiträge verdeutlichen aber auch, dass Anwendungsorientierung und Popularisierung sich nicht einfach als ein Kontinuum darstellen lassen. Das Verhältnis ist komplexer: Die „Bildabstinenz“ der deutschen Soziologie, die allenfalls semi-ikonische Formen (wie Diagramme) duldete, fungierte als Wissenschaftlichkeitsausweis – so Felix Keller. Erzählende Zeigesysteme, aber auch die Fotografie, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts verdrängt; der „Ikonoklasmus“ diente dem Schutz des behaupteten epistemologischen Kerns der Soziologie: der Formalisier- und Quantifizierbarkeit ihres Gegenstands.

Wie weitermachen? Es ist erfreulich, wie selbstverständlich in beiden Bänden transnationale und transferanalytische Perspektiven eingenommen werden (an „Engineering Society“ ist auch die Internationalität der Autoren hervorzuheben). Manchmal hätte deutlicher das Problem benannt werden können, das entsteht, wenn nationale Traditionen zum Explanandum verschiedener Varianten des sozialtechnologischen Interventionismus werden. Nicht nur läuft man so Gefahr, Klischees zu reifizieren; man übersieht auch leicht, dass grenzüberschreitende sozialwissenschaftliche und -politische Beobachtungsverhältnisse zur wechselseitigen Verstärkung von Wohlfahrtspolitik und Nationalisierung beitragen konnten – ein interessantes Forschungsfeld.

Lutz Raphaels Anregung, die Expertenpraxis und ihre Folgen genauer zu untersuchen, halte ich ebenfalls für wichtig. Allerdings ist das methodische, wenn nicht quellenkritische Problem weiterhin ungelöst, vor dem man dann steht. Wo man die Diskursebene verlassen und die lebensweltlichen oder makrostrukturellen Effekte der Verwissenschaftlichung des Sozialen beschreiben will, läuft man oft Gefahr, just auf die Kategorien zurückzugreifen, die diese Verwissenschaftlichung selbst hervorgebracht hat. Der bloße Hinweis auf die Vorzüge von Methodenpluralismus und Multiperspektivität hilft hier nicht weiter. „Das Soziale ordnen“ zeigt, dass das Thema der Vermittlung sozial- bzw. humanwissenschaftlichen Wissens durchaus noch nicht ausgeforscht ist. Es erscheint mir sinnvoll, sich mit den Dynamiken zu befassen, die die Übersetzung dieses Wissens in öffentlichkeitswirksame Appelle, in politische Programme auslöste – und andersherum. Vielleicht ist das sogar ein Weg, die „Praxis“ in den Blick zu bekommen? Keiner der beiden Bände thematisiert das jeweilige Coverbild. Im einen Fall handelt es sich um ein Werbefoto des Census Bureau – Männer in Hemdsärmeln beugen sich über eine Karte –, im anderen Fall um eine Nahaufnahme von einem Eignungstest der Wiener Arbeitsgemeinschaft für Psychotechnik. Der Habitus der Sachlichkeit, den solche Abbildungen inszenieren, ist noch nicht ausreichend untersucht, zumal in geschlechtergeschichtlicher Hinsicht. Auch die Zäsurfrage könnte man stellen, wenn man dies näher analysiert: In den 1970er-Jahren wurde die Kritik am Ideologiegehalt wissenschaftsgenerierter Bilder lauter, es sollte Medienkompetenz trainiert werden. Die Wirkung, die diese Gegenexpertise wiederum auf die Routinen der Experten zeitigte, für ein neues, anwalt- oder partnerschaftliches Selbstverständnis oder das Ziel, einen „informed consent“ herzustellen, ist ein spannendes Forschungsthema.

Schließlich ist zu hoffen, dass die Verwissenschaftlichungsforschung sich globalgeschichtlich erweitert. Insbesondere Entwicklungshilfe und -zusammenarbeit sind naheliegende Themen. Dabei gilt es, nicht in Vorstellungen asymmetrischer Beeinflussung zurückzufallen, sondern offen zu bleiben für die Komplexität von Austauschverhältnissen. Es wäre beispielsweise interessant zu fragen, ob das Scheitern der Entwicklungshilfe den Legitimationsgrund sozial- und humanwissenschaftlichen Anwendungswissens nicht auch in den „westlichen“ Ländern hat erodieren lassen: nicht zuletzt, weil Ziele wie die Herstellung gleicher Lebensbedingungen nur schwer mit der Vielfalt ihrer kulturellen Implementierungskontexte in Übereinstimmung zu bringen waren. Das ließ auch in der „Ersten Welt“ deutlich werden, dass man es bei der Modernisierung mit einem lokalen Sinnstiftungsmuster zu tun hatte – und diese Erkenntnis hängt wiederum mit dem kulturgeschichtlichen „Relativismus“ zusammen, der die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ erst zum Forschungsthema gemacht hat.

Anmerkungen:
1 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.
2 Vgl. etwa die Beiträge in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009 (rezensiert von Christian Geulen, 20.01. 2010: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2010-1-044> [03.02.2013]). Das Strukturmerkmal der Verwissenschaftlichung wird auch bei Versuchen thematisiert, die multiplen Modernen zu verstehen: Vgl. Lutz Raphael (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert. Unter Mitarbeit von Clelia Caruso, Köln 2012 (rezensiert von Christian Geulen, 31.05.2012: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2012-2-150> [03.02.2013]).
3 Vgl. Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und Empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum Ende einer Romanze, in: Pascal Maeder / Barbara Lüthi / Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Mooser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 131–149; sowie die Einleitung der Herausgeber ebd., S. 7–24.
4 Vgl. Jochen F. Mayer, Tagungsbericht Engineering Society: The Scientization of the Social in Comparative Perspective, 1880–1990. 20.11.2008–22.11.2008, Sheffield, UK, in: H-Soz-u-Kult, 31.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2502> (3.2.2013).
5 Siehe v.a. Nikolas Rose, Governing the Soul. The Shaping of the Private Self, London 1990, 2. Aufl. 1999.