In der Fachzeitschrift „Medien & Kommunikationswissenschaft“ konnte man unlängst in der – ebenso verdienstvollen wie traditionsfördernden – Reihe „Klassiker der Kommunikations- und Medienwissenschaft heute“ einen Beitrag über Max Weber lesen.1 Allein schon der Umfang und das opulente Literaturverzeichnis mussten Staunen erregen; noch mehr aber der Name des Autors: Siegfried Weischenberg. Den Hamburger Kommunikationswissenschaftler und Soziologen hätte man mit einer solchen Thematik nicht zwingend in Verbindung gebracht. Dabei waren diese gut zwanzig Seiten nur die Ouvertüre zu einer voluminösen wissenschaftsgeschichtlichen Monografie, die als singulär zu bezeichnen ist. Mit dem Begriff „Fachgeschichte“ verengt der Untertitel ungeschickterweise, was das Buch tatsächlich leistet: eine geradezu enzyklopädische Darstellung und Analyse des bis heute fortwirkenden Werkes Max Webers mit dem Akzent auf seiner – Fragment gebliebenen – Mediensoziologie.
Wie er in der Vorbemerkung schreibt, wollte sich Weischenberg durch die Lektüre einiger wichtiger Weber-Texte eigentlich nur für einen kleinen Aufsatz über die Presse-Enquête in Stimmung bringen. Daraus aber wurde eine über Jahre sich ausdehnende Faszination am Original und an der inflationären Sekundärliteratur, die weltweit von einer förmlichen, in diverse Schulen sich abschottenden „Weber-Forschung“ produziert wurde und wird. Zu diesen Weber-Exegeten möchte sich Weischenberg nicht zählen. Seine Originalität macht dagegen aus, dass die Soziologie mit dem von Max Weber so zentral eingeschätzten Thema „Medien“ nie viel anfangen konnte und eine Forschungslücke ließ. Dieser gelten zwei der vier Kapitel.
In „Das Medienprojekt und sein Scheitern“ (S. 78–164) wird auf Basis der guten Forschungslage (von Autorinnen und Autoren wie Stefanie Averbeck, Anthony R. Oberschall, Arnulf Kutsch, Rainer M. Lepsius und vielen anderen mehr) die Beschäftigung Webers mit dem Thema Medien in allen wünschenswerten Details dokumentiert. Dabei wird deutlich, als wie anregungsreich die wenigen einschlägigen Texte von Max Weber – jenseits seines eigenen Scheiterns – sich bis heute erwiesen haben und welche Rezeption sie da und dort fanden. Folgenreicher aber waren die Versäumnisse, was Elisabeth Noelle-Neumann einmal eine für die Sozialforschung in Deutschland „tragische“ Entwicklung genannt hat. Wenn man bedenkt, dass dies alles Ideen waren, die vor hundert Jahren fixiert wurden, so wird einem zum wiederholten Male schmerzlich klar, welch lange, intellektuell ärmliche Phasen die Kommunikationswissenschaft in Deutschland durchlaufen hat, bis sie endlich vor einigen Jahrzehnten mit anderen vergleichbaren Disziplinen satisfaktionsfähig wurde.
Das abschließende Kapitel, mit 125 Seiten am umfänglichsten, fokussiert auf „Max Weber und andere (Medien-)Soziologen“. In immer neuen Anläufen insistiert Weischenberg auf den beiden Fragen, die ihn überhaupt zur so extensiven Auseinandersetzung mit Max Weber und den Folgen motiviert haben: „Warum hat sich die Soziologie beim Thema ‚Massenmedien‘ als so impotent erwiesen? Und warum hat die fachlich zuständige Zeitungswissenschaft/ Kommunikationswissenschaft ihre eigenen Wurzeln (empirische Medien- und Journalismusforschung/Journalistik) jahrzehntelang ignoriert?“ (S. 274) Verglichen mit diesen sachlich einschlägigen Kapiteln wirken der erste („Max Weber und die Pathologien der Moderne“) und der dritte Teil („Wissenschaftslehre und wissenschaftliches Erbe“) wie die Selbstvergewisserungen eines spät berufenen Weber-Forschers, der der einschlägigen Scientific Community seine Kompetenz beweisen will. Dafür stehen nicht nur 27 eng bedruckte Seiten „Literatur“, sondern auch die Souveränität und Argumentationslust, mit der er sich durch hundert Jahre Ideen- und Wissenschaftsgeschichte bewegt.
Insgesamt ist das – von der ja nicht einfachen Lektüre der Originale Max Webers einmal abgesehen – allein schon als Leseleistung imponierend. Alle Bewunderung aber verdient die einen langen Atem verratende Darstellungs- und Schreibleistung. Man liest die 400 Seiten dieses großformatigen Buches zwar – naturgemäß – nicht unangestrengt, aber doch fasziniert. Mit einem oft geradezu erzählerischen Duktus, sprechenden Zitaten, Assoziationen kultureller Bildung, munteren Polemiken, lockeren Formulierungen und einer jargonlosen Sprache bereitet Weischenbergs Buch eindeutig mehr Vergnügen als die real existierende, gängige Fachprosa. So nimmt man Teil an einer Synthese großer Stoffmassen, erfreut sich an detailversessenen, faktenintensiven Anmerkungen, dem Assoziationsreichtum geistiger Bezüge, der Kennerschaft in der Kontextualisierung, den wissenssoziologischen Tiefenbohrungen, aber auch dem bezeichnenden Klatsch, der sich in diversen Briefwechseln findet. Gelegentlich darf man sogar schmunzeln ob der sympathischen Selbstverliebtheit, mit der der Autor manchen Quellenfund oder sein stupendes Wissen ausbreitet.
Für wen hat Siegfried Weischenberg dieses inhaltsreiche Werk geschrieben? Gewiss zunächst einmal für sich selbst. Denn auf ein solches wissenschaftsgeschichtliches Abenteuer lässt unsereins sich nicht ein, wenn man dafür nicht sehr persönliche Gründe und auch Spaß an der Sache hat. Aber ein solches Resultat kommt, wenn es so brillant gelungen ist, erst recht anderen zugute; hier – so meine ich – vor allem den jüngeren Generationen in den Sozialwissenschaften. Die Lektüre vermittelt ihnen einen ganzen Kosmos von Ideen und Entwicklungen zu Max Weber und seiner Rezeption. Sie dokumentiert so ziemlich alle Schlüsselzitate nicht nur des Protagonisten, sondern auch zum Beispiel von Karl Bücher, Otto Groth, Niklas Luhmann oder Pierre Bourdieu. Damit vermittelt das Buch auch die weitere sozialwissenschaftliche Fachgeschichte, die Jahrzehnte des Denkens und Streitens in einer souveränen Synthese nachzuvollziehen erlaubt.
So groß die Fülle der rezipierten Literatur ist, einen Wissenschaftler und sein Werk hat Weischenberg übersehen – und damit fatalerweise den einzigen genuinen Weberianer, der sich in die Fachgeschichte eingeschrieben hat: Bernd M. Aswerus (1909–1979). Im Kapitel „2.1 Presse-Enquête und Zeitungskunde“ gerät er mit dem Verweis auf die „Münchener Schule“ zwar auf die richtige Spur. Weischenberg verliert sie aber gleich wieder, weil er es unbegründet findet, dass diese Max Weber als ihren Ahnherrn reklamiert. In der Tat aber führt der Weg nicht über Otto Groth (worauf genau eingegangen wird), sondern über die Münchner Dissertation des spätberufenen Philosophiestudenten (und Angehörigen des Franziskanerordens, 1949 Student der Publizistik in Münster) Aswerus, die dieser 1955 bei dem Philosophen Alois Dempf (1891–1982) vorlegte.2 Bevor es zum endgültigen Titel kam, sprach er gelegentlich davon, dass er an einem Werk des Titels „Max Weber und die Zeitung“ arbeite. Seine erste einschlägige Fachveröffentlichung erschien schon zwei Jahre früher. Ihm folgten zwar nur wenige, aber wissenschaftlich äußerst dichte, anregungsreiche, verstreut erschienene Texte (zwei davon immerhin in den Jahrgängen 1960 und 1961 der „Publizistik“). Mit dem Sommer 1959 nahm er für einige Semester – gefördert von Hanns Braun (1893–1966) und Heinz Starkulla (1922–2005) - einen Lehrauftrag am Münchner Institut wahr. Dem damaligen Hörer ruft die Lektüre von Weischenbergs Buch über ein halbes Jahrhundert später in Erinnerung, dass der Name Max Weber in diesen Vorlesungen omnipräsent war. Peter Glotz hat später bekannt, dass er seine radikale Strategie des Dialoges, die er als Politiker gegen alle Angriffe leidenschaftlich praktizierte, in diesen Lehrveranstaltungen erlernt habe. München blieb für Aswerus eine kurze Zwischenstation, dem Fach ein Geheimtipp – offensichtlich bis heute. Immerhin: Hans Wagner hat Jahrzehnte später in einer sorgfältig kommentierten Edition dieses schmale Werk wieder zugänglich gemacht.3 Darin weist er im Detail nach, dass Aswerus methodisch, theoretisch und historisch dem damals Zeitungs- und heute Kommunikationswissenschaft genannten Fach eine weberianische Grundlage gegeben hat, deren mangelnde Rezeption zu den großen fachgeschichtlichen Versäumnissen gehörte und noch gehört. Gerade darum löst es richtiggehende Frustration aus, wenn man auf Weischenbergs Kennerschaft und Formulierungsfreude der gewiss spannenden Auseinandersetzung mit diesem so originellen Theoretiker des Faches in dezidierter Webernachfolge verzichten muss, die doch so zentral zur Thematik seines Buches gehört.
Unbeschadet dieser bedauerlichen Lücke, unbeschadet auch mancher möglichen Detailkritik (zum Beispiel der wenig informierten Berücksichtigung von Paul F. Lazarsfeld, der unsensiblen Einschätzung von Otto Groth, der Ablehnung gegenüber den Leistungen von Elisabeth Noelle-Neumann und Horst Holzer) ist dieses Buch ein Wurf – im glücklichsten Falle vielleicht endlich die Initialzündung einer Max-Weber-Renaissance in der Kommunikationswissenschaft, deren Dringlichkeit schon so oft gefordert wurde.
Anmerkungen:
1 Siegfried Weischenberg, Max Weber: „Wirklichkeitswissenschaftler“ und streitbarer Geist, in: Medien & Kommunikationswiisenschaft 60 (2012), Heft 2, S. 262–285.
2 Bernd M. Aswerus, Die geistige Determinante im Kultur-und Sozialgeschehen bei Max Weber; Untersuchung zur Konzentrik der Gedankenkreise Max Webers unter Rücksicht auf den Versuch der Ortung seines Entwurfs einer Soziologie des Zeitungswesens in seinem Gesamtwerk. Inauguraldissertation, München 1955.
3 Bernd M. Aswerus, Vom Zeitgespräch der Gesellschaft. Originaltexte zusammengetragen von Hans Wagner, München 1993.