‚Europa‘ zählt zu den zentralen Themen der historischen Forschung, wenngleich die Vorstellungen und Bilder von Europa je nach Betrachtungsperspektive und Betrachtungszeitraum erheblich variieren. Wo die Grenzen von Europa liegen und was Europa eigentlich ausmacht, ist und bleibt umstritten. Dass diese Diskussionen von hoher Aktualität sind, zeigten jüngst die Osterweiterungsrunden der Europäischen Union. Doch auch die permanente Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt der Türkei wirft seit längerem die Frage nach den Grenzen und Vorstellungen von Europa auf. Diese Vorstellungen von Europa sind – wie Frank Bösch in seinen einleitenden Worten zum hier zu diskutierenden Band schreibt – „das Ergebnis eines komplexen und fortwährenden Aushandlungs- und Verständigungsprozesses, welcher auf unterschiedlichen Ebenen abläuft“ (S. 7). Diesen Verständigungsprozess greift der Band auf, wobei er weniger nach den politischen Konzepten und Entwürfen von Europa fragt als nach den alltäglichen, eher populären Diskursen. Er grenzt sich so von all jenen Arbeiten ab, die Europa institutionell zu erfassen versuchen und damit im Wesentlichen nach der Europäischen Union bzw. der EU-Öffentlichkeit fragen. Die Herausgeber gehen von der These aus, dass Vorstellungen von und über Europa in starkem Maße von „Blicken auf und von der jeweils konstruierten Peripherie“ (S. 8) her geprägt waren. Sie wenden sich also gezielt von einer Forschung ab, die bisher ‚Europabilder‘ eher im europäischen Zentrum, vor allem in Deutschland und Frankreich, zu erfassen versuchte. Dabei wird die Peripherie als variabel verstanden, so dass der Band für ‚Europabilder‘ offen ist, die zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten ganz unterschiedlich gestaltet sein konnten. Wenn von ‚Bildern‘ gesprochen wird, so zielt der Band nicht auf visuelle Repräsentationen ab, sondern auf sprachlich formulierte.
Die insgesamt 12 Einzelbeiträge werden drei Themenblöcken zugeordnet: „Europa als Ergebnis kolonialer Wahrnehmung“, „Europavorstellungen durch transatlantische Perspektiven“ und: „Die Genese Europas aus der Begegnung mit seinen Rändern“. Thematisch weist der Band eine enorme Breite auf, die sich von der praktischen Kooperation europäischer Kolonialverbände, gesellschaftlichen Diskursen über Identitätsbildung durch Abgrenzung in den USA und Europa, der klassischen Zeitungsanalyse über deutsche Segler im Mittelmeer bis hin zu Schulbüchern oder der Unterscheidung europäischer und afrikanischer Körper für medizinische Zugriffe erstreckt. Ausgewogen ist die Verteilung der einzelnen Beiträge über das 19. und 20. Jahrhundert, so dass Wandlungen in den Europabildern nachvollzogen werden können. Zu bedauern ist aber, dass mit dem Radio und dem Fernsehen zwei zentrale Leitmedien, die bei den Diskursen über Europa eine zentrale Rolle spielten, im Band nicht thematisiert werden. Dies kann man aber nicht den Herausgebern ankreiden, die selbst bedauernd darauf verweisen, dass sie für diesen Bereich keine Beiträger gewinnen konnten.
Trotz des innovativen Konzepts des Sammelbands ist dessen Umsetzung teilweise zu bemängeln. Leider fällt mitunter auf, dass der Sammelband aus einer Konferenz hervorgegangen ist, deren inhaltliche Fokussierung breiter angelegt war, die aber insbesondere nicht explizit nach der Peripherie fragte. So verlieren die einzelnen Beiträge bisweilen die übergeordnete Fragestellung nach der Entstehung von Europabildern an der Peripherie etwas aus den Augen. Dies verwundert auch nicht, weil einige Autoren aus laufenden (Dissertations-)Projekten berichten, die eben eine andere Fragestellung verfolgen. Eigentlich setzen sich nur fünf der zwölf Beiträge tatsächlich mit der ‚europäischen Peripherie‘ auseinander, während die Entstehung von ‚Europabildern‘ durch die Auseinandersetzung mit dem eindeutig ‚Nichteuropäischen‘ wesentlich mehr Raum einnimmt. Insofern erscheint auch der Titel des Bandes etwas irreführend und weckt beim Leser Erwartungen, die selbst dann in den einzelnen Beiträgen nicht immer eingelöst werden können, wenn diese eigentlich spannende Facetten der Genese von Europabildern thematisieren. Es wäre wohl passender gewesen von den Grenzregionen und/oder ‚Europa von Außen‘ zu sprechen. Wichtig erscheint in diesem Kontext auch die Anmerkung von Christina Norwig in ihrem Beitrag über junge Reisende in den 1950er-Jahren, dass eben Begriffe wie Peripherie oder Außengrenze selten explizit thematisiert wurden.
Freilich ist es nicht möglich, auf die vielen guten Beiträge individuell einzugehen. Positiv möchte der Rezensent aber den Beitrag von Stefan Nygård über die ‚Visionen und Gebrauchsweisen von Europa in Finnland‘ hervorheben, weil in diesem das eigentliche Leitthema des Bandes besonders überzeugend diskutiert wird. Das Beispiel Finnlands erscheint für eine solche Fragestellung besonders geeignet, weil das Land im Nordosten Europas an jenes Russland grenzt (und bis ins 20. Jahrhundert gar ein Teil von ihm war), dessen Zugehörigkeit zu Europa immer wieder von neuem kontrovers diskutiert wird. Nygård kann für das Beispiel Finnlands – auch aufgrund seiner breiten zeitlichen Herangehensweise – zeigen, welche Schwierigkeiten und Probleme die ‚Peripherie‘ im Umgang mit der Frage nach der Inklusion oder Exklusion von Europa zu meistern hat(te), aber auch welche Chancen die Peripherie für die europäische Selbstverortung bietet. Finnische Identität und finnische Nationsbildungsprozesse waren stets auf die Inklusion in Europa bezogen, weil damit auch die Abgrenzung gegenüber Russland legitimiert werden konnte. Wenn man dabei betrachtet, welch vielschichtige politische, wirtschaftliche und/oder kulturelle ‚Europabilder‘ an der finnischen Peripherie konstruiert wurden, wird deutlich, wie schwierig Europa konzeptionell erfasst werden kann. Je nach Kontext variierten die Bilder von Europa erheblich und resultierten in ganz unterschiedlichen Formen der Inklusion bzw. Exklusion der Staaten an der Außengrenze Europas. Kulturell, wirtschaftlich oder (sicherheits)politisch überlappten oftmals verschiedene Europabilder bzw. wurden für unterschiedliche Vorstellungen von Europa, einzelnen (seiner) Nationen und (seiner) Regionen instrumentalisiert.
Insgesamt kann der Rezensent den abwechslungsreichen Sammelband – trotz einzelner kritischer Anmerkungen – uneingeschränkt zum Lesen empfehlen. Besonders interessant empfand er die Auseinandersetzung mit Europabildern auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen. Hier bringt der Band eine Reihe spannender und in der bisherigen Forschung eher selten thematisierter Aspekte ein, welche der historischen Forschung wichtige Impulse geben können.