Arbeiten zu Gelehrsamkeit und gelehrter Praxis in der Frühen Neuzeit erfreuen sich seit einigen Jahren größerer Beliebtheit. Freilich liegen gerade in der deutschen Forschung die Schwerpunkte deutlich auf dem protestantischen Bereich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts; als die „großen Vermittler“ in der Gelehrtenrepublik galten ohnehin vorrangig westeuropäische Persönlichkeiten vor 1750.1 Auch die italienische Forschung folgte weitgehend diesem Schema und ließ ihre Darstellungen häufig mit dem Pontifikat Benedikts XIV. (1740–1758) enden.2 Die hier vorzustellende Augsburger Dissertation von Maria Stuiber gehört zu den wenigen Arbeiten, die den Blick weiten und damit vor Vorurteilen bewahren können: Auch im katholischen Italien und auch im späten 18. Jahrhundert gab es die Respublica literaria, waren ihre Mechanismen keineswegs abgeschafft. An der Figur des heute weitgehend unbekannten Kardinals Stefano Borgia lässt sich dies eindrücklich zeigen.
Stefano Borgia – nicht verwandt mit den „spanischen Borgia“, der Familie Alexanders VI. – kann als „durchschnittlicher“ Kardinal und Gelehrter gelten: Er war keiner der besonders Mächtigen an der Kurie, aber auch niemand, dessen Wort kein Gewicht gehabt hätte; er war auch kein überragend produktiver oder innovativer Gelehrter, aber in der Gelehrtenrepublik keineswegs untätig; seine Korrespondenz ist gemessen an der Zahl der Korrespondenten guter Durchschnitt, liegt gemessen an den erhaltenen Briefen aber eher unter dem Durchschnitt des 18. Jahrhunderts. Warum sich also mit einem höchst durchschnittlichen Gelehrten beschäftigen? Die durch Stuibers Studie gegebene Antwort ist so einfach wie einleuchtend: weil sich gerade anhand seines Briefwechsels das „Normale“ und „Typische“ an gelehrten Korrespondenzen der zweiten Jahrhunderthälfte aufzeigen, sich mit anderen Worten darlegen lässt, wie das Distanzmedium Brief „funktionierte“ und eingesetzt wurde. Und es darf ergänzt werden: weil die Überlieferungssituation es erlaubt – anders als bei vielen anderen römischen und italienischen Gelehrten.
Die Annäherung an das Thema erfolgt zunächst über eine aus zeitgenössischen und späteren Quellen schöpfende Begriffsgeschichte, mittels derer die Verfasserin die Wortfelder „Brief“ und „gelehrt“ im Deutschen und Italienischen analysiert und zu einem pragmatischen und weiten Begriff von „gelehrtem Brief“ für die eigene Arbeit kommt: Sie versteht hierunter Briefe, die sowohl gelehrte Abhandlungen wie auch nova literaria oder den Dank für ein empfangenes Buch enthalten können. Im Anschluss daran werden sprachtheoretische Analyseinstrumente und soziologische Theoriemodelle für die Untersuchung gelehrter Korrespondenz diskutiert. Dies ist derzeit zwar gängige Praxis in historischen Arbeiten, doch stellt sich immer wieder die Frage nach dem konkreten Nutzen, den der Leser aus derartigen Ausführungen ziehen soll, wenn diese Kapitel nur lose mit dem Hauptteil der jeweiligen Studie verbunden sind. Im vorliegenden Fall jedoch wird auf diese Weise zum einen ein wesentlicher Teil des Forschungsstandes zum Thema kritisch präsentiert und zum anderen ein Blick in die Werkstatt der Verfasserin gewährt, der sich bei der weiteren Lektüre auszahlt. Der historische Forschungsstand im engeren Sinne ist schließlich Gegenstand eines eigenen Kapitels.
Der zweite Teil der Arbeit befasst sich in einem ersten Abschnitt mit der Überlieferung der Briefe Stefano Borgias und daran anschließend mit der Biographie des Kardinals. Besonders aufschlussreich ist hier Stuibers Darstellung von „Borgias Umgang mit den Papieren“ (S. 45–55), der ein eigenes System der Sortierung, Klassifizierung und Ablage (einschließlich der Vernichtung nicht mehr benötigter Schriftstücke) entwickelt hatte. Da die Verfasserin hauptsächlich Briefe an Stefano Borgia ausgewertet hat, entsteht ein gut abgegrenztes und geschlossenes Quellencorpus, das sich in der Bibliotheca Apostolica Vaticana und dem Archiv der Kongregation für die Evangelisierung der Völker befindet; Ausnahmen wurden lediglich für den wichtigen Fall Friedrich Münters gemacht sowie für Bestände leichter erreichbarer Bibliotheken: Hier wurde auch die Gegenüberlieferung einbezogen. Gerade die Kopenhagener Überlieferung der Borgia-Korrespondenz erlaubt dabei zusätzliche wertvolle Einblicke in den Untersuchungsgegenstand. Für die Biographie Borgias konnte die Verfasserin sich unter anderem auf die zeitgenössische Lebensbeschreibung aus der Feder Paolinos di S. Bartolomeo stützen, die ein Jahr nach dem Tod des Kardinals im Druck erschien.
Die eigentliche Auswertung der gelehrten Korrespondenz Stefano Borgias erfolgt in zwei Schritten, die die Akteure des Korrespondenznetzwerks sowie die Kommunikationsbedingungen und die Funktionen von Korrespondenz beleuchten. Die Verfasserin schöpft hier aus dem Vollen des Quellencorpus und präsentiert zu ihren Aussagen reichlich (bisweilen vergnügliche) Zitate. Das Korrespondentennetzwerk Borgias veränderte sich mit seinen verschiedenen Lebensphasen teilweise erheblich; etliche von der Verfasserin selbst erstellte Karten verdeutlichen dies eindrucksvoll. Vor allem während Borgias Zeit als Sekretär der Congregatio de propaganda fide umfasste es nicht nur Akteure in Italien, sondern in ganz Europa und einzelne in Afrika und Fernost (Peking, Manila und andere). Nach seiner Kardinalserhebung im Jahr 1789 verlagerte sich der Schwerpunkt von Italien in die Mitte und den Norden Europas, unter anderem nach Großbritannien, Dänemark und Schweden. Lohnende Lektüre sind darüber hinaus die Ausführungen über den Metadiskurs im gelehrten Brief über diese Kommunikationsform sowie die Bewertung der Korrespondenz mit Borgia im Spiegel von Referenzdokumenten. Die Bedingungen brieflicher Kommunikation und ihre Funktionen im Kontext der Gelehrtenrepublik sind zwar im Wesentlichen bekannt, doch bietet die Korrespondenz Stefano Borgias ein gutes Beispiel, Forschungshypothesen zu überprüfen und zu bestätigen. Dass Schriftlichkeit und Mündlichkeit in der gelehrten Kommunikation keineswegs strikt getrennt werden müssen bzw. dürfen, ergibt sich aus einem weiteren Kapitel, das vor allem den deutschen und dänischen Korrespondenten Borgias gewidmet ist, die zeitweilig zum Circolo Borgiano, der gelehrten Tischgesellschaft des Kardinals, gehörten. Vielmehr zeigen sich gerade hier Bezugnahmen und „assoziative Verschränkungen“ (S. 333), die ebenso wie die brieflichen Aufträge, bestimmte Personen zu grüßen, oder die Übermittlung von Bildern den fließenden Übergang zwischen persönlich-mündlicher und brieflicher Kommunikation sichtbar machen.
Bereichert wird das Buch nicht nur durch etliche Tabellen, Schaubilder und Karten, sondern auch durch die Edition ausgewählter Briefe an Stefano Borgia, die das Ausgeführte illustrieren, und durch eine Vollständigkeit beanspruchende Liste der gelehrten Briefe an den Kardinal.
Die bisherige Forschung zu gelehrten Korrespondenzen wird durch Maria Stuibers Arbeit nicht umgestürzt. Das ist aber auch nicht nötig, damit ein Buch lesenswert ist. Durch minutiöse Arbeit am nicht gerade kleinen Briefwechsel Stefano Borgias hat sie ein hervorragendes Beispiel für einen fleißigen Gelehrten und seine Praktiken der Gelehrsamkeit äußerst solide und in allen bedeutsamen Facetten umfassend aufgearbeitet. Mit ihrer Dissertation hat sie auf das große Forschungsdesiderat nach Fallstudien geantwortet und zugleich beim Rezensenten den Wunsch nach ähnlichen Studien für vergleichbar „durchschnittliche“ Gelehrte in Rom (und an anderen Orten) geweckt.
Und eine wichtige Erkenntnis gibt es obendrein: Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts nur unter dem Signum „Aufklärung“ zu betrachten, würde in die Irre führen. Ein Mann wie Stefano Borgia war Kind seiner Zeit; bestimmt kein Aufklärer, aber auch kein erklärter Aufklärungsfeind. Die historische Wirklichkeit ist wieder einmal etwas komplizierter.
Anmerkungen:
1 Vgl. Christiane Berkvens-Stevelinck / Hans Bots / Jens Häseler (Hrsg.), Les grands Intermédiaires culturels de la République des Lettres. Étude de réseaux de correspondances du XVIe au XVIIIe siècles, Paris 2005.
2 Ausnahme: Maria Pia Donato, Accademie romane. Una storia sociale (1671–1824), Neapel 2000.