In der überarbeiteten und erweiterten Version ihrer 2010 an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock eingereichten Dissertationsschrift legt Kristin Skottki eine bemerkenswerte Untersuchung über Quellenarbeit und Wissenschaftsdiskurs vor. Die Prinzipien der Multiperspektivität und Kontroversität (Klaus Bergmann)1 konkretisiert sie dabei an einer historischen Thematik, die hinsichtlich ihrer Bedeutung bereits unter den mittelalterlichen Zeitgenossen umstritten war: den Kreuzzügen. Ihr Hauptfokus liegt auf der Frage, wie in Kreuzzugschroniken Muslime dargestellt werden (konnten). Auf Quellenebene interessiert sie, ob es eine mittelalterliche Entsprechung für das moderne Phänomen des Orientalismus (Edward Said)2 gab, sowie auf moderner Darstellungsebene, welche inhaltlichen Auswirkungen es hat, wenn das Mittelalter heute als die „andere“ Zeit und der Orient als der „andere“ Raum betrachtet werden – beziehungsweise unter den Vorzeichen der postcolonial studies als die „kolonisierte Zeit“ und der „kolonisierte Raum“ (S. 57).3 Ob die Kreuzzüge in diesem Sinne als protokoloniale Unternehmungen gesehen werden können, lässt Skottki mit Hinweis auf die unsichere Definition des „Kolonialen“ letztlich offen (S. 106).
Die eigentliche Quellenstudie wird durch die Untersuchung dreier kontextualisierender Problemfelder vorbereitet: 1. den Forschungsstand zu Orientalismus, Okzidentalismus und Mediävalismus (S. 19–74), 2. die Frage, wie die Suche nach einem „richtigen“ Islambild die Geschichtsschreibung über die Kreuzzüge bestimmt(e) (S. 75–171), und 3. die Frage, was eigentlich eine „Kreuzzugschronik“ sein kann und welche Interpretationsschwierigkeiten sich bei dieser Quellengattung ergeben (S. 172–251).
Im Hauptteil (S. 252–420) wendet sich Skottki dann der Analyse von sieben mittelalterlichen Chroniken zu: den Gesta Francorum, Petrus Tudebode, Raimund von Aguilers, Fulcher von Chartres, Robert von Reims bzw. „dem Mönch“, Albert von Aachen und Walter dem Kanzler. Der historiografischen Einordnung der Quellen folgt jeweils eine Analyse der narrativen Muster und Darstellungsformen der Alterität, die sich grob an folgenden Leitfragen orientiert: Wie wird der Kreuzzug theologisch verortet? Welche narrativen Muster bestimmen die Darstellung? Welche Auswirkungen hat das auf die Darstellung der Kontakte mit Muslimen? Welche Auswirkungen hat dies auf die Darstellung der Muslime, speziell hinsichtlich ihrer religiösen Identität?
Das Werk schließt mit Überlegungen zu der Frage, ob die Kreuzzugsgeschichte entsprechend der (gegenwärtig noch meist von Literaturwissenschaftlern der mediävistischen Anglistik betriebenen) postcolonial medieval studies „dekolonisiert“ werden könne (S. 486–498). Ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis ist enthalten, ein Register fehlt.
In ihrer profunden Studie geht Kristin Skottki also gleich mehrere große Fragen der Historik an, ohne aber die dabei oft vernachlässigte Bodenhaftung in den Quellen zu verlieren. Zwar liegen bereits zahlreiche Spezialstudien zu Einzelaspekten ihrer weit gefächerten Untersuchungsfragen vor, mir ist jedoch keine bekannt – auch nicht zu anderen historischen Themen –, die ausgehend vom kritischen Vergleich verschiedener Handschriften mehrerer umfangreicher Quellentexte den theoretischen Bogen so weit spannt. Es ist kaum zu vermeiden, dass dabei einzelne Bereiche etwas kurz kommen. Mehr hätte man sich allgemein zu Genese und Gehalt der Kreuzzugsidee gewünscht4, was eine bessere Einordnung der Frage erlaubt hätte, warum sich die Chroniken, wie Skottki aufzeigt, so wenig für den Islam interessierten – ja, noch nicht einmal den Begriff „Islam“ kannten.
Das Hauptverdienst Skottkis besteht darin, dass sie hier kundig und umfänglich vorführt, wie normativ voraussetzungsreich nicht nur mittelalterliche, sondern auch heutige Geschichtsschreibung ist. Jede Geschichte der Kreuzzüge bezieht dabei bewusst und unbewusst eine solche Menge an Deutungen mit ein, dass die hier nicht nur (wie unter anderem bei Hayden White5) theoretisch behandelte Frage nach Fakten und Fiktionen in der Historiografie greifbare Bedeutung erlangt.
Ein wesentlicher Befund ihrer Quellenanalyse ergibt, dass es nicht ausreicht, sich den mittlerweile großteils kaum noch hinterfragten Transkriptionen anzuvertrauen, da keineswegs zu allen „Kreuzzugschroniken“ vollständige, kritische Ausgaben existieren. Ebenso unsicher sind die weithin angenommenen Autorschaften, die ohnehin kaum weiterhelfen, da über die Biografien eines „Albert von Aachen“ und anderen kaum etwas bekannt ist und im so genannten „Mittelalter“ überhaupt ein anderes Verständnis von Autorschaft vorlag als heute. Wie oder weshalb die einzelnen (meist unbekannten) Kopisten und Kompilatoren wiederum in die Texte eingriffen, ist ebenfalls schwer nachvollziehbar. Des Weiteren ist es natürlich kein Zufall, dass sich europäische Historiker erstmals zur Zeit des Kolonialismus den Quellen zu den Kreuzzügen zuwandten und die Editionen und Deutungsgrundlagen schufen, mit denen noch heute gearbeitet wird.
Aktuell boomt die Kreuzzugsforschung. Die Society for the Study of the Crusades and the Latin East zählt heute über 460 Mitglieder in 41 Ländern6, so dass es schwierig genug ist, bei breit angelegten Fragestellungen auf dem neuesten Stand zu bleiben. Skottkis Studie wirft darüber hinaus die Frage auf, ob es nicht notwendig wäre, sich nach diversen turns (z.B. dem linguistic, dem spatial oder dem postcolonial turn) wieder nachdrücklich ad fontes zu begeben und zudem zu erforschen, an wen sich diese Texte eigentlich richteten und wie mit ihnen umgegangen wurde.
Dass es schwierig ist, sich von den „kolonialen“ Voraussetzungen zu lösen, zeigt Skottki selbst, wenn sie zwar in der ersten Hälfte ihrer Arbeit den „Götzen Ursprung“ (Marc Bloch) verdammt (S. 176) und den „Tod des Autors“ (Roland Barthes) bekräftigt (S. 195), dann aber ihre Quellenauswahl doch nicht zuletzt chronologisch begründet und wiederholt Vermutungen über die biografischen Hintergründe einzelner Autoren anstellt (z.B. S. 377, 379). Sicherlich ließe sich eine Auswahl von sieben Kreuzzugschroniken bei einer Grundgesamtheit von mindestens 20 monografischen Texten (S. 190) immer so oder so begründen7, doch zeigen Skottkis Beispiele sehr gut, welche Polyvalenz mittelalterliche Historiografie zu den Kreuzzügen aufzeigt: Während die weit verbreiteten Gesta Francorum offenbar unter dem Eindruck des Sieges 1099 verfasst wurden, entstand die Chronik Walters des Kanzlers in einer Situation der Niederlage und Hoffnungslosigkeit. Einige der untersuchten Texte dienten dazu, neue Kreuzfahrer ins Heilige Land zu locken (Gesta Francorum, Petrus Tudebode, Fulcher von Chartres), andere jedoch beklagten hauptsächlich die Sündhaftigkeit der Lateiner im Allgemeinen und der Orientlateiner im Speziellen (Walter der Kanzler), wieder andere wurden – vermutet Skottki – vielleicht gar zu liturgischen Zwecken verwendet (Robert von Reims bzw. „der Mönch“). Einige beruhten angeblich oder wahrscheinlich auf Augenzeugenberichten, andere hingegen nicht.
Während die moderne Forschung (angebliche) Augenzeugenberichte meist als „authentischer“ ergo vertrauenswürdiger betrachtete, betonten nicht wenige mittelalterliche Chronisten ganz im Gegenteil, dass gerade der Umstand, dass sie selbst nicht in die Geschehnisse involviert waren, ihnen ein höheres Maß an Urteilssicherheit verleihe. Dies führt nachvollziehbar vor, wie auch das Verständnis von historischer Wahrheit einem historischen Wandel unterworfen war. Geschichtsschreibung war immer schon Sinnbild, nicht Abbild von Geschichte. Um dies weiterhin für die jeweiligen Gegenwarten zu entschlüsseln, ist nicht nur die Mediävistik gefragt, sondern zunehmend auch eine wissenschaftliche Verarbeitung des ungleich wirkmächtigeren Mediävalismus. Daher gehört Skottkis Werk, das es verdient hätte, bald ins Englische übersetzt zu werden, in jede Bibliothek, die den Kreuzzügen, der Historiografiegeschichte oder den postcolonial studies gewidmet ist.
Anmerkungen:
1 Klaus Bergmann, Multiperspektivität. Geschichte selber denken, Schwalbach/Ts. 2000.
2 Edward W. Said, Orientalismus, 2. Aufl. Frankfurt am Main 2010 (1. Aufl. 1981).
3 John Dagenais / Margaret R. Greer, Decolonizing the Middle Ages. Introduction, in: The Journal of Medieval and Early Modern Studies 30 (2000), S. 431–448, hier S. S. 431–438.
4 Hier wäre eine stärkere Berücksichtigung von z.B. Carl Erdmann, Die Entstehung des Kreuzzuggedankens, Stuttgart 1935; Christopher Tyerman, The Invention of the Crusades, Houndsmills 1998 und ders., The Debate on the Crusades, Manchester 2011 ergiebig gewesen. Deutlich wird bereits bei Erdmann, dass die Kreuzzugsidee sich zuerst nach innen (Ketzer), und dann erst nach außen und damit gegen Heiden richtete. Somit verwundert es auch wenig, wenn sich die Kreuzzugsnarrative hauptsächlich für die unterschiedlichen Lateiner und ihr Verhalten interessieren.
5 Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studie zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986.
6 <http://sscle.slu.edu/> (07.03.2016).
7 Walter der Kanzler erwähnt beispielsweise den Ersten Kreuzzug nicht einmal, sondern handelt von den zwei folgenden Kriegen um Antiochia.