„Die drei Teilungen des polnisch-litauischen Unionsstaates (1772, 1793, 1795) sind im 19. und 20. Jahrhundert in der europäischen Öffentlichkeit wie in der Fachwissenschaft nur selten als zentrales Ereignis der europäischen Geschichte wahrgenommen worden.“ Mit diesem zutreffenden Satz eröffnen Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich und Helga Schnabel-Schüle den hier anzuzeigenden Sammelband. Ein kurzer Blick auf die letzten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur europäischen Geschichte des 18. Jahrhunderts zeigt allerdings, dass auch im 21. Jahrhundert die Teilungen Polen-Litauens bislang kaum auf der Agenda der Fachhistorie stehen, abgesehen natürlich von den Beiträgen aus der Osteuropaforschung. Das offenbar fehlende Interesse an diesem „großen Thema der europäischen Geschichte“ (S. 11) macht erneut deutlich, dass die über Jahrhunderte praktizierte Dominanz des westeuropäischen Diskurses in der Interpretation der gesamteuropäischen Geschichte eine Tatsache ist, die den Zusammenbruch des Ostblocks unerschüttert überlebt hat und in der Historiographie zur Frühen Neuzeit besonders stark zum Vorschein kommt.
Um einen solchen Reduktionismus zu durchbrechen und die „offensichtlichen Forschungslücken“ (S. 31) zu schließen, zielt der neue Band darauf, nicht nur die Teilungen Polen-Litauens als „epochale Zäsur in der Geschichte des nördlichen Ostmitteleuropas“, sondern auch den polnisch-litauischen Staatsverband als „multiethnischen und multikulturellen Zentralverband Mitteleuropas“ aufzuzeigen (S. 10). Dieser Ansatz soll dazu beitragen, die Teilungen Polen-Litauens mit der Auflösung des Alten Reiches zu vergleichen. „Erst eine solche Verknüpfung, Parallelisierung und Kontrastierung kann es ermöglichen, eine neue Geistes- und Politikgeschichte Mitteleuropas in der Sattelzeit zwischen Ancien Régime und Moderne zu schreiben.“ (S. 13) So weit gehen die einzelnen Beiträge des Bandes allerdings nicht, vielmehr konzentrieren sie sich auf den Ablauf und die Folgen der Teilungen in den von Österreich, Russland und Preußen annektierten Territorien der Rzeczpospolita.
In den ersten beiden Artikeln wird das Augenmerk auf die historiographiegeschichtliche Verarbeitung der Teilungen gelenkt. Mit seinem umfassenden Überblick über die gesamteuropäischen Forschungsbemühungen zu den Teilungen Polen-Litauens zwischen 1795 und 2011 liefert Markus Krzoska eine erstmalige Zusammenstellung der vorhandenen Arbeiten. Bestechend an Krzoskas Beitrag ist nicht nur seine fundierte und breite Kenntnis der europäischen Historiographie, sondern vor allem seine umsichtige Einbettung der angeführten Literatur in den historischen und politischen Kontext ihrer Entstehung. Umso mehr verwundert es aber, dass er die 2010 initiierte Edition des von Władysław Konopczyński – Krzoska selbst hält ihn für den „einflussreichsten Vertreter des Faches“ (S. 50) – während des Zweiten Weltkrieges verfassten Werkes „Pierwszy rozbiór Polski“ (Die Erste Teilung Polens) nicht erwähnt.1 Vor dem Problem der Vollständigkeit stand Matthias Barelkowski, Autor des zweiten historiographiehistorischen Beitrages, sicherlich nicht. In seiner anregenden Darstellung der deutschen liberalen Polenforschung des 19. Jahrhunderts konzentriert er sich „nur“ auf zwei ihrer namhaften Vertreter: den Breslauer Historiker Richard Roepell und dessen jüngeren jüdischen Kollegen Jakob Caro. Obwohl Barelkowskis Analyse mit den Teilungen Polen-Litauens recht wenig zu tun hat und den thematischen Rahmen des Sammelbandes eigentlich eher sprengt, zeigt sie auf eindrucksvolle Weise, welche Hürden und Risiken die „polonophilen“ Historiker überwinden mussten, um in deutschen und polnischen Fachkreisen Anerkennung zu finden.
Der Beitrag von Dominik Collet über die Auswirkung der europaweiten Hungerkrise von 1770–1772 auf die Entscheidung Friedrichs II., an der Teilung Polen-Litauens zu partizipieren, kann dagegen weniger überzeugen. Zwar muss Collets klimadeterminatorischer Ansatz als innovativ angesehen werden, doch seine These, wonach „neutrale Umwelt und soziales Handeln, Hunger und Politik als eng miteinander verflochten konzipiert werden müssen“ (S. 170), wird nur teilweise belegt. An keiner Stelle der Untersuchung erfährt man beispielsweise, wie Friedrich II. die in seinem Staat herrschenden Versorgungsschwierigkeiten mit dem stets propagierten Selbstbild eines idealen Herrschers in Verbindung bringen konnte, der alle Probleme im vorausschauenden Blick hatte.
Weitere Beiträge befassen sich dezidiert mit den einzelnen Teilungsgebieten. Als Einführung liefert Hans-Jürgen Bömelburg eine Überblicksdarstellung zur österreichischen, preußischen und russländischen Herrschaftspraxis in den drei bei der Ersten Teilung erworbenen Territorien Galizien, Westpreußen sowie den Gouvernements Polack und Mahilëŭ. Was Bömelburg in seinem bis in die Zeit der napoleonischen Umwälzungen gezogenen Vergleich skizzenhaft behandelt und anhand von Sekundärliteratur vermittelt, vertiefen Viktor N. Gajdučik und Matthias Barelkowski in Bezug auf die weißrussischen Gouvernements Vicebsk und Mahilëŭ. Auf der Basis der lokalen Archivbestände gelingt es ihnen zumindest in Ansätzen, das vorherrschende Forschungsdesiderat zu schließen und einen breiten Einblick in die Integrationspolitik des russländischen Imperiums zu gewähren. Welche Integrationsmaßnahmen diese Teilungsmacht in den südlichen Teilen Polen-Litauens, die heute zur Ukraine gehören, ergriff, verdeutlicht Andrity Portonov und weist dabei auf die durchgehende Inkohärenz der russländischen Politik hin, erkennbar daran, dass in der neuen Administration bis zumindest 1830 viele polnische Untertanen tätig werden konnten.
Dass die Eingliederungspolitik in den durch die Habsburger Monarchie und Preußen annektierten Gebieten deutlich andere Züge annahm, schildern Daniela Druschel und Roland Struve. Die Einführung neuer Rechtsysteme ins Zentrum ihrer Analyse stellend, beleuchten sie die Möglichkeiten und Grenzen, auf die die neuen Machthaber bei der Vereinheitlichung der Jurisdiktion stießen. Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist der von Druschel und Struve dargestellte Wandel dieses Angleichungsprozesses. Während nach der Ersten Teilung von 1772 die habsburgische und preußische Monarchie möglichst schnell und durchgreifend das neue Rechtssystem zu implementieren versuchten, wurden nach der Auflösung der polnisch-litauischen Staatlichkeit größere Konzessionen gemacht, indem verstärkt die juristische Eigenart der eroberten Territorien berücksichtigt wurde. Darauf, dass sich die preußische und habsburgische Regierung nach der Dritten Teilung für eine weniger restriktive Politik in den neuen Provinzen entschlossen hat, weist auch der Beitrag von Bernard Schmitt über die Integration des polnischen Adels in das Militär hin. Die Aufstockung und Umstrukturierung der Kadettenstellen wären dafür das beste Beispiel. Mit einer bislang in der Militärgeschichtsforschung selten anzutreffenden Kritik hebt Schmitt überzeugend hervor, dass diese Indienststellung der polnischen Untertanen immer konjunkturell bedingt war und eine Zähmung wie Hierarchisierung des bis dahin – zumindest offiziell – gleichgestellten Adels bezweckte. Im Gegensatz zu den reichen Gutsadligen, die zu Offizieren gemacht wurden, konnten die Besitzlosen, die die Mehrheit des polnischen Adels beim Militär ausmachten, nicht über den Status eines einfachen Soldaten hinaus kommen.
Die Integration des polnischen Adels in das russländische Imperium schildert wiederum Jörg Ganzemüller im letzten Beitrag des Sammelbandes und betont dabei die Dynamik des Prozesses. In der Zeit von 1772 bis 1823/30 beobachtet er einen Umschwung von einer pragmatischen zu einer normativen Integrationspolitik des Zarenreiches: Hatte der polnische Adel nach den Teilungen Polen-Litauens nur loyal sein müssen, so wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts sein Aufgehen in der russischen Ständeordnung gefordert. Anhand dieser inhaltlichen These kann Ganzemüller deutlich machen, dass die von Luhmann eingeführten statischen Kategorien wie Inklusion und Exklusion kaum geeignet sind, die Dynamiken der Integrationsprozesse in den annektierten Gebieten zu erfassen. Die theoretische Kritik von Ganzemüller ist eine große Bereicherung für den methodisch eher einseitigen Sammelband. Innovative Ansätze aus der Kulturgeschichte oder den Postcolonial Studies fehlen hier genauso wie differenzierte Überlegungen zu verflochtenen transkulturellen und hybriden Identitäten und Gesellschaftsformationen. Es ist auch bedauerlich, dass in einem Buch, das die Multikulturalität des polnisch-litauischen Staatsverbandes hervorzuheben beabsichtigt, die Teilungen meistens „von oben“ und kaum aus der polnischen und schon gar nicht aus der jüdischen Perspektive thematisiert werden. Womöglich liegt dieser evidente Mangel daran, dass die Herausgeber in ihre Auswahl keinen einzigen polnischen Beitrag aufgenommen haben.
Trotz der obigen Einwände kommt dem Sammelband das unbestreitbare und keineswegs gering zu achtende Verdienst zu, die Erforschung des in den letzten Jahrzehnten stark vernachlässigten Themas der Teilungen Polen-Litauens2 neu initiiert zu haben. Sein Ertrag ist dort am größten, wo aus der Gegenüberstellung der einzelnen Herrschaftspraktiken die Problemdimensionen (regionale und konfessionelle Heterogenitäten, Akteursebenen, soziale Lagen, Verhältnisse zu traditionellen Eliten etc.) deutlich werden. Insgesamt also ein Band, der entsprechend seinem akademischen und forschungsorientierten Anspruch vor allem durch Themenbreite und redaktionelle Bearbeitung (Personenregister, deutsche Übersetzung von ausländischen Buchtiteln, vereinheitlichte Schreibweise von Namen und Begriffen) besticht.
Anmerkungen:
1 Władysław Konopczyński, Pierwszy rozbiór Polski, Kraków 2010.
2 Bereits drei Jahrzehnte zurück liegt das Erscheinen der Monographie von Michael G. Müller, Die Teilungen Polens, 1772, 1793, 1795, München 1984.