Frank Schirrmacher hat es.1 Der Spiegel hat es: Das Thema ‚Big Data‘. In diesem Frühjahr ist das, was bei Computer-Nerds und Unternehmen schon seit einiger Zeit diskutiert wird, auch in der deutschen Öffentlichkeit angekommen. Fragen, wie mit einer entsprechend großen Datenmenge menschliches Verhalten – heutzutage hauptsächlich Käuferverhalten – modelliert werden kann, bewegt nun außerhalb der Rechenzentren und Konzernzentralen eine breitere Öffentlichkeit. Mit der Habilitation von Robert Gramsch über die politischen Strukturen zur Zeit des Doppelkönigtums Friedrichs II. und Heinrichs (VII.) könnte eine ähnliche Diskussion die deutsche Mediävistik erreichen. Endlich, wie man sagen muss.
Eigentlich hatte Gramsch sich vorgenommen, das politische System der Interregnumszeit – also der angeblich so schrecklichen, kaiserlosen Zeit zwischen 1250 und 1273 – netzwerkanalytisch zu untersuchen, musste aber dabei feststellen, dass das nicht so ohne Weiteres zu bewerkstelligen war. Unter anderem verschoben sich im Laufe seiner Untersuchung die zeitlichen Grenzen des Interregnums, das er als permanentes Doppelkönigtum (S. 11) kennzeichnet, immer weiter nach vorne, bis er schließlich bei der Herrschaft Heinrichs (VII.) und seines Vaters ankam. Eine hinreichend gute Forschungslage und eine gleichzeitig ausreichend geringe wie große Datenmenge brachten ihn schließlich dazu, von seinem Vorhaben, das Interregnum netzwerkanalytisch zu untersuchen, Abstand zu nehmen. Stattdessen geriet nun das „Doppelkönigtum“ der beiden Staufer in sein Blickfeld.
Netzwerkanalytisch versteht Gramsch, anders als die mediävistische Forschung der letzten beiden Jahrzehnte, als die Anwendung sozialwissenschaftlicher Analysemethoden. Er will seine Arbeit explizit als „die Implementierung mathematischer Methoden in die Mediävistik“ (S. 9) verstanden wissen. Seine Untersuchung entwickelt somit gleich zwei Zielrichtungen. In der einen möchte er ganz konkret die Gründe für das Scheitern der Regierung Heinrichs (VII.) aus der Perspektive der Netzwerkanalyse erhellen. In der anderen gelangt er auf eine abstraktere Ebene: Gramsch möchte die Anwendbarkeit eben dieser mathematischen Methoden für die Mediävistik an einem Beispiel testen.
Um dies tun zu können, muss er zunächst seine Methode und sein Datenmodell entwickeln und erläutern. Erstaunlich ist dabei für Historiker im Allgemeinen und Mediävisten im Besonderen, wie gering der eigentliche technische Aufwand für eine solche Analyse ist: Jeder Doktorand kann sie am heimischen Rechner selbst durchführen. Komplizierte Datenbanken oder gar ein Rechenzentrum sind nicht nötig, sondern lediglich rudimentäre EDV-Kenntnisse; eine Word-Tabelle genügt. Viel wichtiger sind die Voraussetzungen und Annahmen, unter denen er die Netzwerkanalyse durchführt, gleichsam seine Daten modelliert. In einer ausführlichen methodischen Einführung legt Gramsch diese klar und leicht verständlich dar. Trotzdem werden sich weniger EDV-affine Leser durch diese Seiten quälen müssen. Eine ‚Qual‘, die sich aber am Ende bezahlt macht, denn lässt man sich auf die aus der historischen Erfahrung abgeleiteten Annahmen von Gramschs Modell ein, wird man im eigentlich analytischen Teil der Arbeit mehrfach belohnt.
Es gelingt Gramsch nämlich, durch die jahrgangsweise Analyse auch die verborgenen Verbindungen unter den wichtigsten Akteuren der Reichspolitik sichtbar zu machen und sie in farbigen Grafiken zu visualisieren. Diese zeigen die unterschiedlichen Gruppen und vor allem ihre Volatilität im Verlauf der Zeit. Damit nun Fleisch an diese ‚Soziogramme‘ kommt und sie nicht nur ein hypothetisches Konstrukt bleiben, werden sie konsequent und akribisch an die Forschungsliteratur und vor allem an die Quellen zurückgebunden.
Auf diese Wiese gelingt ihm nicht nur die Deutung bisher nicht untersuchter oder rätselhaft gebliebener Vorgänge, sondern an vielen Stellen kehrt er das bisherige Bild der Forschung ins Gegenteil um. So sieht er in dem im Statutum in favorem principum endenden Kurswechsel Heinrichs keine standessolidarische Reaktion der Fürsten „auf eine ungeschickte Politik des Königs“. Vielmehr resultiere er „aus sich ändernden Kräfteverhältnissen im Fürstennetzwerk, denen Heinrich sich anpassen musste“ (S. 231). Auf gleiche Weise kann Gramsch den Mord an Ludwig dem Kehlheimer netzwerkanalytisch deuten: „Der Mord von Kehlheim wurde äußerer Anlass eines Zerwürfnisses, das mehr war als ein bloßer Vater-Sohn-Konflikt (wofür man es immer gehalten hat), da hinter jedem der beiden eine große – ja hinter Heinrich sogar die stärkere – Fürstenpartei stand.“ (S. 262)
Auch seine Deutungen der Hintergründe und Gründe für Heinrichs Sturz stoßen viele bisherige Gewissheiten der Forschungen um. Friedrichs II. Handeln ist nun nicht mehr Verärgerung über den ungehorsamen und ungeschickt agierenden Sohn, sondern Einsicht in die politische Untragbarkeit der Konstruktion dieses Doppelkönigtums, durchgeführt mit sizilianischem ‚furor‘ und daher aus deutscher Sicht so unerbittlich.
In der Bewertung der bisherigen Forschung zeigt sich Gramsch erfreulich meinungsfreudig, was unter anderem der Autor dieser Rezension am eigenen Leib zu spüren bekommt. Seine Urteile sind dabei wohlabgewogen und weisen deutlich auf die Schwachstellen der bisherigen Forschung hin. Sie lassen keinen Zweifel über Gramschs Ansichten und sorgen gleichzeitig für eine erfrischende und kurzweilige Lektüre. Seine Untersuchung überzeugt auf der ganzen Linie. Die Nutzung der sozialwissenschaftlichen Methoden der Modellierung von Verhalten größerer Gruppen transzendiert die bisher vorherrschende deskriptive Forschung zu Königshöfen auf eine völlig neue Ebene. So werden aus Königshöfen endlich Netzwerke.
Anmerkung:
1 Frank Schirrmacher, Ego. Das Spiel des Lebens, München 2013.