Titel
Lebensfäden. Zehn autobiographische Versuche


Autor(en)
Krippendorff, Ekkehart
Erschienen
Anzahl Seiten
476 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg

Einer der besten politischen Kabarettisten Deutschlands, Dieter Hildebrandt, sagte einmal, dass zu den wichtigsten Eigenschaft seines Berufes gehöre, empört zu bleiben. Nur im Zustand der Empörung ließe sich auch der Zustand der Republik als ein Skandal begreifen und als solcher dem Publikum satirisch präsentieren. Es gab eine Zeit, da ging es Politikwissenschaftlern je nach Schwerpunkt und Gemüt ähnlich – zumindest zeichnen sich die in der Nachkriegszeit sozialisierten politikwissenschaftlichen Koryphäen dadurch aus, dass sie, angetrieben von persönlicher Empörung über das was möglich gewesen war und über das was sein sollte, die Wissenschaft akademisch und publizistisch vorantrieben. Zu dieser auch durch den Krieg geprägten Generation, die die doppelte Staatsgründung und re-education erlebte und eine enge, ambivalente Beziehung zu den Vereinigten Staaten pflegte, gehörte eine ganze Reihe, die Bundesrepublik beeinflussenden und kritisch begleitenden Intellektuellen – neben Ekkehart Krippendorff etwa Alexander Kluge (der wie Kripppendorff aus Halberstadt stammte), Hans Magnus Enzensberger oder Günther Grass.1 Ihnen allen war gemeinsam, dass sie im persönlichen Nahbereich auf internationale und nationale Politik gestoßen waren und aus persönlicher Erfahrung und Empörung diese kommentierten und sich in ihr engagierten.

Krippendorffs akademischer Werdegang begann ganz traditionell mit den Studienfächern Germanistik, Geschichte und Philosophie, ehe er durch Zufall bei den Doyen des jungen Faches Politikwissenschaft, Arnold Bergsträsser in Freiburg und Theodor Eschenburg in Tübingen, studierte (und auf diese Weise der erste Student des neuen Faches wurde). Der junge Krippendorff war zunächst weniger empört, als vielmehr begeistert sowohl von einer „geistig begründeten Wissenschaft von der Politik“ als auch von der „ernüchternden, kalten, aber erfrischend-schockierenden Dusche“, die ihm der realpolitische Ansatz Eschenburgs verpasste. In der Beschreibung seiner universitären Sozialisation vermittelt Krippendorff anschaulich den schmalen Grat zwischen Traditionalismus und Reform, den die Studenten der 1950er Jahre erlebten. Einerseits konnte die „idyllische Intimität“ der überschaubaren Ordinarienuniversität (S. 123) nicht nur Wissen, sondern auch das Gefühl vermitteln, „Mittstreiter einer geistigen Gemeinschaft“ zu sein, während sie andererseits kritische Fragen zur jüngsten Universitätsgeschichte oder zu den blinden Flecken im Curriculum unterdrückte. Der Student Krippendorff war zunächst begeistert von den philosophischen Klassikern – die Empörung wuchs im Laufe der Zeit, nicht allein durch universitäre Beharrungstendenzen, sondern in der Auseinandersetzung sowohl mit dem Krieg im eigenen Land und dem „Nazismus“ als auch durch Erfahrungen in den USA und in Italien, mit Theater, Musik und Religion.

Damit sind auch einige der Kapitel genannt, die in Krippendorffs Autobiographie zu finden sind. Wenngleich grob von der Kindheit bis ins Alter reichend, geben die einzelnen Kapitel keine Chronologie der Ereignisse oder gar der Selbsterkenntnis vor. Krippendorffs Autobiographie heißt Lebensfäden und soll verstanden werden als ein „buntes Kompositum aus einer Fülle von Einflüssen, Erfahrungen und Zufällen, von Erbgut und Traditionen, von Umwelt und Erziehung, von Lebensfäden, die in ihrer dichten Verschlingung ein überaus komplexes Gewebe bilden“ (S. 10). Die Form ist gut gewählt und ordnet sich, neben der von Krippendorff angeführten literarischen Begründung, auch historiographisch als Brückenschlag zwischen sozial- und kulturgeschichtlicher Selbstverortung ein.

Hier nun liegt ein Kritikpunkt, wenngleich das Kritisieren einer Autobiographie ein müßiges Unterfangen ist. Schließlich liegt es im Ermessen des Autors, welche Vertiefungen und Verknüpfungen seines Lebens er präsentieren möchte – dies umso mehr, wenn es heißt „autobiographische Versuche“. Dennoch lässt sich die ein oder andere Leerstelle benennen, die beim Lesen dieser Versuche ergo Fäden bleiben, die Krippendorff zwar unsystematisch, aber dennoch zeitgeschichtlich und politisch und weniger privat verstanden wissen will. Wer mit diesem Vorsatz die Autobiographie Krippendorffs zur Hand nimmt, ist jedenfalls verleitet, vom Politologen mehr erfahren zu wollen, nicht nur über seine eigenen Fäden, sondern auch über ihre Bedeutung für die Gesellschaftswissenschaften und mehr noch für den alltäglichen Blick auf die Gesellschaft.

Erhellend sind in dieser Hinsicht Kapitel, die erst auf den zweiten Blick ihren Einfluss auf das berufliche Engagement und die Streitbarkeit Krippendorffs aufdecken. So reicht das Kapitel „Juden“ von seinen Kindheitserinnerungen in Halberstadt und Alltagsantisemitismus über die Begegnung mit seiner späteren Frau Eve 1958 in Berlin, die 1939 mit einem Kindertransport aus der Tschechoslowakei nach England gebracht worden war, bis hin zur öffentlichen Debatte Anfang der 1990er Jahre über einen möglichen Widerstand der Juden im NS-Deutschland. Die Spielarten des Antisemitismus in Deutschland eröffnen sich hier anschaulich auf wenigen Seiten – zu wünschen wäre höchstens etwas mehr Einordnung dieser Erlebnisse in die Forschungsdiskussion, zumal von einem linken Politikwissenschaftler.

Aus wissens- und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wäre eine Verknüpfung der persönlich-beruflichen Fäden dieser Autobiographie mit übergreifenden Wissensfäden hochwillkommen, und sei es als epistemisch-historische Spurensuche in der Politologie. Aber auch wenn der Leser weniger über die Wissens- und Deutungskämpfe in den social sciences erfährt, gelingt über den persönlichen Zugang, über die persönlichen Erfahrungen Krippendorffs ein spannender Blick auf die akademischen Kämpfe zwischen Bildungsreform, Studentenbewegung, Massenuniversität, Fakultätszuständigkeiten und analytischen Strategien. Vor allem das erste Kapitel der Autobiographie „Krieg“ bietet solche Einblicke, denn Krippendorff erzählt nicht nur von seinen Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, sondern auch von den internen Richtungsstreitigkeiten der Friedensforschung, die er Anfang der 1960er Jahre in den USA kennenlernte und mithilfe von Johann Galtung in West-Berlin etablierte. Mit dem Ziel nicht nur Friedensbedingungen, sondern auch Gewaltverhältnisse und Militarismus zu untersuchen, deutet Krippendorff die 1970er und 1980er Jahre als die erfolgreichste Zeit der Friedensforschung. Das Zerwürfnis von 1990 zwischen, wie Krippendorff sie nennt, „Bellizisten“ und „Pazifisten“ angesichts einer neuen Weltordnung und einer notwendigen friedenswissenschaftlichen Reaktion auf die Invasion in Kuwait klingt in den Erinnerungen bitter. Es lässt persönliche Wunden erahnen und macht gleichzeitig neugierig auf die Historisierung dieses Übergangs von den 1980ern zu den 1990ern, der nicht nur die Friedensforschung in eine Selbstfindungskrise gestürzt haben mag.

Das ist Zeitgeschichte pur, zu der auch das ein oder andere Diktum des Autors gehört, das ihn zum Zeitzeugen macht. Obwohl angekündigt, vermisst man manchmal im Persönlichen die ein oder andere Brechung der beruflichen, wissenschaftlichen, gesellschaftlichen Erfahrung, die in ihrer Beschreibung trotz aller Zufälle, Glücksfälle und Rückschritte, kaum Selbstzweifel erkennen lassen. Dies ist umso erstaunlicher als Krippendorff zwar eine folgerichtige, aber auch mit vielen Krächen verbundene Universitätskarriere gemacht hat. Nach seiner Dissertation 1959 ging er mit einem Fulbright-Stipendium nach Harvard, kehrte drei Jahre später in die Bundesrepublik zurück, wurde von Ernst Fraenkel als Assistent eingestellt und wieder rausgeworfen und übernahm schließlich eine Assistentenstelle am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin, wo er 1965 mit öffentlicher Kritik an der Universitätsleitung und einem weiteren Rauswurf den „Fall Krippendorff“ auslöste. Ob damit in Deutschland „historisch gesehen das Jahr 1968“ begann (S. 158) sei dahingestellt, aber in jedem Fall begann es für Krippendorff in diesem Jahr. Gleichwohl ging er mit seiner Familie 1968 noch einmal in die USA, danach nach Italien, denn die „stickige, verkrampfte, bösartige Atmosphäre Westberlins“ (S. 161) erschien unerträglich. Wenn Krippendorff die Vorgänge beschreibt, die 1970 zur Verweigerung seiner Habilitation an der konservativ besetzten Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität führten, erhält der Leser Einblick in akademische, oft persönlich beeinflusste Abläufe, aber weniger in die zeitgenössische politikwissenschaftliche Landschaft der Bundesrepublik. Theodor Eschenburgs Engagement für den Habilitanden, das zum Abschluss eines erfolgreichen Verfahrens in Tübingen führte, eröffnet eher weitere Fragen, als sie zu beantworten.

Mit dem autobiographischen Fadenmuster ist es nicht nur dem Schreiber unbenommen, welchen Lebensfäden er den Vorzug des öffentlich Erinnerten gibt, in welcher Stärke und in welcher Verwobenheit er dies tut, sondern auch die Leser genießen eine gewisse Freiheit im Erfahren des erinnerten Lebens, lassen sich die elf Lebensfäden durchaus separat oder in anderer Reihenfolge lesen. Deutlich wird, dass sich in der alten Bundesrepublik nicht trotz, sondern wegen aller Streitigkeiten und Anlässe zur Empörung ein gutes intellektuelles Leben führen ließ. Es liegt aber auch Wehmut über den Texten, denn Krippendorff vermisst insgesamt aber vor allem in der Politikwissenschaft mittlerweile jede Empörung. Seine Erinnerungen bieten nicht nur ein Stück Zeitgeschichte, sondern viele Fäden, die aufgenommen werden können, um die Politikwissenschaft als Teil der Zeitgeschichte zu historisieren.

Anmerkung:
1 Vgl. Philipp Gassert, Antiamerikaner? Die deutsche Neue Linke und die USA, in: Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, hg. von Jan C. Behrends, Bonn 2005, S. 250–269.

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