Titel
Hitler – Beneš – Tito. Konflikt, Krieg und Völkermord in Ostmittel- und Südosteuropa


Autor(en)
Suppan, Arnold
Reihe
International History 1
Anzahl Seiten
3 Bde.: XXIV, 2047 S.
Preis
€ 148,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

In einem Leipziger Vortrag im Jahr 2000 hat der US-amerikanische Ostmitteleuropa-Historiker Jeremy King ein interessantes Experiment unternommen: Unter dem Titel „Ausgleiche. A Tradition of Political Settlement in East Central Europe, 1848 to the Present” hat er die Geschichte der Region gegen den gewalt- und konfliktorientierten Strich gebürstet. Von Palacký und der Paulskirche 1848 über den österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 bis zum serbisch-kroatischen sporazum von 1939, gar bis zur „samtenen Scheidung“ der Tschechen von den Slowaken 1992, lässt sich ihm zufolge im östlichen Europa eine Traditionslinie gewaltfreier Lösung innerstaatlich-interethnischer Konflikte nicht nur konstruieren, sondern mit bloßem Auge erkennen.1 Der Wiener Zeithistoriker Arnold Suppan hat in seinem opus maximum hingegen den traditionellen Weg beschritten und sich ganz, wie es im Titel heißt, auf „Konflikt, Krieg und Völkermord“ konzentriert, desgleichen auf „Rache, Vergeltung, Strafe“, „Vertreibung, Zwangsaussiedlung, ‚ethnische Säuberung‘“ sowie „Kollektivschuld, Enteignung, Entrechtung“, so drei Kapitelüberschriften des Buches. „Ein Jahrhundert der Konfrontation in Ostmittel- und Südosteuropa“ lautet entsprechend sein Resümee, und die Diktatoren Adolf Hitler und Josip Broz, nome de guerre „Tito“, aber auch der Demokrat Edvard Beneš verkörpern ihm zufolge dieses katastrophische Säkulum.

Der Impuls zum Verfassen dieser fast 1.800 Textseiten umfassenden Darstellung geht aus der gleichfalls überdimensionierten „Einleitung“ deutlich hervor (S. 5–140): Zum einen sind es „allgemeine, in der Geschichte der Menschheit immer wieder neu zu beantwortende sozialpsychologische Fragen“ (S. 9), zum anderen ist es eine Scheidung der Forschungsliteratur nach Freund und Feind, wie der Einleitungsabschnitt „Kontroverse Fragestellungen und gegensätzlich Perspektiven“ (S. 10–51) deutlich macht. Hier werden Rechnungen in einer Kleinteiligkeit beglichen, die möglicherweise für die Angesprochenen, kaum hingegen für den Durchschnittsleser von Interesse ist. Deutlich wird hier Suppans Opposition gegen Teile der nationalfixiert-heroisierenden post-jugoslawischen und post-tschechoslovakischen Historiographien, aber auch gegen ein Ausblenden der Verstrickung österreichischer Verwaltungsbeamter und vor allem Militärs in die Vernichtungsmaschine des nationalsozialistischen Deutschland.

Die biographischen Skizzen der drei Titel-Protagonisten (S. 51–140) in der Einleitung klären dann allerdings nicht die Frage, warum gerade diese drei, warum statt Beneš nicht etwa Tomáš Garrigue Masaryk, warum nicht ein Ungar wie der von 1920 bis 1944 amtierende Reichsverweser Miklós Horthy, oder auch Stalin? Da wäre eine Begründung hilfreich gewesen, die über banale Feststellungen, wie „alle drei [Hitler, Beneš und Tito – S. T.] wurden als Kinder der Habsburgermonarchie geboren, gehörten derselben Generation an, wurden römisch-katholisch getauft (traten später aus der Kirche aus), erfuhren ihre Ausbildung in Oberösterreich, Wien, Böhmen und Kroatien, sprachen 1914 fließend Deutsch und arbeiteten als Kunstmaler, Soziologiedozent bzw. Maschinenschlosser“ hinaus geht (S. 1.724). Ist aus dieser Gemeinsamkeit von Zeit und Raum etwas zu schließen – und falls ja: was? Denn dass die k. u. k.-Prägung eine ausgeprägte Disposition zu „Konflikt, Krieg und Völkermord“ einschließt, wollte der Autor damit ja wohl kaum sagen.

Der detailreichen Schilderung der vielfältig verflochtenen deutsch-österreichisch-ostmitteleuropäisch-südslavischen Konfliktgeschichte zwischen 1918 und 1945, in der der Autor gleich King bis auf 1848 zurückgreift und ausgiebig den von dem Prager Historiker Jan Křen 1996 geprägten Begriff der „Konfliktgemeinschaft“ verwendet, ist ein mit „Erinnerung und Historisierung“ überschriebener Teil nachgestellt. Hier beleuchtet Suppan eine Reihe von Initativen zur Vergangenheitsaufarbeitung und bilateralen Aussöhnung in der alten Bundesrepublik, im wiedervereinigten Deutschland, Polen, der Russländischen Föderation, Österreich, Jugoslawien und seinen Nachfolgestaaten, der Tschechoslowakei und den ihrigen sowie Italien, nicht hingegen solche in der DDR und Ungarn. Zwar fällt seine diesbezügliche Bilanz durchwachsen aus, doch sieht er die heutigen Bewohner seines Untersuchungsgebiets „Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur“ (S. 1.699). Also doch eine Tendenz zum Ausgleich?

Den besonderen Wert des Suppan’schen Opus machen 140 Schwarz-Weiß-Fotografien im Bibliographie- und Registerband aus (S. 1.977–2.047), die den Zeitraum 1908–1947 dokumentieren. Darunter sind kaum bekannte aus dem Archiv des Masaryk-Instituts in Prag – Beneš bei Stalin im Kreml 1935 (Abb. 27) –, aus dem Ungarischen Nationalmuseum in Budapest – ein muslimischer Feldimam vor einer kroatischen Ustaša-Einheit 1942 (Abb. 92) – oder dem Archiv des Museums des Slovakischen Volksaufstandes in Banská Bystrica – Parade deutscher und slovakischer Truppen in Neusohl/Banská Bystrica nach der Niederschlagung des slovakischen Aufstandes 1944 (Abb. 121).

Arnold Suppans 2.000-Seiten-Werk zur Konfliktgeschichte des post-habsburgischen Raums ist eine sperrige Publikation, welche eine Durchdringung nicht leicht macht, zumal auch die Textsorten wechseln: Quellengesättigtes folgt Polemischem, Mikrostudien folgen großen Bögen, Ausblicke auf die Geschichtspolitik des 21. Jahrhunderts Rückblicken auf die Gesellschaftsgeschichte des 19. Der Rezensent rät dem potentiellen Leser daher sowohl zu Beherztheit wie zu Selektivität – und zum Einstieg über den phänomenalen Fotografie-Teil.

Anmerkung:
1 Jeremy King, Ausgleiche. A Tradition of Political Settlement in East Central Europe, 1848 to the Present. Vortrag im Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Leipzig, 19. April 2000.

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