Die im vergangenen Jahr erfolgte Meldung, dass Schweden als erstes EU-Land allen syrischen Flüchtlingen Asyl gewährte, stieß in der Medienwelt auf ein breites Echo. Dass ausgerechnet das im peripheren Norden gelegene Land diesen Schritt unternahm, wurde jedoch ohne große Verwunderung aufgenommen, wird dessen Selbst- und Fremdbild doch seit Jahrzehnten durch die politische und mediale Darstellung als besonders einwanderungsfreundliches und in internationaler Konfliktlösung engagiertes Land bestimmt. Jedoch verdeutlichen nicht nur die hohe Zahl arbeitsloser Immigranten oder die Ausschreitungen in Stockholm im Frühjahr 2013, dass diese Betrachtung allzu einseitig ist. Umso erstaunlicher ist es, dass eine Untersuchung der historischen Genese Schwedens von einem ehemals sozial homogenen Auswanderer- zu einem multiethnischen Einwanderungsland bisher ausblieb oder allenfalls in – meist schwedischsprachigen – Teilanalysen untersucht wurde.
Mit dem von Mikael Byström und Pär Frohnert herausgegebenen Sammelband, der im Rahmen des vom Schwedischen Wissenschaftsrat geförderten Projekts „The Refugees and the ‚People’s Home’“ entstand, liegt nun erstmals eine Gesamtübersicht der schwedischen Flüchtlings- und Einwanderungspolitik im 20. Jahrhundert vor. Deren Ziel ist es, aktuelle geschichtswissenschaftliche Forschungsprojekte schwedischer wie internationaler Historiker/innen zusammenzuführen und in den Kontext der außenpolitischen Neutralität Schwedens und seines „Volksheim“-Modells einzubetten. Dazu wenden sich die Analysen ausdrücklich an ein englischsprachiges Publikum und sollen so die Anknüpfung an internationale Migrationsdiskurse ermöglichen. Die 16 Beiträge sind in fünf chronologische Zeitabschnitte einbettet, denen je ein historischer Abriss vorangestellt ist. Beginnend mit den 1930er-Jahren und dem Zweiten Weltkrieg analysiert das erste Kapitel die Anfänge schwedischer Flüchtlingspolitik, bevor im zweiten Kapitel ausgewählte Akteure in den Blick genommen werden. Im dritten Teil untersuchen die Autor/innen Schwedens Einwanderungspolitik und Gastarbeiteranwerbung während des Kalten Krieges, während im vierten Abschnitt auf die politischen und gewerkschaftlichen Reaktionen auf die Arbeitsmigranten und neue Flüchtlingsgruppen eingegangen wird. Das letzte Kapitel schließt mit einer internationalen Perspektivierung der Ergebnisse.
Die herausragende Stärke von Byströms und Frohnerts Veröffentlichung ist die Diversität ihrer Beiträge und die Betrachtung wichtiger Sachverhalte aus verschiedenen Perspektiven, ohne dass dabei der „rote Faden“ verloren geht. Hier ist insbesondere der durch die Kapiteleinführungen hergestellte Zusammenhang hervorzuheben, der den historischen, politischen und wirtschaftlichen Rahmen der Analysen liefert. Daneben machen auch Querverweise auf andere Beiträge die Kontinuitäten, Brüche und Abhängigkeiten der untersuchten Gebiete nachvollziehbar. Gleichzeitig ergibt sich aus diesem wiederholten Rekurs auf den historischen Kontext jedoch der Nachteil, dass Schweden und vor allem seine spezifische wohlfahrtsstaatliche Ausprägung allzu sehr als forschungsgeschichtliches „Exotikum“ erscheint, das der ausführlichen Erläuterung bedarf. Die dadurch entstehenden Wiederholungen mögen für Leser, welche mit der schwedischen Geschichte weniger vertraut sind, durchaus hilfreich sein, andere werden sich jedoch dazu verleitet fühlen, die entsprechenden Abschnitte zu überspringen.
Doch nicht nur in den Einführungstexten, auch in den Beiträgen selbst überwiegt eine klare Fokussierung auf die Entwicklung des „Volksheims“ sowie die Rolle von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, mit denen sich immerhin knapp die Hälfte der Autoren auseinandersetzt. Die Bedeutung des Wohlfahrtsstaates für die schwedischen Gesellschaftsstrukturen wird dabei leider zugunsten einer äußerst politik- und gesetzesorientierten Darstellung vernachlässigt. Hingegen gelingt es wesentlich besser, den Wohlfahrtsstaat mit seiner Einwanderungspolitik in Bezug zu setzen, wozu, wie die ersten Beiträge des Bandes zeigen, vor allem die Gegenüberstellung verschiedener Forschermeinungen beiträgt: Mit der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, so die These Klas Åmarks, wurden Flüchtlinge bereits früh in die vorhandenen Sozialprogramme integriert, wozu in erster Linie die enge Verbindung zwischen den staatlichen Ämtern und der Arbeiterbewegung beigetragen habe. Kritischer urteilt Karin Kvist Geverts in ihrem Vergleich der schwedischen Flüchtlingspolitik mit weiteren neutralen Staaten wie der Schweiz, Dänemark, Großbritannien und den USA, in welchem sie den schwedischen Behörden einen vergleichsweise ausgeprägten, versteckten Antisemitismus bescheinigt, der sich durch erschwerte Einreisebedingungen und Auswahlkriterien für jüdische Flüchtlinge äußerte. Diese „Janusköpfigkeit“ (S. 62) ist bei weitem nicht der einzige Kritikpunkt dieses Bandes an der schwedischen Einwanderungspolitik während der Zeit des Nationalsozialismus. Auch die Beschäftigung mit gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen ist zu nennen, die dem Leser eine differenzierte Sichtweise auf ein außerhalb Schwedens weitgehend unbekanntes Themenfeld bietet, wie etwa Pontus Rudbergs Beitrag zur Jüdischen Gemeinde in Stockholm und ihrem abweisenden Verhalten gegenüber jüdischen Flüchtlingen, insbesondere aus Osteuropa. Letztes bestätigt auch Malin Thor Tureby in ihrer Untersuchung der schwedisch-jüdischen Presse und ihrer Berichterstattung über die Holocaustüberlebenden: So engagierten sich schwedische Juden zwar für die Flüchtlinge, wahrten jedoch gleichzeitig Distanz und erschwerten dadurch deren Integration in die eigene Gruppe.
Hierin zeigt sich eine weitere Stärke des Bandes, nämlich der durchgehend kritische Blick der Beitragenden, ohne einer allzu positivistischen Darstellung zu verfallen. Die angewandten Methoden sind durchaus vielfältig, so dass sich die Frage stellt, ob die Untersuchung der schwedischen Einwanderung nicht auch in Kooperation mit anderen Fächern wie der Soziologie, Politik- oder Kulturwissenschaft hätte erfolgen können. Gleichzeitig ist es jedoch, wie die Herausgeber betonen, besonders für die Geschichtswissenschaft wichtig, einseitige Geschichtsbilder und Mythen zu relativieren. Diese Aufgabe erfüllt der Sammelband in mehrerer Hinsicht. Beachtung verdient der Beitrag Paul A. Levines, in welchem er den Mythos über den „Judenretter“ Raoul Wallenberg hinterfragt1 und zu dem Schluss kommt, dass an der Umsetzung der Budapester Rettungsaktion viele Faktoren zusammentrafen: „There can be no doubt that, in fact, Wallenberg represents both political continuity emanating from his government’s policies and the heroic exceptionalism which was the result of his own personality, intelligence, and character“ (S. 132).
Die Beiträge über den Zeitraum zwischen 1950 und 1970, als sich das schwedische „Volksheim“ in Kombination mit dem Wirtschaftsaufschwung der Nachkriegszeit besonders stark ausprägte, zeichnen sich durch innovative, zum Teil empirische Fallanalysen aus, die ihren Fokus auf eher vernachlässigte Gruppen von Einwanderern richten und Anstoß zu weiteren Forschungsprojekten in diesem Bereich geben. Geschildert werden die Bemühungen zur Anwerbung ungarischer Gastarbeiter und deren Rolle auf dem schwedischen Arbeitsmarkt (Attila Lajos), die exemplarischen Erfahrungen und Erinnerungen estnischer Arbeiter in einem Autozulieferbetrieb und ihre Auseinandersetzung mit den Gewerkschaften (Johan Svanberg) sowie die Auswirkungen des Kalten Krieges auf die schwedische Einwanderungspolitik gegenüber Balten, Ingermanländern und Sowjetrussen (Cecilia Notini Burch).
Was in den verbleibenden Kapiteln deutlich wird und dem Sammelband leider zum Nachteil gereicht, ist der fast vollständig ausgeklammerte Bezug der historischen Entwicklung zur aktuellen Lage von Einwanderern. Einzig Christina Johansson hinterfragt in ihrem Beitrag „Beyond Swedish self-image“ das Eigenverständnis Schwedens als führendes Einwanderungsland mit vorbildlicher Integrationspolitik und kommt zu dem Schluss, dass in den vergangenen Jahrzehnten zwar eine große Anzahl von Flüchtlingen aufgenommen wurde, Ethnizität und Religion jedoch bei der Regulierung der Einwanderung weiterhin eine bedeutende Rolle spielen. „Sweden, like many other nation-states, also gives houseroom to an excluding logic that shows that there is a relation between state, nation, and migration policy that makes few migrants welcome in Sweden“(S. 285). Die Immigration internationaler Flüchtlinge, etwa aus Chile, dem ehemaligen Jugoslawien oder Somalia wird zwar angerissen, jedoch nicht vertiefend thematisiert. Dies mag der Tatsache geschuldet sein, dass zeitgeschichtliche Forschungen dazu noch nicht existieren, doch hätten die Herausgeber auf Untersuchungen aus anderen Disziplinen verweisen können, beispielsweise aus der Soziologie oder den Migration Studies. So entsteht der Eindruck einer Konzentration auf weniger aktuelle Kontroversen und einer eurozentrischen Perspektive, womit der Band einiges an Diskussionspotential verspielt.
Trotz kleinerer Schwächen bietet das Werk einen hohen Informationsgehalt wie auch einen guten, tiefgründigen Einstieg in die Thematik und verpasst auch die Anknüpfung an internationale Debatten nicht. Der Titel „Reaching a State of Hope“ lässt sich vor den durchaus ambivalenten Untersuchungsergebnissen eher als Frage denn als feststehendes Postulat verstehen und regt zu einer weiteren Beschäftigung mit der schwedischen Einwanderungsgeschichte an. Lücken in der Darstellung sind aus diesem Grund verzeihlich, zudem sich nach jedem Beitrag weiterführende Literaturverweise finden, wenn auch meist auf schwedisch. Mit einem Abkürzungsverzeichnis und einer Kurzvorstellung aller Autoren schließt der Band, doch hätte man sich aufgrund der Detailfülle auch gerne ein Sach- und Personenregister sowie gegebenenfalls einige Bilder oder Grafiken gewünscht.
Anmerkung:
1 Paul Levine, Raoul Wallenberg in Budapest. Myth, History and Holocaust, Portland 2009. Wallenbergs Aufenthalt in Budapest wurde angesichts seines 100. Geburtstags im Jahr 2012 mittlerweile von mehreren Forschern kritisch betrachtet und zu seinem außenpolitisch-diplomatischen Umfeld in Bezug gesetzt.