T. Valuch: Magyar hétköznapok [Ungarische Alltage]

Titel
Magyar hétköznapok. Fejezetek a mindennapi élet történetéből a második világháborútól az ezredfordulóig [Ungarische Alltage. Kapitel aus der Geschichte des Alltagslebens vom Zweiten Weltkrieg bis zur Jahrtausendwende]


Autor(en)
Valuch, Tibor
Erschienen
Budapest 2013: Napvilag
Anzahl Seiten
344 S.
Preis
3600 HUF
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fruzsina Müller, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Die Konsum- und Alltagsgeschichte hat sich seit gut zwei Jahrzehnten zu einem etablierten Teilgebiet der internationalen Forschung über den Staatssozialismus entwickelt. Das trifft vor allem auf die DDR-Geschichte zu, aber ebenso zur Sowjetunion und zu anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks wurden inzwischen überzeugende Studien vorgelegt.1 In den letzten Jahren wuchs die Zahl der Publikationen auf diesem Gebiet auch in Bezug auf Ungarn, wobei nicht nur eine methodische, sondern auch eine analytisch-qualitative Ausdifferenzierung festzustellen ist: Während die erste konsumgeschichtliche Studie aus den 1990er-Jahren eine soziologische – auf der Grundlage der teilnehmenden Beobachtung basierende – Perspektive charakterisierte 2, erschienen in den letzten Jahren vermehrt Arbeiten, die historische Quellen und Methoden verwendeten 3. Viele dieser Werke stammen von einer neuen Historikergeneration, die sich gegen das traditionelle Übergewicht der Politikgeschichte in der ungarischen Historiographie positioniert und nicht vor kulturwissenschaftlichen, sozial-, mikro- und alltagsgeschichtlichen Fragestellungen zurückschreckt.

Zu dieser neuen Generation gehört Tibor Valuch, der sich mit zahlreichen Publikationen im Bereich der Sozial- und speziell Bekleidungsgeschichte Ungarns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Namen gemacht hat. Der vorliegende Band zur Alltagsgeschichte Ungarns zwischen 1938 und 2000 bündelt die Ergebnisse seiner Forschungstätigkeit während der letzten zehn Jahre. Obgleich Valuch bereits zahlreiche Studien zu einzelnen Themenbereichen in Zeitschriften und Sammelbänden veröffentlichte, hat eine Zusammenführung in Buchform ihren Sinn, da sie mit zahlreichen gut erklärten (leider nur schwarz-weißen) Fotos aufwartet. Valuchs Fragestellung betrifft die „Ordnung, Organisation und materielle Kultur des Alltagslebens in der ungarischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 19.), die er aufgrund der Einkommens- und Wohnverhältnisse, sowie des Konsums, der Bekleidung und der Ernährung untersucht. Insbesondere interessieren ihn der gesellschaftliche Wandel und dessen Manifestation in Praktiken der individuellen Repräsentation durch Konsum und deren Wechselwirkungen mit der Politik. Praktisch legt Valuch hier eine plausible Mischung aus historischer Soziologie und Konsumgeschichte vor, die er implizit als Teil der Alltagsgeschichte versteht. Konsum ist bei ihm das wichtigste Element, das Gesellschaft, Wirtschaft und Mentalität des Alltags formt. Diese Ansicht bringt er – anstelle der „traditionellen“ ereigniszentrierten Darstellungen – in einer konsumgeschichtlich orientierten Periodisierung des untersuchten Zeitraums zum Ausdruck. Er teilt die Zeit zwischen 1938 und 2000 in vier Phasen: Die erste (1938–1949) war einerseits von Mangel, andererseits von schrittweiser Konsolidierung und Stabilisierung der Versorgung geprägt. In der zweiten Phase (1949–1965) kehrte zunächst ein politisch-ideologisch bedingter Mangel zurück, der nach 1956 korrigiert werden sollte. In der dritten Phase der „eingeschränkten Prosperität“ (1965–1989) konnten die quantitativen Ansprüche schrittweise, die qualitativen Ansprüche teilweise befriedigt werden. Die (halb)legalen Konsummöglichkeiten erweiterten sich (z.B. durch Einkaufstourismus), der Konsum etablierte sich als wichtiges Ausdrucksmittel des gesellschaftlichen Prestiges. In der vierten – bis heute andauernden – Periode entwickelte sich der Konsum rasch zum organischen Teil, in vielerlei Hinsicht sogar zum steuernden Element der Alltagskultur.

Diese Periodisierung dient Valuch gleichwohl eher zur Orientierung und wird nicht zum strukturierenden Element des Buches gemacht. Die Gliederung folgt vielmehr thematischen Schwerpunkten: 1. Einkommensverhältnisse, Preise, Löhne, Ungleichheiten; 2. Konsum; 3. Wohnungsverhältnisse und Wohnkultur; 4. Bekleidungskultur und Mode; 5. Ernährung, Essgewohnheiten. Im ersten Kapitel wird für die sozialistische Zeit festgestellt, dass die Einkommensverhältnisse aufgrund von politisch-ideologischen Überlegungen nivelliert wurden. Während die Löhne einiger Berufsgruppen (z.B. im Bergbau oder in der Schwerindustrie) relativ hoch gehalten wurden, bekamen Beschäftigte im Bildungs- und Gesundheitswesen, Dienstleistungsbereich oder in der Landwirtschaft verhältnismäßig wenig Gehalt. Durch die Einführung der finanziellen Motivation (Prämien, Gewinnbeteiligung) im Zuge der Wirtschaftsreform von 1968 kam es zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Einkommensverhältnisse und zur Verbreitung des mehrfachen Beschäftigungssystems: Immer mehr Arbeitnehmer gingen einer Zweit- oder sogar Drittbeschäftigung nach. In den 1970–1980er-Jahren war davon fast ein Dreiviertel der ungarischen Familien betroffen. Dem Ausgeben oder Ansparen der solcherart vielschichtigen Einkommen waren aber Grenzen gesetzt: einerseits die physischen Schranken der Planwirtschaft, andererseits der diskursive Rahmen der sozialistischen Gesellschaft. Diese führten zu eigenartigen Strategien, beispielsweise zur Verheimlichung der Einkommen oder zu irrationalen Konsumgewohnheiten. Folgt man auf der anderen Seite einer Statistik von 1972, lebte rund ein Zehntel der Bevölkerung auf dem niedrigsten Einkommensniveau.

Im zweiten Teil des Bandes werden Zahlen, Daten, Orte und Diskurse des Konsums präsentiert. Hier wird abgewogen, inwiefern die weit verbreitete These über den „großen Ausgleich“ zutrifft, nach der die Staatspartei Zugeständnisse im Konsum gewährte und im Gegenzug eine politisch zumindest neutrale Haltung von der Bevölkerung erwartete. In Valuchs Interpretation erfolgte eine von oben initiierte „Wohlstandswende“ in der Kádár-Zeit (1956–1989), die dem Erhalt des Einparteiensystems diente und keine Abwendung von den grundlegenden politischen und ideologischen Zielen bedeutete. Der Begriff „Konsumkultur“ könne zwar für die sozialistische Zeit in Ungarn verwendet werden, jedoch verberge sich dahinter eine andere Bedeutung, als die in den westeuropäischen und nordamerikanischen Sozialwissenschaften übliche. Der dritte Teil zeigt ein breites Spektrum des Themas Wohnen, von der Wohnungspolitik und seiner Umsetzung über die verschiedenen Wohnverhältnisse auf dem Lande, im Neubau, in der Untermiete, im Arbeiterwohnheim bis zur Inneneinrichtung der Wohnungen. Nicht weniger lesenswert fällt der vierte Teil aus, in dem die Karriere der Bekleidung vom grundlegenden Bedürfnis bis zum gesellschaftlichen Status markierenden Konsumgut nachgezeichnet wird. Im vierten Teil wird eine ähnliche Entwicklung zum Thema Essen vom Hunger bis zum „Gulaschkommunismus“ aufgezeigt, wobei regionale, wohnorts- und bildungsbedingte sowie Generationsunterschiede zu berücksichtigen sind.

Valuch zieht unter Rückgriff auf den Modernisierungsdiskurs Bilanz: Die Kádár-Zeit als längste friedliche Periode des 20. Jahrhunderts brachte den Ungarn einen umfassenden gesellschaftlichen, Lebensart und Lebensstil verändernden Wandel. Die Eckpunkte dieser Entwicklung ließen sich mit den jeweils wichtigsten Konsumgütern der wandelnden Jahrzehnte ausmachen. Während in den 1960er-Jahren die Lebensmittel als Hauptkonsumgut galten („Gulaschsozialismus“), standen in den 1970ern die Wohnung und ihre Einrichtung, sowie langlebige Konsumgüter im Mittelpunkt der Konsumwünsche („Kühlschranksozialismus“). Trotz einer derart klaren Erhöhung der „Zivilisierungsstandards“ (S. 323.) sollte aber die Widersprüchlichkeit der sozialen Verhältnisse und die Verwischung der Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit nicht außer Acht gelassen werden. Der Konsumwandel, so Valuch, war ein vom politischen System mehr oder weniger unabhängiger Zivilisationsprozess, diente aber als Grundlage der Konsolidierungspolitik des Systems Kádár. Dieses nutzte die privaten Initiativen (Wohnungsbau, Einkaufstourismus, Eigenanbau von Obst und Gemüse, Zweit- und Drittjobs in der Schattenwirtschaft usw.) und beutete letztlich die Gesellschaft aus.

Tibor Valuch legt mit den „Ungarischen Alltagen“ ein breit konzipiertes, quellengesättigtes Buch vor. Ihm gelingt eine gut lesbare und präzise Langzeitdarstellung von konsum- und alltagsgeschichtlichen Problemen der ungarischen Gesellschaft. Er diskutiert Begriffe der internationalen Forschung und prägt auf innovative Weise eine konsumhistorische Periodisierung. Kritisch muss die von ihm – vielleicht unbeabsichtigt – aufgemachte Dichotomie zwischen Machthabern und Gesellschaft betrachtet werden. Außerdem fällt eine begriffliche Unschärfe auf, die für die ungarische Zeitgeschichtsforschung allgemein charakteristisch ist: Anstelle der Benennung der staatlichen oder Parteiakteure werden durchgehend allgemeine Begriffe wie „Politik“, „Macht“, „Staat“ oder schlicht „man“ verwendet. Methodisch stellt sich zudem die Frage, in wie weit in der Zeitgeschichtsschreibung Aussagen getroffen werden können, die aus dem persönlichen Erleben der beschriebenen Zeit stammen. Insgesamt liegt ein sowohl aus Sicht des fachlichen, als auch des interessierten Laienpublikums lesenswertes alltags- und konsumhistorisches Buch vor, das als fundierte Grundlage weiterer Forschungen dienen kann und soll.

Anmerkungen:
1 z.B. Ina Merkel, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999; Natalya Chernyshova, Soviet Consumer Culture in the Brezhnev Era, London 2013; Anna Pelka, Jugendmode und Politik in der DDR und in Polen. Eine vergleichende Analyse 1968–1989, Osnabrück 2008; Jerzy Kochanowski, Jenseits der Planwirtschaft. Der Schwarzmarkt in Polen, 1944–1989 (= Moderne europäische Geschichte 7), Göttingen 2013 (Polnisches Original von 2008).
2 Tibor Dessewffy / Ferenc Hammer, A fogyasztás kísértete [Geist des Konsums], in: Replika 26 (1997), S. 23–45.
3 z.B. Sándor Horváth, Kádár gyermekei. Ifjúsági lázadás a hatvanas években [Kádárs Kinder. Jugendprotest in den sechziger Jahren], Budapest 2009; Sándor Horváth, Két emelet boldogság. Mindennapi szociálpolitika Budapesten a Kádár-korban [Zwei Etagen Glück. Alltägliche Sozialpolitik in Budapest der Kádár-Zeit], Budapest 2012; György Majtényi, K-vonal. Uralmi elit és luxus a szocializmusban [K-Linie. Machtelite und Luxus im Sozialismus], Budapest 2009; Béla Tomka, Gazdasági növekedés, fogyasztás és életminőség. Magyarország nemzetközi összehasonlításban az első világháborútól napjainkig [Wirtschaftswachstum, Konsum und Lebensqualität. Ungarn im internationalen Vergleich vom ersten Weltkrieg bis heute], Budapest 2011; Eszter Zsófia Tóth, „Puszi Kádár Jánosnak“. Munkásnők élete a Kádár-korszakban mikrotörténeti megközelítésben [„Küsschen an János Kádár“. Das Leben von Arbeiterinnen in der Kádár-Ära aus mikrogeschichtlicher Perspektive], Budapest 2007.

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