Treffen sich ein Ami, ein Ossi und ein Wessi und blicken nach einem Vierteljahrhundert auf die Einheit zurück. Was wie der Beginn eines Stereotypen-Witzes anmutet, ist tatsächlich ein ungewöhnliches Strukturmerkmal des von Konrad H. Jarausch herausgegebenen Sammelbandes „United Germany. Debating Processes and Prospects“. Bevorzugt für ein US-amerikanisches Akademiker-Publikum will dieser eine multiperspektivische Zwischenbilanz vorlegen; die Zäsur 1989/90 solle als ein „starting point“ begriffen werden, der die deutsche Zeitgeschichte an die unmittelbare Gegenwart heranführe, in der das vereinte Deutschland durch Wiedervereinigung und Globalisierung massiven Wandlungsprozessen unterworfen sei. Als aufmerksamer Zeitzeuge, umtriebiger Zeithistoriker und engagierter Wissenschaftsmanager im transatlantischen Zwischenraum erscheint Jarausch als Moderator bestens qualifiziert, wenn es darum geht, den zeitgenössisch zwischen Ost und West hochumstrittenen Vereinigungsprozess differenziert zu diskutieren, um so schlussendlich „successes and failures of the unification process“ (S. 3) beurteilen zu können.1
Der Herausgeber begegnet den Herausforderungen einer gegenwartsnahen Zeitgeschichtsforschung (Unabgeschlossenheit, Distanzmangel, Literaturlage, Quellenzugang) mit einem Dreischritt: Erstens soll eine Drittelparität aus amerikanischen, ost- und westdeutschen Autoren Gewähr dafür bieten, die differierenden Sichtweisen auf die jeweiligen Themenkomplexe ausgewogen zu repräsentieren. Zweitens versammelt er eine interdisziplinäre Forschergemeinde aus Politikwissenschaftlern, Soziologen, Erziehungswissenschaftlern, Germanisten und Historikern, um bereits zeitgenössisch etablierte Exponenten der damaligen „Transformationsforschung“ direkt zu Wort kommen zu lassen. Und drittens gliedert er das Debattenfeld in fünf Themengebiete, um jeweils Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur und internationale Beziehungen behandeln zu können.
„Political Processes“ eröffnen den Band. Zur Diskussion stehen die langfristigen Wirkungen des Institutionentransfers des altbundesdeutschen „politischen Systems“ nach Ostdeutschland. Gero Neugebauer untersucht den Wandel des Parteiensystems nach 1990 und konstatiert neben fortbestehenden Unterschieden auch Angleichungsprozesse im Osten. Heinrich Bortfeldt betont hingegen die Tragik, dass eine reformbedürftige Institutionenordnung ostwärts übertragen wurde: Geschichtspolitische Kontroversen über die DDR und mangelnde Präsenz Ostdeutscher in Führungspositionen hätten diesen eine Aneignung erschwert; ihre Enttäuschungs- und Entfremdungserfahrungen vergleicht er mit denjenigen in Westdeutschland lebender Migranten. Demgegenüber diskutiert Helga A. Welsh die Diskurse über die „Innere Einheit“ aus einer Metaperspektive und fragt nach Spezifika des innerdeutschen Integrationsprozesses im Modus einer kollektiven Identitätsdebatte. Welsh geht es um die diskursiven Formationen und Konfrontationen zwischen Ost und West, die auf den Zielbegriff einer (sehr unterschiedlich ausgedeuteten) „inner unity“ ausgerichtet waren und mittelfristig durch andere Diskurse (zu Globalisierung oder Europäisierung) modifiziert und überlagert worden seien.
Der Band wendet sich anschließend den „Economic Problems“ zu. Wen trifft die „Schuld“ für die wirtschaftlichen Verwerfungen beim Übergang von Plan zum Markt? Nicht die Treuhandanstalt, meint Wolfgang Seibel, der die Organisation nicht als „neoliberale“ Räuberbande, sondern als funktional erfolgreiches, weil anpassungsfähiges Gebilde beschreibt, das sich durch „structural elasticity“ sowie „symbolic usefulness“ ausgezeichnet habe (S. 101). Für Rainer Land waren es Konzeptlosigkeit und Unentschlossenheit von Reformkommunisten und ostdeutschen Oppositionellen, die die Wähler im März 1990 für einen schnellen Zusammenschluss mit der bundesdeutschen Wirtschaft habe votieren lassen. Jonathan R. Zatlin widerspricht seinen Mitautoren nicht, wobei er stärker auf die Vorgeschichte der defizitären Zentralverwaltungswirtschaft verweist. Im Februar 1990 sei Helmut Kohls Entscheidung, der DDR eine sofortige Wirtschafts- und Währungsunion anzubieten, zwar angesichts der innerdeutschen Wanderungsströme politisch „brillant“ gewesen, hätte aber massive Langzeitfolgen ausgelöst. Letztlich herrscht unter den Autoren Einigkeit: Die politisch motivierte und schnell vollzogene Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion im Sommer 1990 war die einschneidende wirtschaftshistorische Zäsur, die die ökonomischen Verwerfungen der 1990er-Jahre verursacht habe.
Einzig beim Themenkreis „Social Upheaval“ kommen mehrheitlich Forscherinnen zu Wort, es geht um Frauen und Feminismus. Ute Gerhard identifiziert das Jahr 1989 als „feminist turning point“, der die seit den späten 1960er-Jahren aufkommenden emanzipatorischen Dynamiken durch einen „Triumph des Vaterlandes“ konterkariert und den sich in den 1980er-Jahren etablierenden Feminismus in die Defensive gedrängt habe. Nach 1990 habe sich eine Kluft zwischen Frauen in Ost und West aufgetan, deren Verständnis von „Emanzipation“ und Geschlechterrollen erheblich differierte. Ingrid Miethe zeichnet dies für die organisierte Frauenbewegung detailliert nach: Einem euphorischen Aufbruch, der zügig Differenzen offenbar werden ließ, sei ab 1994/95 ein „Boom“ der Frauenforschung unter westlicher Ägide gefolgt, der zum Ende der 1990er-Jahre in gegenseitigem Rückzug gemündet sei. Nach der Jahrtausendwende habe sich der westliche Feminismus stärker gewandelt, was eine Wiederannäherung befördert habe. Diesen internalistischen Fokus der deutsch-deutschen Gender-Debatte will Mayra Marx Ferree aufbrechen. Ihr geht es darum, diese für die „intersectionality“ einander überlagernder sozialer Ungleichheiten (Klasse, Ethnizität, Alter, Sexualität) zu sensibilisieren.
Die vierte Sektion befasst sich mit dem „Cultural Conflict“ nach 1990, wobei die Literaturlandschaft ausgemessen werden soll. Klaus R. Scherpe unterscheidet einander ablösende Reflexionstendenzen: Nach einem Heldensturz prominenter „DDR-Autoren“ wie Christa Wolf habe zunächst postheroische „Tristesse“ vorgeherrscht, bevor diese von jüngeren Autoren wie Ingo Schulze im Modus der Ironie überwunden worden sei; die Suche nach dem „Wende-Roman“ deutet Scherpe als feuilletonistische Heldensehnsucht. Frank Hörnigk wird seiner Aufgabe, eine Ost-Perspektive zu formulieren, durch eine persönliche Rückschau gerecht, in der er die ost-westlichen Irritationen retrospektiv als Abfolge individueller Desillusionierungen, Abwicklungen und Entwertungen beschreibt. Für Frank Trommler war es der „painful exit“ der deutschen Kulturschaffenden aus der festgefügten Gedanken- und Ideenwelt des „Kalten Krieges“ und der Teilung, die fundamentale kulturelle Referenzsysteme gewesen seien. Auf deren Verlust seien Abrechnungen und Schweigen gefolgt, an die Stelle der literarischen Gegenwartsreflexion seien ökonomische Aufrechnungen und kollektivpsychologische Konfrontationen im (post-)nationalen Kulturkonflikt zwischen Ost- und Westdeutschen getreten, die sich gerade im Außenblick als faszinierendes „Mysterium“ erwiesen hätten.
Drei Beiträge zur „International Normalization“ beschließen den Band, die sich mit dem Spannungsfeld von Wandel und Kontinuität in der Außenpolitik nach 1990 auseinandersetzen. Beate Neuss befasst sich mit der „Normalization“ des deutschen Selbstverständnisses einer „Civilian Power“, das durch eine wachsende Zahl und steigende Intensität an Bundeswehr-Auslandseinsätzen in der Praxis erhebliche Modifikationen erfahren habe, ohne jedoch von Politik, Öffentlichkeit und Gesellschaft ideell aufgegeben worden zu sein. Erhard Crome diagnostiziert ebenfalls, dass die veränderte Rolle der Bundesrepublik in Europa und der Welt nicht zu einer Debatte über das eigene Selbstverständnis geführt habe, obwohl die internationale Politik nach Ende des Ost-West-Konfliktes nicht zu neuen, sondern zu alten Formen multipolarer Unübersichtlichkeit zurückgekehrt sei. Während die deutschen Autoren diese zwischen Kontinuität und Anpassung oszillierende Entwicklung begrüßen, macht sie Andrew I. Port zum Ausgangspunkt seiner kritischen Intervention: Das fallweise Lavieren zwischen Engagement (Kosovo, Afghanistan) und Isolation (Irak, Libyen) erscheint ihm im Außenblick als eine „erratic evolution“, bei der außenpolitische Wahrnehmungen den Herausforderungen auf unberechenbare Weise hinterhergelaufen seien.
Was bleibt also? Bemerkenswert ist der Umgang der jeweiligen Autoren-Trios mit der Vorgabe, ihre spezifischen Sichtweisen zu repräsentieren. Mit dieser ungewöhnlichen, erkennbar US-amerikanisch geprägten Grundidee, perspektivische Ausgewogenheit qua Identität (und/oder Interdisziplinarität) herzustellen, fremdeln zwar einige Autoren merklich. Der möglicherweise zu erwartende Dreischritt von der affirmativen These (West) über die klagende Antithese (Ost) hin zur einordnenden Synthese (USA) stellt sich allerdings nicht recht ein: Insgesamt wird deutlich, dass die deutschen Autoren in ihren Bewertungen gar nicht weit auseinanderliegen und betont differenzierende Sichtweisen einnehmen. Es sind die Amerikaner, die den Erwartungen folgen und stärker übergeordnete Metaperspektiven auf die innerdeutschen Dynamiken anmahnen. Die zeitgenössischen Ost-West-Gegensätze haben sich merklich abgeschliffen. Insgesamt wird jedoch kritisch zu diskutieren sein, ob die formulierte Leitfrage nach „Erfolgen“ oder „Misserfolgen“ der „Einheit“ historiographisch wirklich weiterführend ist – oder ob es nicht an der Zeit ist, die zeitgenössische „Transformationsforschung“ selbst in einer langfristigen Perspektive zu historisieren und zugleich den Fokus stärker von Ostdeutschland als exklusivem Objekt weg zu verschieben.2 Schließlich soll es beim imaginären Treffen von Ami, Ossi und Wessi am Ende ja nicht heißen: Im Jahr 1990 war das „Ende der Geschichte“ tatsächlich gekommen – nämlich für den alten Westen.
Anmerkungen:
1 Vgl. exemplarisch Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit. 1989–1990, Frankfurt am Main 1995.
2 Dazu jüngst Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014.