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Titel
Delitto e perdono. La pena di morte nell'orizzonte mentale dell'Europa cristiana. XIV–XVIII secolo


Autor(en)
Prosperi, Adriano
Erschienen
Turin 2013: Einaudi
Anzahl Seiten
577 S.
Preis
€ 44,14
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Calí, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der Körper und seine Wahrnehmung werden immer häufiger zum Untersuchungsgegenstand der Kulturgeschichte. Mit dieser Publikation, die sich mit der Todesstrafe in der Frühen Neuzeit in italienischen Städten auseinandersetzt, wird dieses steigende Interesse auch seitens der italienischen Forschung bestätigt. Dem Autor sind zwei grundlegende Verdienste zuzuschreiben: zum einen die Kontextualisierung der Todesstrafe im Rahmen der öffentlichen anatomischen Zurschaustellungen während der Karnevalsfeiern, zum anderen die Aufwertung des Körpers als primäres Motiv hinter der Tröstung der Zum-Tode-Verurteilten durch die Bruderschaft von San Giovanni Decollato. Vor allem dieser zweite Aspekt eröffnet eine neue Perspektive innerhalb der historischen Katholizismusforschung, da vorherige Studien auf diesem Forschungsfeld bisher hauptsächlich die Kontrolle über das Gewissen durch die Praxis des Geständnisses untersucht haben. Im Gegensatz dazu richtet sich Adriano Prosperis Untersuchung auf das Versorgen des Körpers und des Leichnams der Zum-Tode-Verurteilten.

Der Titel der Studie verweist auf Dostojewskis Meisterwerk „Verbrechen und Strafe“, wobei der Akzent in der hier vorgestellten Publikation auf der christlichen Praxis des Verzeihens liegt. Prosperi nähert sich den oben erwähnten Themen unter anderem durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Fällen. Ein Beispiel dafür ist ein Bericht von Amnesty International über das Schicksal der heutigen Verurteilten in den USA. Ihnen wird nach Vollzug der Todesstrafe kein Begräbnis mit ihrem Namen zuteil, sondern lediglich eine „Nummer“, welche für die Gegenwart ihres Körpers steht. Einen weiteren Anstoß zu Prosperis Untersuchung gab die Todesproklamation von Osama Bin Laden durch die Worte des Präsidenten der Vereinigten Staaten im Mai 2011: „Justice has been done“. Woher kommt eine solche Einstellung, die Gerechtigkeit nur dort walten sieht, wo ein Verbrechen mit dem Tod gerächt wird? Und woher kommt die feierliche Atmosphäre, in welcher die Nachricht über den Tod eines für die staatlichen Institutionen mutmaßlich gefährlichen Subjekts stattfindet? Hier knüpft der Autor an Huizingas „Herbst des Mittelalters“ an: Von dessen Thesen über die Entstehung einer neuartigen Grausamkeit innerhalb der juristischen Verfahren im Spätmittelalter, die sich der fiktiven Inszenierung der Schauspiele nähert, ausgehend, entfaltet Prosperi seine Untersuchung. Sie baut auf fundierte historiographische Kenntnisse sowie auf Quellenstudien in Archiven – ganz in der Tradition der italienischen Historiographie, insbesondere der Mikrohistorie.

Ein zentraler Punkt der Publikation ist dabei die Darstellung des Streits zwischen religiöser und politischer Macht über die Behandlung der Verurteilten und die Rechtfertigungen, die beide Instanzen dafür anführen: einerseits die christliche Theologie mit dem Bild des gekreuzigten Christus als dem Verurteilten schlechthin; andererseits das kulturelle Erbe der germanischen Völker, bei denen die Todesstrafe – von paganen Ritualen geprägt, in denen das Versorgen sowohl der Seele auch als des Körpers der Verurteilten nicht vorgesehen war – als Sühneopfer galt, und kein Anspruch auf Schadensersatz und Rehabilitation bestand. Der Streit um die Kompetenzbereiche zwischen Kirche und Staat entspricht dem augustinischen Dualismus zwischen göttlicher und irdischer Stadt, der seinerseits als Symbol der Trennung zwischen der unsterblichen Seele und dem Körper in seiner Vergänglichkeit gilt. Anfänglich richtete sich das Interesse der Kirche ausschließlich auf die Rettung der Seele des Verurteilten, die sich durch die Sakramente der Buße und des Abendmahls erreichen ließ: Die Praxis des Verzeihens seitens der Kirche musste gegen den säkularen rigor iustitiae durchgesetzt werden.

Der Körper der Zum-Tode-Verurteilten, welche in der Nacht vor ihrer Hinrichtung durch das Geständnis von ihren Sünden freigesprochen wurden, wurde allerdings seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zum „eigentlichen Protagonist[en] […] des gesamten Rituals der Seelenrettung“ (S. 339). Darin zeigt sich eine Verschiebung der Körperwahrnehmung und des Leib-und-Seele-Verhältnisses im Vorstellungshorizont der Zeit, die in die Richtung der Anerkennung der Zum-Tode-Verurteilten als individuelle und verantwortungsfähige Person geht. Einmal der Machtkontrolle entzogen, stand der Körper im Fokus der Anstrengungen der Bruderschaft von San Giovanni Decollato – der Körper eines Individuums, dessen Lebensende bevorstand und dessen Leichnam in ihrem Friedhof bestattet werden musste. Diese Aufmerksamkeit für das individuelle Schicksal der Leichen wurde vorher nicht gezeigt. Die Körper der Verurteilten, ebenso wie diejenigen von Juden, Heiden, Selbstmördern und ungetauften Säuglingen wurden von der Bestattung auf dem christlichen Friedhof ausgeschlossen. Diese Ausschlusspraxis diente der Errichtung und Reinhaltung eines anderen „Körpers“, der mit kollektiven-sozialen Konnotationen ausgestattet war: der Kirche, die als „corpus christianum“ figurierte.

Im zweiten Teil seiner Arbeit untersucht Prosperi die Vorstellungen und Praktiken, die sich gegenüber dem Körper des Verurteilten herausbildeten. Diese schwankten zwischen der Angst vor einer dämonischen Bedrohung der Gesellschaft, die den Verurteilten aus ihrem Zusammenleben ausgeschlossen hatte, und dem Glauben an eine überlebende Energie, die aus dem Fleisch und dem Blut der Leiche ausströme. Das Blut wurde seit jeher als wundertätige, vitalisierende Substanz angesehen und wurde oftmals an Epileptiker verteilt, die sich um die Richtstätte scharten. Die Gerichtsakten der Zaubereiprozesse beweisen, dass ein regelrechter Organhandel von Leichenteilen des Verurteilten im Hause des Scharfrichters stattfand, deren Besitz – so der Volksglaube – zum Gewinnen beim Glücksspiel, zur Eroberung der Liebe einer Frau oder zur Herbeiführung des Todes eines Feindes beitragen konnte. Ein wichtiger Zweck der Bruderschaften bestand auch im Ausschluss der Schlingen und Hinrichtungsseile vom Schwarzmarkt der Volksmedizin, die durch ein öffentliches Ritual verbrannt und deren Asche zerstreut werden musste. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das Verbot der weiteren Verwendung des Leichnams in von der katholischen Kirche nicht anerkannten Zauberkulten zum primären Ziel der Bruderschaften wurde.

Zuletzt wird ein weiterer Aspekt in der hier vorgestellten Publikation betont, welcher eher eine Anpassung der Bruderschaften an solche Praktiken zeigt: Die Körper derjenigen Verurteilten, die nicht freigesprochen wurden, und derjenigen, die einem niedrigen sozialen Kontext entstammten, durften in öffentlichen Zurschaustellungen verwendet werden. Auch in solchen Fällen stand der Körper im Zentrum des Interesses der katholischen Institutionen. Die Praxis solcher anatomischen Darbietungen – seit dem 15. Jahrhundert in den Quellen bezeugt –, die nichts mit dem Beweis wissenschaftlicher Hypothesen zu tun hatten, wurde zur Unterhaltung des Volkes während des Karnevals, des Festes, das die Umkehrung gesellschaftlicher Regeln und Ordnungen mit sich brachte, eingeführt. Zu diesem Zweck wurden die Körper seziert und präpariert. Anders als die Angst vor der Profanierung und dem Missbrauch des menschlichen Körpers zeigen die Quellen, dass die Reaktion des Volkes vor diesen Zurschaustellungen auffallend positiv war. Dementsprechend ist es wichtig zu bemerken, dass die Wahrnehmung solcher öffentlicher anatomischer Zurschaustellungen aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive nicht nur als exemplarische Strafe angesehen werden kann – so zumindest im italienischen Kontext.

Zum Schluss widmet Prosperi seine Aufmerksamkeit anderen Ländern: Er konzentriert sich vor allem auf das Alte Reich und Frankreich. Allgemein lässt sich beobachten, dass da, wo die Monarchie und die feudale Ordnung das Leben der Menschen am meisten prägten, die Behandlung der Leichen nach dem Tod des Verurteilten sowohl von den politischen und religiösen Institutionen als auch von der Gesellschaft kaum in Anspruch genommen wurde. Das ist vielleicht ein Signal, dass die These Prosperis, die Sorge für das individuelle Schicksal der toten Körper sei zum primären Interesse der katholischen Kirche geworden, verstärken könnte. Denn einerseits ist das steigende Interesse an den Körpern der Hingerichteten im Friedhof der Bruderschaften Spiegel der fortgeschrittenen Urbanitas im italienischen Kontext. Anderseits scheint die Kontextualisierung des Körpers innerhalb des theologischen Diskurses und der religiösen Praktiken Spiegel einer Besonderheit des Katholizismus: der Aufmerksamkeit für das Schicksal des individuellen Körpers der Zum-Tode-Verurteilten.

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