Der hier zu besprechende Sammelband hat sich einen recht ungewöhnlichen Untersuchungsgegenstand zum Thema genommen: den Fluss. Aufgrund seiner topographischen Beschaffenheit wird dem fließenden Gewässer zunächst einmal eine raumbildende Funktion zuerkannt, denn Flüsse prägen maßgeblich die Umgebung, die sie durchfließen. Damit sind der Band und seine insgesamt 22 Beiträge (Einleitung inbegriffen) forschungsgeschichtlich dem spatial turn verpflichtet. Die jeweils behandelten Flüsse sollen laut Einleitung als „fließende Räume“ (Susanne Rau, zitiert auf S. 91) verstanden und als soziale wie kulturelle Erfahrungsräume und Lebenswelten betrachtet werden. Im Fokus steht also das Handeln der Menschen vor dem Hintergrund der durch den Fluss gegebenen Rahmenbedingungen. Somit werden sowohl technische als auch soziale und kulturelle Praktiken untersucht. Aus diesem Ansatz ergibt sich aber auch die erkenntnisleitende Prämisse, dass sich die Erfahrungen mit dem Fluss auf die Mentalität der an ihm lebenden Menschen auswirkten. Das Wasser beeinflusste Handlungsweisen und förderte Innovationen. Dieser Aspekt des Themas steht in der mentalitätsgeschichtlichen Tradition Lucien Febvres und Claudio Magris’, die sich mit den symbolischen Zuschreibungen und Aufladungen von Flüssen befasst haben.
Damit ist der Fluss ein lohnenswerter Untersuchungsgegenstand der neueren Kulturgeschichte und ihrer impulsgebenden Nachbardisziplinen. Gerade der vergleichende Blick auf mehrere Flüsse und Flussregionen verspricht hier weiterführende Erkenntnisse. Die fächerübergreifende Perspektive wird zudem durch die Multifunktionalität von Flüssen begünstigt: Sie haben Grenz-, aber auch Verbindungs- und Transportfunktion, sind also Verkehrswege und darüber hinaus Nahrungs- und Energiespender, Gewerbe- und Industriestandorte, Schauplätze von Katastrophen sowie Motiv für Kunst und Literatur. Flüsse waren und sind somit Gegenstand der Literaturwissenschaft, der Mentalitätsgeschichte, der neueren Kulturgeschichte, der Umweltgeschichte und der Technikgeschichte.
Dieser Zugriff, Flüsse als „Subjekte von Geschichte“ zu betrachten, gibt dazu Gelegenheit, umfassende „Flussbiographien“ zu verfassen. Dieser Aufgabe haben sich die Autoren des Bandes im Vorfeld der Tagung „Leben am Wasser. Flüsse in Norddeutschland“ (19./20. Februar 2011, Museum für Hamburgische Geschichte)2 mit unterschiedlichen Schwerpunkten gestellt. Ortwin Pelc etwa betrachtet in einem Zeitraum von einem Jahrtausend (8. bis 18. Jahrhundert) den siedlungsgeschichtlichen Einfluss von Trave und Warnow (S. 17–54). Wolf Karge (S. 55–66) und Hansjörg Küster (S. 261–269) untersuchen anhand von Sude, Elbe und Ewer Flüsse hinsichtlich ihrer Funktion als Verbindungs-, Verkehrs- und Handelsweg. Den Konflikt zwischen Industrie und Umwelt thematisieren Wolfgang Muth am Beispiel des Lübecker Hochofenwerks an der Trave (S. 67–87) und Peter Danker-Carstensen (S. 167–211) mit einer Geschichte der Krückau. Daniel Frahm (S. 121–145), Detlev Kraack (S. 89–120), Claus Veltmann (S. 471–486) und Niels Petersen (S. 225–244) widmen sich dem Phänomen des „künstlichen Flusses“ anhand des Kanalbaus mit all seinen Schwierigkeiten. Den Fluss als Grenze, aber auch Kontaktzone in politischer und sozialer Hinsicht nehmen Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt (S. 213–224), Olaf Matthes (S. 245–259), Günther Bock (S. 271–303) und Horst Hoffmann (S. 305–318) in den Blick.
Eine vorwiegend wirtschaftsgeschichtliche Flussbiographie schreiben Hans-Georg Bluhm für die Stör (S. 147–166) und Hartmut Bickelmann für Geeste und Lune (S. 407–440). Die wirtschaftliche Bedeutung hat auch Annette Siegmüllers Beitrag zur Struktur von Landeplätzen und Ufermärkten im ersten Jahrtausend an Weser und Ems zum Gegenstand (S. 441–459).
Antje Sander betrachtet die sich verändernde Gestalt der Maade sowohl durch Umwelt- (Sturmfluten, Meeresspiegelerhöhungen) als auch menschliche Faktoren (zum Beispiel Deichbauten). Sie kann dadurch die kulturlandschaftlichen Umgestaltungen, die eine Region erfahren konnte, deutlich herausarbeiten (S. 461–470).
Der unter anderem militärischen Bedeutung der Schwinge sind mit historisch-archäologischem Zugriff Christina Deggim und Andreas Schäfer auf der Spur (S. 319–360). Die unterschiedlichen Arten der Wassernutzung, aber auch die Gefahren des Elementes für die Nutzer betrachtet Norbert Fischer am Beispiel der Oste unter dem Siegel „Fluss-Gesellschaft“ (S. 361–377). Sylvina Zander (S. 487–502) beleuchtet in ihrem auf das 18. und 19. Jahrhundert fokussierten Beitrag die Probleme der Anwohner und Nutzer mit Flüssen in harten Wintern (im Kontext der „Kleinen Eiszeit“) und stellt die daraus resultierenden Gegenmaßnahmen heraus. Gegenstand des Beitrags von Michael Ehrhardt (S. 379–405) ist das Wasserbauwesen im Hinblick auf seine Verwaltung. Diese Auflistung der einzelnen Beiträge zeigt eine breite thematische Zugriffspalette, die der Band insgesamt bietet.
Obwohl einige Autoren in ihren „Flussbiographien“ auch auf den Namen des jeweiligen Gewässers eingehen, findet sich kein Beitrag, der sich mit der norddeutschen Flussnamenlandschaft beschäftigt und ihre mentalitäts- und kulturgeschichtlichen Aussagen auswertet.3 Zudem wird auch der Fluss als Motiv in Literatur und Kunst nicht berücksichtigt, obwohl dieses Themenfeld in der Einleitung explizit benannt ist (S. 9). Dadurch wird aber insgesamt der Wert der Publikation nicht geschmälert.
Der anregende, vielschichtige Zuschnitt zeigt, dass „Flussgeschichte“ immer auch eine Geschichte von „Fluch und Segen“ der menschlichen Nutzung des Elementes Wasser ist. Der Band veranschaulicht auf diese Weise, dass die Menschen zu allen Zeiten immer wieder versucht haben, die Naturgewalt Wasser mit unterschiedlichen Mitteln zu bändigen. Der Publikation fehlt allerdings eine abschließende Synthese der einzelnen Beitragsergebnisse, die ihren kulturgeschichtlichen Ertrag deutlich werden lässt. So hätte man durch den Vergleich mögliche historische Veränderungen bzw. strukturelle Kontinuitäten im Umgang der Menschen mit dem janusköpfigen Element Wasser herausarbeiten können. Dass eine derartige Zusammenführung unterblieben ist, hängt sicherlich auch mit der thematischen Breite des Bandes und der Freiheit der Autoren hinsichtlich der Unterschiedlichkeit ihrer „Flussbiographien“ zusammen. Hier hätte vermutlich eine stärkere konzeptionelle Engführung die Auswertung insgesamt erleichtert, vermutlich aber auch manchen aufschlussreichen Beitrag beschnitten oder gar verhindert. Auf jeden Fall wäre dennoch eine thematische Gliederung zur besseren inhaltlichen Orientierung des Lesers, wie der Rezensent sie hier zu geben versucht hat, wünschenswert gewesen.
Zum Abschluss noch einige praktische Hinweise. Folgende norddeutsche Fließgewässer und Wasserstraßen werden im Band eingehender behandelt: Alster, Alster-Beste(-Trave)-Kanal, Bille, Dortmund-Ems-Kanal, Drepte, Eiderkanal, Elbe (speziell die Unterelbe), Ems, Ewer, Geeste, Ilmenau, Krückau, Lune, Maade, Oste, Schwinge, Stör, Sude, Trave, Warnow und Weser. Durch ein zuverlässiges Personen- und geographisches Register sind die Beiträge erschlossen und können auch die nur beiläufig und exemplarisch erwähnten Flüsse und Kanäle schnell gefunden werden.
Anmerkungen:
1 Zitiert nach: Susanne Rau, Fließende Räume oder: Wie läßt sich die Geschichte des Flusses schreiben?, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 103–116.
2 Vgl. den Tagungsbericht: Leben am Wasser. Flüsse in Norddeutschland, 18.02.2011 – 19.02.2011 Hamburg, in: H-Soz-Kult, 25.06.2011, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3664> (20.11.2014).
3 Neuerdings wird dieses Vorhaben erleichtert durch: Albrecht Greule, Deutsches Gewässernamenbuch. Etymologie der Gewässernamen und der zugehörigen Gebiets-, Siedlungs- und Flurnamen, Berlin 2014.