Mit Walther Rauff, dem Organisator der Gaswagenmorde im Hinterland der Ostfront, porträtiert Martin Cüppers in seiner Habilitationsschrift einen NS-Täter ersten Ranges. Dessen Biographie schildert er chronologisch in 14 Kapiteln: von einer Jugend im bürgerlichen Milieu - der Vater war Prokurist - über eine Karriere als Offizier in der kleinen Reichsmarine der Weimarer Republik und dann im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) des „Dritten Reiches“ bis hin zur Flucht aus alliierter Kriegsgefangenschaft in Italien. Von dort wandte sich Rauff zuerst nach Syrien, dann nach Südamerika. Demnach fasste der ursprünglich angekündigte Untertitel des Buches „Marine, Massenmord und Exil“ seine Vita treffsicher zusammen. Schlussendlich wurde daraus „Vom Naziverbrecher zum BND-Spion“. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, dass die Personalrekrutierung der „Organisation Gehlen“ und des daraus 1956 hervorgegangenen Bundesnachrichtendienstes (BND) auch aus Tätern des NS-Regimes in den letzten Jahren erstmals auf breiterer Quellenbasis diskutiert worden ist. Insofern ist dieser Titel wohl zugleich Teil der Marketingstrategie des Verlages.
Cüppers schöpft aus Archiven in Deutschland, Großbritannien den USA, Österreich und Israel. Besonders wichtig, ja unverzichtbar für die Perspektive Rauffs auf das eigene Leben nach dem Zweiten Weltkrieg sind seine Briefe an die in Deutschland lebende Verwandtschaft aus den Jahren 1946 bis 1982, die dem Verfasser aus Privatbesitz zugänglich gemacht wurden. Für ein Buch, das auf eine Habilitationsschrift zurückgeht, fallen erstaunliche formale Schwächen auf: Inhaltliche Ungenauigkeiten und Fehler1 gehen einher mit einer problematischen Häufung von Konjunktiven, mit denen die Motivlage und Denkweise Rauffs beschrieben werden. Hinzu kommt, dass Cüppers sich häufig Floskeln bedient, die ein Geschichtsstudent bereits nach dem ersten Proseminar nicht mehr verwenden sollte, die in einer Qualifizierungsarbeit aber irritieren.2
Im Folgenden soll der BND-Verstrickung Rauffs besonderes Augenmerk gelten, auch wenn es sich dabei nur um eine vierjährige Episode in dessen Leben handelte. Doch gewinnt auch an diesem Beispiel deutliche Konturen, was grundsätzlich schon länger offen liegt, insbesondere seit Öffnung der relevanten US-Geheimdienstakten in Folge des 1998 erlassenen „Nazi War Crimes Disclosure Act“: dass Reinhard Gehlen und die „Org.“ bzw. danach der BND selbst vor der Anwerbung schwerstbelasteter NS-Krimineller keinen Halt machten.
Walther Rauff diente von 1924 bis 1937 in der Reichsmarine. Politik spielte für ihn keine Rolle; der junge Offizier ging völlig in seiner militärischen Laufbahn auf. Als er mehr oder weniger freiwillig aus den Seestreitkräften ausschied, um einer unehrenhaften Entlassung zuvorzukommen, wurde er über einen privaten Kontakt mit Reinhard Heydrich bekannt. Letzterer war ebenfalls ein ehemaliger Marineoffizier und wegen eines vergleichbaren Verhaltens entlassen worden. Es ist quellenmäßig nicht nachweisbar, aber von einer gewissen Plausibilität, dass Heydrich Rauff gerade angesichts des ähnlichen Fauxpas eine neue Karrierechance im Sicherheitsdienst der SS bot. Rauff nutzte sie konsequent und nahm bald eine wichtige Stellung im SD ein. Allerdings gehörte er, vom Dienstgrad nur Obersturmbannführer – seit Juni 1944 Standartenführer – und kein Akademiker, nicht zu jener Führungsschicht des RSHA, über die seit Ulrich Herberts Werner Best-Biographie viel geforscht wurde.
Rauff entwickelte sich im SD zum Überzeugungs- und Initiativtäter, zu einem „Manager des Todes“ (S. 122), und legte seine neue Weltanschauung nie mehr ab. Bis zu seinem Lebensende feierte er aus gegebenem Anlass regelmäßig am 20. April. Die Evidenz einer solchen radikal-ideologisch unterfütterten Identität des zuvor nach außen eher Unpolitischen lässt den Autor letztlich etwas ratlos zurück: Erklärt sie sich durch Dankbarkeit für die berufliche Existenzsicherung? Durch Opportunismus? Oder handelte es sich um eine bedingungslose Anpassung an den gewandelten gesellschaftlichen Wertehorizont? Statt belastbarer Quellen stehen Cüppers nur Mutmaßungen zur Verfügung.
Nachdem Rauff im RSHA für die technische Umsetzung der Gaswagenmorde zuständig gewesen war, wurde er designierter Kommandeur einer SD-Einsatzgruppe, die im Zuge von Rommels Vormarsch in Ägypten und Palästina tätig werden sollte. Als es dazu nicht kam, erhielt er das Kommando über Sicherheitspolizei und SD in Tunesien, danach in „Oberitalien-West“ mit Dienstsitz in Mailand. Überall exekutierte er die Vernichtungspolitik des NS-Regimes ohne Zögern und mit aller Härte. Ende April 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, konnte später fliehen und gelangte als Militär- und Geheimdienstberater nach Syrien. Als es dort vier Jahre später zu einem Putsch kam, reiste er über Italien nach Ecuador. 1958 ließ er sich endgültig in Chile nieder.
In seiner neuen Heimat verleugnete Rauff seine ideologische Gesinnung nicht. Er lebte, wirtschaftlich mal besser, mal eher prekär gestellt, politisch weithin ungefährdet. Ein westdeutsches Auslieferungsabkommen scheiterte 1963. Eine sowohl von Simon Wiesenthal und Beate Klarsfeld als auch von der Reagan-Administration und dem Europaparlament 20 Jahre später betriebene Auslieferung fand durch Rauffs Tod im Mai 1984 ein abruptes Ende.
Für den BND angeworben wurde der NS-Verbrecher durch Wilhelm Beis(s)ner und R(ud)olf Oebsger-Röder. Bei diesen handelte es sich ihrerseits um zwei ehemalige SD-Offiziere und hochgradig belastete Täter; ersterer war ein ehemaliger Untergebener Rauffs. Nach den Vorstellungen des Dienstes sollte der neue Mitarbeiter ein Informantennetz in Teilen Südamerikas aufbauen, insbesondere in Kuba – nach der Revolution auf der karibischen Insel wollte Pullach auch kommunistische Bestrebungen auf diesem Erdteil unter Beobachtung stellen. Seit Januar 1959 diente Rauff daher als „Gelegenheitsquelle“. Der von der westdeutschen Justiz mittlerweile Gesuchte konnte zweimal unbehelligt in die Bundesrepublik einreisen und wurde dort vom BND geschult. Für Kuba jedoch erhielt er kein Einreisevisum. Auch die Anwerbungen in Chile, Ecuador und Peru verliefen wenig erfolgreich. Die Verpflichtung Rauffs erwies sich deshalb rasch als unbefriedigend. Im Januar 1963, während er gerade für wenige Monate in chilenischer Auslieferungshaft saß, wurde er nach vier Jahren im Sold des BND „abgeschaltet“. Der BND wollte vermeiden, dass im Falle einer – schließlich nicht erfolgten – Auslieferung seine Kontakte zu Rauff in der deutschen Öffentlichkeit publik wurden.
Offiziell wurde jedoch „mangelnde politische Übersicht“ als Grund für das Ende der Zusammenarbeit angegeben (S. 328) – wobei es sich um einen Mangel Rauffs wie gleichermaßen des BND handelte: Im Unterschied zu der Anwerbung Klaus Barbies 1966, bei der Pullach dessen echte Identität tatsächlich entgangen sein mochte3, wussten die verantwortlichen Mitarbeiter des Dienstes, wen sie sich mit Rauff auf die Gehaltsliste setzten. Warum Pullach damals keine Bedenken entwickelte, einen der größten Massenmörder des NS-Regimes anzuheuern, erklärt Cüppers mit der simplen Logik, dass es angesichts der „Vielzahl ehemaliger SS-Angehöriger im eigenen Haus auch überhaupt keine Veranlassung“ für den BND gab, „ausgerechnet Rauff stärker auf den Zahn zu fühlen“ (S. 289). Hierzu bedarf es allerdings weiterer quellengestützter systematischer Untersuchungen, denen sich gegenwärtig die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der BND-Geschichte auf der Grundlage eines breiten Samples von Personalakten annimmt.
Die moralisch-ethische Dimension der Mitarbeit von NS-Tätern wurde im Dienst zeitgenössisch offensichtlich nicht wahrgenommen oder einfach ignoriert. Doch war damit ebenso in professioneller Hinsicht ein Fehler begangen worden, indem ein Einfallstor für Erpressung und nachrichtendienstliche Gegenspionage geschaffen wurde. Dies sollte sich genau in dieser Zeit in dramatischer Weise zeigen, als der Leiter der Sowjetunion-Gegenspionage des BND, der ehemalige SD-Offizier Hauptsturmführer Heinz Felfe, als KGB-Agent enttarnt wurde.
Zwar reflektierte Pullach mehr als 20 Jahre später, anlässlich des Todes Rauffs 1984, dass dessen Anwerbung seinerzeit „sicherlich unzweckmäßig und politisch instinktlos“ war. Doch lag dieser Bewertung nicht das Kalkül zugrunde, dass er als NS-Verbrecher für den Auslandsnachrichtendienst eines demokratischen Westdeutschland ethisch untragbar gewesen war. Vielmehr sah der Dienst, dass Rauff „allein durch seine Stellung in der Zeitgeschichte – schuldig oder nicht – jedem eine bequeme und publikumswirksame Zielscheibe bot, der den BND treffen will“ (S. 394). Sein Urteil über den Verstorbenen – „schuldig oder nicht“ – hielt der Dienst damit selbst Mitte der 1980er-Jahre noch immer in der Schwebe. Eine Revision erfolgte erst 2011, als die im BND neu aufgestellte Historikergruppe in einer ihrer ersten Veröffentlichungen die Kontakte Pullachs zu Rauff dokumentierte.4
Die Verpflichtung des NS-Verbrechers, der alsbald vom BND als „Lieber Herr Kollege“ (S. 294) angeschrieben wurde, reiht sich ein in die erklärungsbedürftige Kontinuität der Personalpolitik von „Org.“ und frühem BND zum Gewaltapparat des „Dritten Reiches“. Die Arbeit der Unabhängigen Historikerkommission lässt umfangreichere Einsichten in diese bislang eher in einzelnen Aufsätzen oder in der Presse geführte Diskussion erwarten.5
Anmerkungen:
1 Beispiele: Die Seeschlacht vor den Falklands fand nicht am 14. November 1914 statt, sondern am 8. Dezember; in Chile wird man beim Besuch mit dem Kleinen Kreuzer „Berlin“ 1925 auch des Seegefechtes von Coronel – vor der chilenischen Küste! – fünf Wochen zuvor, am 1. November 1914, gedacht haben (30). – Rauffs Vorgesetzter Friedrich Ruge wurde 1934 vom Kommando über die 1. Minensuchflottille nicht abgelöst (beim Militär stets negativ konnotiert), sondern davon (ehrenhaft in die nächste Verwendung) entbunden (S. 65). – Ein Marineverband ist auch bei permanenter Wiederholung eine Flottille und keine Flotille (richtig nur S. 66). – Vgl. die deutliche handwerkliche Kritik zur Chile-Darstellung des Autors, wurzelnd in mangelnden Landes- und Spanisch-Kenntnissen, in: <http://www.menschenrechte.org/lang/de/rezensionen/der-neueste-angriff-auf-allende> (19.05.2014).
2 Nur wenige Beispiele für andere: „Walther, der jüngste Sohn der Rauffs, kam in einer bewegten Zeit zur Welt, die als ‚Belle Èpoque‘ in Erinnerung geblieben ist“ (S. 22) – „Finster dreinblickende Unteroffiziere empfingen des zusammengewürfelten Haufen […] (S. 40)“. – „Bei jedem der Häfen und bei den Landgängen müssen Rauff und die übrigen Crewmitglieder neue Erlebnisse gesammelt haben“ (S. 50). – Für eine ausführlichere Kritik zu Cüppers’ Umgang mit den Quellen und seinen Schlussfolgerungen vgl. die Besprechung von Dieter Maier in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], <http://www.sehepunkte.de/2014/04/24568.html> (19.05.2014).
3 Vgl. dazu Peter Hammerschmidt, „Daß V-43 118 SS-Hauptsturmführer war, schließt nicht aus, ihn als Quelle zu verwenden.“ Der Bundesnachrichtendienst und sein Agent Klaus Barbie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011) 4, S. 333–348.
4 Vgl. Walther Rauff und der Bundesnachrichtendienst, Berlin 2011 (=Mitteilungen der Forschungs- und Arbeitsgruppe „Geschichte des BND“), Nr. 2.
5 Vgl. den Tagungsbericht „Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968 – Umrisse und Einblicke“. 02.12.2013, Berlin, in: H-Soz-u-Kult v. 23.04.2014, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=5325> (19.05.2014). – Vgl. auch Matthias Ritzi, Erich Schmidt-Eenboom, Im Schatten des Dritten Reiches. Der BND und sein Agent Richard Christmann, Berlin 2011. Christmann gehörte allerdings der Abwehr, nicht dem SD an und war kein NS-Verbrecher. Eher journalistisch, aber informativ: Georg M. Hafner, Esther Schapira, Die Akte Alois Brunner, Frankfurt am Main 2000; wie Rauff, allerdings erst Mitte der 1950er-Jahre, setzte sich Brunner nach Syrien ab, wo er für Reinhard Gehlens Nahostaufklärung aktiv wurde. Wissenschaftlich völlig unzulänglich: Robert Winter, Täter im Geheimen. Wilhelm Krichbaum zwischen NS-Feldpolizei und Organisation Gehlen, Leipzig 2010.