Der vorliegende Sammelband präsentiert die Ergebnisse der Tagung „The Transnational Study of Culture: Lost or Found in Translation? Cultural Studies – Sciences Humaines – Kulturwissenschaft(en)“, die im Jahr 2009 vom International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC) an der Universität Gießen veranstaltet wurde. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass die Erforschung kultureller Phänomene nicht allein inter- bzw. transdisziplinäre Herausforderungen bereithält, sondern es zunehmend mit grenzüberschreitenden Phänomenen zu tun bekommt und sich auch selbst immer mehr transnationalisiert. Es entstehen besondere Probleme, aber auch Chancen, wenn so unterschiedlich gelagerte Traditionen der Konzeption und Erforschung von Kultur, wie sie sich in den anglophonen Cultural Studies, den deutschen Kulturwissenschaften und den französischen Sciences Humaines herausgebildet haben, miteinander ins Gespräch kommen. Die Autoren bieten eine Bestandsaufnahme verschiedener Wissenschaftskulturen und versuchen, mithilfe der analytischen Kategorie der Übersetzung Wege zur Zusammenarbeit im Rahmen einer transnationalen Wissenschaft der Kultur aufzuzeigen. Dabei sind es gerade die Unterschiede und Spannungen zwischen den verschiedenen Problemformulierungen, wissenschaftlichen Programmen sowie theoretischen und politischen Vorannahmen, die in diesem Band offen zutage treten und ihn interessant machen.
Die Beiträge sind teils Originalartikel, teils Übersetzungen oder Bearbeitungen bereits erschienener Texte. Die Herausgeberin Doris Bachmann-Medick, die grundlegende Publikationen zu den cultural turns, besonders dem translational turn, vorgelegt hat 1, umreißt in ihrer Einleitung eine transnationale Kulturwissenschaft auf Basis eines erweiterten Übersetzungskonzepts, das nicht die Übertragung von einer Ausgangs- in eine Zielkultur und die Verpflichtung auf ein (meist westliches) „Original“ zugrunde legt. Vielmehr gelte es, die Kulturstudien im Sinne von Chakrabarty zu provinzialisieren und die Wechselverhältnisse zwischen ihren verschiedenen Ausprägungen nachzuverfolgen. So kann die Theorieentwicklung im Bereich der Kulturstudien als Abfolge von Übersetzungsprozessen neu gelesen werden, ohne national abgeschlossene Wissenschaftskulturen oder einen westlichen Universalismus vorauszusetzen. Bachmann-Medick schlägt vor, anhand der Kategorie „travelling concepts“ konkrete Interaktionssituationen zu beobachten, wobei auch institutionelle Voraussetzungen, soziale Kontexte, Marktmechanismen, intellektuelle Bewegungen und Machtasymmetrien in die Analyse einbezogen werden sollten. Dies könne eine gemeinsame Ausgangsbasis für eine transnationale wissenschaftliche Kooperation und Selbstreflexion bei der Erforschung der Kultur sein.
Einige der im Band versammelten Beiträge liefern Fallstudien im Sinne der von Bachmann-Medick geforderten, historisch und sozial kontextualisierten Analyse von „travelling concepts“. Dipesh Chakrabarty fasst noch einmal zusammen, wie Übersetzungen westlicher Theorien, die daraus resultierenden Anwendungsprobleme im indischen Kontext und seine eigenen Migrationserfahrungen zu entscheidenden Voraussetzungen für den Ansatz der Subaltern Studies und sein Buch „Provincializing Europe“ wurden. Matthias Middell geht von der Beobachtung aus, dass seit den 1980er Jahren und besonders dem „global moment of 1989“ (S. 141) teils parallel, teils in Beziehung zueinander verstärkt wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung grenzüberschreitender Kulturphänomene entwickelt wurden. Am Beispiel der „transferts culturels“ und der „Wanderung“ dieses in Frankreich entwickelten Konzeptes in andere Wissenschaftskontexte arbeitet er die Faktoren heraus, die Aneignungen des Transferansatzes ermöglichten bzw. behinderten und zeigt auf, wie sich dieser im Verlauf seiner Reise gewandelt hat.
Ein weiterer Strang der Diskussion dreht sich um die Frage, welche Implikationen die Vorstellung von Kultur als Übersetzung für eine Neuausrichtung der Kulturwissenschaften hat. Die Autoren wenden sich insbesondere gegen die Idee holistischer, abgegrenzter Kulturen, zwischen denen übersetzt oder vermittelt wird. Jon Solomon holt dabei zum Rundumschlag gegen moderne Ordnungs- und Homogenisierungsprojekte – wie den Nationalstaat und damit verbundene Vorstellungen distinkter Völker und Sprachen – aus. Er argumentiert statt dessen für einen Übersetzungsbegriff, der solche Trennungen nicht voraussetzt und damit zugleich erfindet und zementiert – eine Gefahr, die seiner Meinung nach auch im Konzept der Transnationalität gegeben ist. Für die Durchsetzung einer nicht-nationalen, emanzipatorischen und entgrenzten Erforschung von Kulturen, die der grundlegenden Unbestimmtheit von Menschen und Sprachen gerecht wird, wäre allerdings eine umfassende Neuorganisation der gängigen Wissensordnungen, institutionellen Rahmenbedingungen und Subjektivierungsformen notwendig. Andreas Langenohl entwickelt anhand neuerer Ansätze aus den postkolonialen vergleichenden Literaturwissenschaften sowie aus den Science and Technology Studies ein kritisches Übersetzungskonzept, das gesellschaftliche Kontexte und deren Verflechtungen aus der Situation der Begegnung und Interaktion heraus versteht. Er verweist auf die Konsequenzen für Vorstellungen von verschiedenen (nationalen) Wissenschaftskulturen und Disziplinen, da diese sich überhaupt erst infolge von Austausch und Begegnung herausgebildet hätten: „‚cultures‘ and ‚context‘ have no existence beyond their relation to encounter“ (S. 111). Ähnliche Feststellungen trifft Christina Lutter für die Erforschung der „Völkerwanderung“. Bereits in dieser Zeit sind statt abgegrenzter Kulturen vielfältige kulturelle Übersetzungs- und Aushandlungsprozesse beobachtbar.
In der zweiten Einleitung, die von dem Literatur- und Kulturwissenschaftler Ansgar Nünning stammt, sowie im zweiten Teil des Bandes geht es vor allem um einen Aufriss der nationalen, regionalen und disziplinären Unterschiede in der Erforschung der Kultur und darauf aufbauend um die Frage, wie ein vertiefter Austausch und eine engere Kooperation im Sinne einer transnationalen Kulturwissenschaft möglich wären. Nünning arbeitet die Unterschiede zwischen den britischen Cultural Studies und den deutschen Kulturwissenschaften heraus. Thomas Weber gibt Beispiele aus dem Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaften in Deutschland und Frankreich, Birgit Mersmann zur deutschsprachigen Bildwissenschaft und den Visual Culture Studies.
Allerdings zeigen sich große Divergenzen hinsichtlich der Frage, wie unterschiedliche Formen der Erforschung der Kultur konkret miteinander in Beziehung zu setzen wären. Einige Autoren treten im Sinne postkolonialer Perspektiven dafür ein, die Übersetzungen zwischen den Wissenschaftskulturen nicht als bloße regionale Artikulation westlicher Konzepte anzusehen – die neue Kooperation soll nicht unter der Vorherrschaft des anglo-amerikanischen Modells der Cultural Studies erfolgen. Neben Bachmann-Medick und Chakrabarty gehört dazu auch Boris Buden. Er weigert sich in seinem Beitrag programmatisch zu beschreiben, was osteuropäische Kulturstudien sein können und fordert dazu auf, sich dem binären Schema von (westlichem) Universalismus und (östlichem) Partikularismus entgegenzustellen. Erst wenn dieses überwunden sei, könne eine echt transnationale Form der Kulturwissenschaft entstehen.
Demgegenüber halten andere Autoren am Modell der britischen Cultural Studies fest und machen es zum Ausgangspunkt neuer Übersetzungsprozesse. Rainer Winter argumentiert dafür, die Parteinahme der Birminghamer Schule für gesellschaftliche Minderheiten, die kritische Analyse von gesellschaftlichen Machtstrukturen sowie die Suche nach Möglichkeiten zu ihrer Überwindung wiederzubeleben und z. B. in die deutschen Kulturwissenschaften einzuführen. Winters Übersetzungskonzept orientiert sich damit stärker an Vorstellungen von einem Original und dessen getreuer Übertragung in andere Kontexte (S. 217). Christa Knellwolf King beschreibt die Besonderheiten der Cultural Studies in Australien – zwischen der postkolonialen Kritik an der britischen Dominanz einerseits, der Dekonstruktion australischer Nationalmythen, u. a. hinsichtlich des Umgang mit der indigenen Bevölkerung, andererseits. Vor diesem Hintergrund plädiert auch sie für eine politisch engagierte Ausrichtung im Sinne der britischen Cultural Studies.
Insgesamt zeigt der Band, wie sehr die Erforschung der Kultur nicht allein von unterschiedlichen Kulturauffassungen und kulturellen Traditionen, sondern auch von deren Verflechtung und damit einhergehenden Konflikten gekennzeichnet ist. Er bietet einen – natürlich unvollständigen und oft auch widersprüchlichen – Einblick in dieses Feld. Ziel ist es, zur wissenschaftlichen Selbstreflexion beizutragen und übergreifende Konzepte zu finden, auf deren Basis transnationale Kooperationen möglich wären. Daher gibt der Band zugleich einen Überblick über verschiedene (kultur)wissenschaftliche Konzepte zum Kulturaustausch, von „cultural translations“ über „transferts culturels“ bis zu „travelling concepts“, Hybridisierung usw.
Die transnationale Wende in der Erforschung der Kultur ist längst in vollem Gange, doch es bleibt weiterhin umstritten, wofür sie genutzt werden kann und sollte. Der Übersetzungsbegriff kann dabei helfen, Konzeptdebatten und Problemformulierungen anzustoßen. Etwas zu kurz kommen in dem Band die in der Einleitung der Herausgeberin geforderten detaillierten Analysen der institutionellen Rahmenbedingungen, gesellschaftlichen Kontexte und konkreten Forschungskooperationen, die für die Weiterentwicklung der transnationalen Kulturwissenschaften eine ebenso große Rolle spielen.
Anmerkungen:
1 Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006; dies. (Hrsg.), The Translational Turn (= Special Issue Translation Studies 2, 1), London 2009.