H. Wittmann (Hrsg.): Tempi Passati

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Titel
Tempi Passati. Die Reichsstadt in der Erinnerung


Herausgeber
Wittmann, Helge
Reihe
Studien zur Reichsstadtgeschichte 1
Erschienen
Petersberg 2014: Michael Imhof Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Petersen, Institut für Historische Landesforschung, Georg-August-Universität Göttingen

Der vorliegende Band ist der erste von mittlerweile drei erschienenen Tagungsberichten des Ende 2011 in Mühlhausen in Thüringen gegründeten Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte. Der Arbeitskreis wird finanziell langfristig von der Christian-Lesser-Stiftung getragen und organisatorisch von Archiv und Geschichtsverein der Stadt begleitet. Sein Ziel ist es, die wissenschaftliche Aufmerksamkeit wieder mehr auf die kleineren, vermeintlich peripheren Reichsstädte zu lenken. Im Februar 2013 kam der Kreis erstmalig zu einer Tagung zusammen, um sich der Formen von Erinnerung an die reichsstädtische Vergangenheit zu widmen. Das Thema ist geschickt gewählt, wird dadurch gerade auf dieser ersten Tagung eine Vorfestlegung auf eine bestimmte Epoche weitgehend vermieden und eine diachrone Betrachtungsweise gefordert.

Der vom Mühlhäuser Stadtarchivar Helge Wittmann herausgegebene Band umfasst dreizehn Artikel und damit alle Beiträge der Tagung. Geographisch reichen sie von Lübeck im Norden bis Bern im Süden und von Worms im Westen bis Eger/Cheb im Osten. Allen Beiträgen, die sich jeweils einer Stadt oder einer Städtegruppe widmen, ist die Darstellung eines mehrfachen Wandels im Blick auf die reichsstädtische Vergangenheit gemein. Stephan Selzer bilanziert im abschließenden Kapitel, das 18. Jahrhundert habe nach Mediatisierung und rechtlicher Modernisierung mit der Reichsstadt offenbar „Enge, Dämmerschlaf, Muffigkeit, Zurückgebliebenheit und Stagnation“ (S. 277) verbunden und fortan auf die Territorien und ihre Residenzen geblickt: „Die Verhältnisse der vormals freien Reichsstadt zu den Gegenwärtigen sind so verschieden, daß es rätlich erscheint, nur selten auf jene zurück zu kommen, um das Publikum nicht irre zu machen“ (S. 126), heißt es beispielsweise 1839 in Worms. Romantische und nationale Strömungen des 19. Jahrhunderts hätten hingegen eine historische Bedeutung als vermeintliche Stadtrepublik und darin mithin Kaiser und Reich selbst entdeckt. In der Industrialisierung wurden dann mit der Reichsstadt Bürgerfleiß und Selbstregierung verbunden, das Image somit an den Diskurs angepasst.

Diese Linien ziehen sich durch alle Beiträge des Bandes. An die Reichsstadt wurde sich offenbar eher in ‚schlechten‘ Zeiten erinnert, wie André Holenstein mit der Beschreibung der Verhältnisse der ehemaligen Schweizer Reichsstädte zeigt. Sie hatten bereits 1648 mit der völkerrechtlich garantierten Exemtion der Eidgenossenschaft vom Reich im Westfälischen Frieden die Verbindung zum Kaiser verloren. Am Wandel in der politischen Ikonographie wird ein über einen längeren Zeitraum erfolgter Paradigmenwechsel von einem Bezug auf Privilegien des Reiches hin zum Souveränitätsanspruch deutlich. Weil sich diese völkerrechtliche Stellung in den folgenden Jahrhunderten als Erfolgsmodell herausstellte, war eine Erinnerung an den vormaligen Status als Reichsstand mindestens für die großen Städte der Eidgenossenschaft kaum opportun, an die Bünde hingegen schon. Privilegierung und Rechtsstellung scheinen, wie Marina Stalljohann-Schemme im folgenden Beitrag anhand der städtischen Chroniken sowie von Reiseberichten und Städtelob zeigt, in der Wahrnehmung Frankfurts am Main bereits während der Reichsstadtzeit weniger eine Rolle gespielt zu haben. Eher wurde in der Übernahme von Funktionen als Wahl- und bevorzugter Tagungsort eine besondere Gunst der Herrscher gesehen.

Seit dem 15. Jahrhundert lavierte Hamburg anscheinend absichtlich zwischen Reich und Territorium, bemerkt Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt. So konnte es seine fragile Selbständigkeit wahren. 1618 qua Gerichtsspruch mit der Reichsfreiheit begabt, erfolgte eine Anerkennung als Reichsstadt durch Dänemark und Holstein nicht vor dem Ende des 18. Jahrhunderts, und erst als souveräner Stadtstaat war die Eigenständigkeit gesichert, wenn auch – in der Rückschau – nicht mehr von Dauer. In Lübeck hingegen war die erfolgreiche Verteidigung der ein Jahr zuvor erhaltenen Reichsfreiheit gegen die dänische Krone 1227 ein bis 1806 ungebrochen positiver Erinnerungsort. Dies manifestierte sich ikonographisch unter anderem durch Reichswappen am Rathaus, führt Rolf Hammel-Kiesow aus. Dass Lübeck zugleich „caput Hanze“ (S. 83) war, darauf wurde erst am Ende des als gescheitert angesehenen Alten Reiches mit dem Motiv der freien, unabhängigen Handelsrepublik in den Stadtstaaten Lübeck, Hamburg und Bremen rekurriert. 1835 wurde der Reichsapfel aus dem Stadtwappen getilgt. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist eine internationale, europäische Hanse das zentrale Element in Selbst- und Fremdwahrnehmung, welches eine Erinnerung an den Status Lübecks als Reichsstadt vollkommen verdrängt hat.

Die Erinnerung an die alte Reichsstadt war für solche Gruppen opportun, deren Privilegien in den neuen Staaten dahingeschmolzen waren, wie Irene Jung am Beispiel von Wetzlar zeigen kann, das 1806 mit dem Reichskammergericht einen starken ökonomischen Gunstfaktor und Identitätsanker einbüßte. Von Anderen wurde der Reichsstadtzeit vor allem wegen ihres oft aus dem Spätmittelalter überkommenen und seitdem kaum veränderten Regierungsmodell als überholt angesehenen. Simon Palaoro zeigt, wie die Aufklärung in der Reichsstadt Ulm rezipiert wurde und an der Wende zum 19. Jahrhundert zu Konflikten zwischen Bürgerschaft und Rat führte. Als Ulm 1817 nunmehr als Teil des Königtums Württemberg von einer neuen Landesverfassung profitierte, scheint die Stadt mit ihrem neuen Status weitgehend versöhnt gewesen zu sein. Der Übergang der linksrheinischen Städte Worms und Speyer an Frankreich 1798 war mit besonders drastischen politischen, rechtlichen, religiösen und ökonomischen Verschiebungen verbunden, führt Gerold Bönnen aus. Auch hier gab es zuvor Klagen gegen oligarchische Ratsherrschaften. Als Speyer dann 1816 zum Verwaltungssitz für die bayerische Pfalz wurde und für Worms mit der Industrialisierung eine nachhaltig positive Entwicklung begann, wurde der alten Zeit nicht nachgetrauert, weil die neue positiver erschien. Träger einer bürgerlichen Erinnerungskultur wurde in Worms seit den 1880er-Jahren das Archiv. Hier entstanden Editionen die vierbändige Stadtgeschichte. In Speyer wurde ebenfalls ein erwachtes Interesse „an historischer Localforschung“ festgestellt, welche schließlich die Wahrnehmung der eigenen reichsstädtischen Geschichte mit den Erwartungen an die Zukunft im neuen Territorium verband.

Ähnliches lässt sich im hochindustrialisierten Dortmund am Ende des 19. Jahrhunderts beobachten, wo Rathausrenovierung und Urkundeneditionen anlässlich eines Besuchs Kaiser Wilhelms II. zu einem Revival der Reichsstadt- (und Hanse-)erinnerung führten. Thomas Schilp verweist dabei auf die historisierende Ikonographie sowie heute skurril anmutende, originalgroße, der alten Befestigung nachempfundene Pappmaché-Tortürme, die für den Tag eigens errichtet wurden. Nordhausen in Thüringen schließlich verfügt heute nach Industrialisierung und Kriegszerstörung ebenfalls über kaum sichtbare Zeugen der reichsstädtischen Zeit, die seit Verleihung des Status 1220 ohnehin nie besonders wirkmächtig geworden war. Wolfram Thielemann stellt dar, wie die Tausendjahrfeier 1927 als Identitätsanker in Krisenzeiten und Katalysator zur Erforschung der eigenen Vergangenheit fungierte. Der Roland von 1717 wurde nach dem 2. Weltkrieg zu einem vermeintlich unverdächtigen, eher folkloristischen Symbol der städtischen Vergangenheit.

Wo hingegen ein mittelalterliches Stadtbild weitgehend intakt erhalten ist, wie in Mühlhausen in Thüringen, kann „Reichsstadt“ auch zu einem diffusen Begriff für „Altstadt“ werden, ohne mit den damit zusammenhängenden politischen Eigenschaften verknüpft zu werden, wie Helge Wittmann zeigt. Auch in Bad Wimpfen haben Randlage und wirtschaftliche Schwäche am Ende der Reichsstadtzeit zur Erhaltung eines spätmittelalterlichen Stadtbilds beigetragen, das heute als „ein Schauplatz reinszenierter Geschichte und Romantik“ einzuschätzen ist (S. 245), wie Günther Haberhauer darstellt.

Herrscherbesuche und Privilegien, Ikonographie und Bauten, Aufbruch nach der Mediatisierung, Rückbesinnung aus Opportunismus, Archiv und Museumsverein als Träger der Tradition – die im Tagungsband versammelten Beiträge eröffnen in der Gesamtschau den Blick auf gemeinsame Mechanismen im Umgang mit der reichsstädtischen Vergangenheit und zeigen zugleich, dass alle behandelten Städte als Individuen den ihnen eigenen Dynamiken und Besonderheiten folgten. Vor allem waren es die städtischen Eliten, die die Erinnerung formten. Wer sich an die reichsstädtische Vergangenheit hätte erinnern können, wurde in Eger/Cheb nach dem 2. Weltkrieg umgesiedelt, wie Karel Halla zeigt, die Tradition war damit komplett abgerissen. In Niveau und Inhalt stellt der Band eine gelungene Zusammenstellung dar, die viele Fragen zum Thema beantwortet und fast ebenso viele neue stellt. Ein schöner Auftakt für die Reihe, der noch viele solcher Bände zu wünschen sind.

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