Seit einiger Zeit gibt es Überlegungen, mögliche Motive von inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit der DDR (IM) dadurch zu ermitteln, dass deren Berichte sprachlich analysiert werden, dass also die „Tschekistensprache“1 selbst zum Gegenstand gemacht wird. Bereits der Linguistikprofessor Christian Bergmann gelangte in seiner 1999 veröffentlichten und bahnbrechenden Untersuchung über „die Sprache der Stasi“ dahin, sie als linguistische Sonderform anzusehen. Sie sei Gruppen- und Fachsprache in einem und lade vorhandene Wörter mit neuen Bedeutungen auf. In der Sprache der hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit – eben der „Tschekisten“ – wurden „Personen aufgeklärt“, in der Allgemeinsprache geschieht das eher mit Sachen. Die Lüge selbst erhielt ein positives Kleid, wurde im Feld der Geheimhaltung als „Decken“ bezeichnet, das „konspirativ“ oder „inoffiziell“ geschah. Für den Begriff „Tarnung“ verwendeten die MfS-Angehörigen Begriffe wie „Schein“ oder „Verschleiern“, im Zusammenhang mit „Täuschung“ das Adjektiv „fiktiv“, die Substantive „Kombination“ oder „Legende“ oder das Verb „vortäuschen“.2 Diese Überlegungen waren dann von dem Germanisten Steffen Pappert noch verfeinert worden.3
Auf den fundierten Analysen Bergmanns und Papperts baut die Sprachwissenschaftlerin Bettina Bock in ihrer Untersuchung auf. Im ersten Teil ihrer Studie geht sie den „theoretischen Grundlagen und Methoden“ nach, also dem „Feindbild“ der Staatssicherheit, den inoffiziellen Mitarbeitern und deren Berichten, und stellt ihren methodischen Ansatz vor, die Diskurslinguistik und den Foucaultschen „Kommunikationsraum“ (S. 9–107). Im zweiten, ihrem Hauptteil betritt Bock die Analyseebenen der Einzeltexte, des Diskurses und deren Regelmäßigkeiten (S. 108–296), dem ein knapper Schluss und ein Anhang folgt (S. 297–334).
Bettina Bock fallen in ihrer Untersuchung die großen Unterschiede in den „Varianten der SED-Sprache“ in den Texten der IM auf – in deren, so ihre Formulierung, „schriftlichen Handlungsprodukten“. Sie geht dieser Spur nach und analysiert elf IM-Vorgänge und knapp drei Dutzend Vorgänge, die als „Operative Personenkontrolle“ bzw. „Operativer Vorgang“ ausgewiesen sind und vorwiegend aus den Beständen der Leipziger Staatssicherheit stammen. Es handelt sich also um eine kleine Stichprobe, die aber aussagekräftig ist (S. 301f.).
Sie arbeitet heraus, dass die Offiziere der Staatssicherheit die IM beim Abfassen der Berichte kaum geschult hatten und diese selbst nicht verbesserten. Die IM mussten ihre eigene Form finden, sich an Textformen orientieren, die ihnen vertraut waren. Mithin hing es zwar vom Alter, dem Grad der Bildung und der beruflichen Disposition ab, wie ein Bericht ausfiel. Dennoch präpariert Bock in der Summe verschiedene Muster heraus, die auf Zusammenhänge zwischen sprachlicher Form, Intentionen und Motiven des Berichterstatters und den Beziehungen zwischen diesem und der „aufzuklärenden“ Person schließen lassen. Aufgrund dieser Variablen, so die Autorin, gab es keine einheitliche Form der Berichterstattung. Vielmehr sei bei der Bewertung der jeweilige Verfasser der Berichte differenziert zu betrachten und als Faktor zu gewichten.
Dies gilt umso mehr, als sich den IM die Welt der hauptamtlichen Tschekisten kaum erschloss. Sie hatten keinen Einblick, hatten regelmäßigen Kontakt nur zu ihren, ihnen zumeist freundschaftlich verbundenen Führungsoffizieren. Auch dies wird an der Sprache deutlich. Denn Bock belegt gründlich, dass die Berichte der IM selten spezifisches IM-Vokabular enthalten, dass mithin bei ihnen nicht von einer „Tschekistensprache“ die Rede sein kann. Vielmehr zeige die Analyse der Berichte, dass „die Schreiber sich offenbar häufig auf sich selbst und ihre eigenen Interessen konzentrierten“ und entsprechend ihre Texte verfassten: „Dies ist es dann auch“, schreibt Bettina Bock, „was den Texten mitunter einen so banalen, manchmal erschreckend banalen, manchmal lächerlich banalen, Anschein gibt – was sie jedoch […] keineswegs alltäglich macht“ (S. 298).
Dabei fallen Bettina Bock Diskursregelmäßigkeiten auf4, bestimmte Topoi – eben auch Motive –, die inhaltlich verfestigt gewesen seien. Sie ermittelte fünfzehn solcher Topoi, die durchaus als Modell dafür dienen können, unterschiedliche Motivlagen der IM zu differenzieren. Sie gruppiert sie nach „DDR-Topoi“ und „kommunikationsspezifischen Topoi“. Spannend wird es unterhalb dieser Ebene, wenn sie etwa den „Ideologietopos“ untersucht, wobei sie zwischen „Abweichungstopos“ und „Übereinstimmungstopos“ differenziert.
Diesen Topoi weist sie weitere zu wie „Verführung“, „Überlegenheit“, „Nachahmung“, „Besserung“ und „Fehler“. Den „kommunikationsspezifischen Topoi“ rechnet sie die „sozialistische Moral“, „Ausschließung“ (also „Feind“), „Gestörtheit“ (abweichendes Verhalten im Sinne von „psychisch“ gestört), „Überlegenheit“, „Harmlosigkeit“ und „Entschuldigung zu (S. 280–289).5 Das durchaus diskussionswürdige Modell wirft Fragen auf, wenn die Topoi von Bock so angeordnet werden, dass sie den Motivgruppen des MfS entsprechen: Sie gehen überwiegend in der Gruppe „Überzeugung“ auf (Ideologie, Abweichung, Übereinstimmung, Überlegenheit, sozialistische Moral) oder in der Gruppe der „Wiedergutmachung“ (Besserung, Fehler, Entschuldigung). Dabei ist die Gruppe der „Bedürfnisse“ kaum zu integrieren. Insoweit deckt dieses Modell, das sich aus dem diskurslinguistischen Ansatz der Studie ergibt, nicht zureichend alle möglichen Motive ab.
Bocks Untersuchung ist eine genaue Beschreibung der Machtverhältnisse, des den IM strategisch gelassenen Freiraums sowie ihrer unterschiedlichen Handlungsweisen. Damit setzt sie „den Fokus der Betrachtung auf die IM als maßgebliche und individuelle Akteure“. Sie erscheinen ihr daher nicht „lediglich als eine kaum differenzierte Gesamtmasse“ und „bloße Erfüllungsgehilfen“ des MfS. Vielmehr verfolgten diese auch eigene Interessen und Bedürfnisse (S. 298).
Bettina Bock legt mit ihrer großartigen Analyse die Spur für weiterführende Untersuchungen. Die Erfüllungsgehilfen der Staatssicherheit treten aus der grauen Masse heraus, erhalten ein individuelles Gesicht.
Anmerkungen:
1 Der Begriff wird erstmalig verwendet in Karl Gustav Kindermann, Zwei Jahre in Moskaus Todeshäusern. Der Moskauer Studentenprozess und die Arbeitsmethoden der OGPU, Berlin 1931, S. 127.
2 Vgl. Christian Bergmann, Die Sprache der Stasi. Ein Beitrag zur Sprachkritik, Göttingen 1999; vgl. hierzu die Rezension von Michael M. Metzger in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 24 (1999) 4, S. 188–191.
3 Vgl. Steffen Pappert, Musterhaftigkeit und Informationsgehalt personenbeurteilender Texte des Ministeriums für Staatssicherheit, in: ders. (Hrsg.), Die (Un-)Ordnung des Diskurses, Leipzig 2007, S. 121–141; ders., Verdecken und Verschlüsseln durch Fachsprache? Zur Transformation von Alltagssprache in die Sprache des MfS, in: ders. / Melanie Schröter / Ulla Fix (Hrsg.), Verschlüsseln, Verbergen, Verdecken in öffentlicher und institutioneller Kommunikation, Berlin 2008, S. 291–314; ders., Formulierungsarbeit und ihre ‚Folgen‘. Ein Vergleich zwischen öffentlicher und geheimer Kommunikation in der DDR, in: Off the Wall. Journal for East German Studies (2010) 1, S. 24–35.
4 Den Begriff Diskurs selbst – wie auch ihren theoretischen Rahmen – leitet sie wesentlich von Michel Foucault ab, insbesondere: Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 2008. Bettina Bock hat diese Aspekte verschiedentlich bereits ausgelotet, so in: Akteursbezogene Diskurslinguistik in der Anwendung. Der Kommunikationsraum der inoffiziellen Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit, in: Kersten Sven Roth / Carmen Spiegel (Hrsg.), Angewandte Diskurslinguistik. Felder, Probleme, Perspektiven, Berlin 2012, S. 239–259; dies.: „Kommunikationsraum“ MfS und die Texte der inoffiziellen Mitarbeiter, in: dies. / Ulla Fix / Steffen Pappert (Hrsg.), Politischer Wechsel – sprachliche Umbrüche, Berlin 2011, S. 195–219.
5 Dies wird begrifflich von ihr eingeordnet auf den S. 171–183.