J. Brehm: Generationenbeziehungen in den Historien Herodots

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Titel
Generationenbeziehungen in den Historien Herodots.


Autor(en)
Brehm, Johannes
Reihe
Classica et Orientalia 8
Erschienen
Wiesbaden 2013: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XIV, 285 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tino Shahin, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Herodots Darlegung dessen, was unter Menschen geschehen ist, welch große Taten Hellenen und Barbaren erbracht haben und aus welchem Grund sie miteinander kämpften, geht weit über eine Schilderung der Perserkriege hinaus: Der Grieche aus Halikarnassos war nicht nur der erste Geschichtsschreiber, sondern auch der erste Universalhistoriker. Das Gliederungsprinzip seiner Historien ist nicht auf die griechische Welt eingeengt, sondern durch die Geschichte der großen Reiche Asiens bestimmt: Das Königtum des Lyders Kroisos, der Untergang der Meder und der Aufstieg der Perser bilden den roten Faden der Historien, aus dem sich die zahlreichen Nebenerzählungen entfalten. Dieser Makrostruktur des Werks nähert sich Johannes Brehm in seiner Dissertation, indem er nach den Generationenbeziehungen fragt und damit erstmals eine Abhandlung vorlegt, welche die Historien Herodots unter diesem Aspekt thematisiert.1 Seiner Analyse vorangestellt ist ein erster, begrifflich-methodischer Teil, der sich mit dem Terminus ‚Generation‘ auseinandersetzt (S. 1–39).

Brehm zufolge lassen sich die Auffassungen des Generationenbegriffs in den modernen wissenschaftlichen Theorien in zwei grundsätzliche Gruppen unterteilen: Auf einer „vertikal-diachronen Ebene“ bezieht sich ‚Generation‘ auf ein Kettenglied innerhalb einer Abstammungsfolge. Diese genealogische Auffassung (S. 19–24) impliziert ein Bewusstsein für vorangegangene und nachfolgende Generationen. Auf „horizontal-synchroner Ebene“ nimmt ‚Generation‘ wiederum auf ein Personenkollektiv Bezug, das sich in derselben Lebensphase befindet. Dieses soziologische Verständnis (S. 11–18) geht von einer Erfahrungsgemeinschaft mit gemeinsamem Bewusstsein aus. Beide Wahrnehmungs- und Deutungsmuster lassen sich in der griechischen Literatur nachweisen, wie Brehm an mehreren Quellen demonstriert. Anschließend ermittelt der Autor verschiedene Beziehungsarten, die aus generationellen Erscheinungen interpretiert werden können. Diskurse zwischen Trägern unterschiedlicher Lebensphasen werden mit dem Modell des „pädagogischen Generationenbegriffs“ gedeutet, welches nach der Beziehung von Vermittlung und Aneignung zwischen zwei Generationen fragt. Dazu merkt der Autor an, dass die ältere Generation nicht zwingend die vermittelnde sein muss und die jüngere Generation nicht unbedingt die aneignende. Vielmehr verwirklichten sich derartige Beziehungen auf einer ‚konkret-individuellen‘ Ebene und müssten daher in jedem Einzelfall untersucht werden (S. 30).

Im Anschluss an die theoretischen Vorüberlegungen wendet sich Brehm Herodots Werk zu, dessen strukturelles und inhaltliches Leitelement er in seinem zweiten Kapitel (S. 41–64) an der Herrschersukzession des Lyders Kroisos und der Perser Kyros, Kambyses, Dareios und Xerxes festmacht. Der Autor knüpft damit an die detaillierte Analyse Felix Jacobys zum Aufbau der Historien an2, dessen dreiteilige Gliederung des Werks später von Justus Cobet noch präziser ausdifferenziert wurde.3 Auf Grundlage dieser erweiterten Strukturierung hebt Brehm die Bedeutung der Hauptakteure des Geschehens für die Anordnung der Historien hervor (S. 51–52). Anschließend befasst sich der Autor mit Hilfe des pädagogischen Generationenbegriffs im dritten Teil (S. 65–193) mit Herodots Konzeption, dass die vier letzten Könige in ihrer Amtsfolge von zwei herausragenden Figuren begleitet werden, die nacheinander dieselbe Aufgabe erfüllen und ein wichtiges Kontinuitätsmerkmal der Perserherrschaft darstellen: Der gestürzte Lyderkönig Kroisos berät seinen ehemaligen Kontrahenten Kyros und dessen Sohn Kambyses; Artabanos ist wiederum Ratgeber unter Dareios und Xerxes. Beide Berater wurden von Herodot bewusst in einen Altersunterschied zu den Königen gestellt, um ihrer Meinung Gewicht zu verleihen. Sie greifen in die Entscheidungsprozesse ein und bilden gegenüber den Herrschern wichtige Gegenpole, indem sie an entscheidenden Stellen bestimmte Handlungen zu verhindern suchen. Brehm bezeichnet sie als „generationenübergreifende Warner“, die in einer Lehrer-Schüler-Beziehung zu den Königen stehen (S. 71–74), wie er an mehreren Textstellen bei Herodot verdeutlicht: In Hdt. 1,207 wird Kyros, der den Entschluss zum Feldzug gegen die Massageten bereits gefasst hat, von Kroisos angeraten, die Schlacht auf feindlichem Boden zu schlagen und nicht auf eigenem Territorium. Obwohl der Perserkönig bei diesem Kampf fällt, ist sein Scheitern nicht durch einen schlechten Rat des Kroisos verursacht, sondern durch seine eigene Charakterentwicklung, die ihn von früheren Tugenden entfernte und zu einer herrscherlichen Selbstüberschätzung führte. Die Empfehlung des Kroisos stellt sich sogar als äußerst weise und vorausschauend heraus, da sie ein Vordringen der Feinde ins Perserreich verhindert hat. Nach Brehm ist diese Episode als Aufeinandertreffen einer jüngeren und älteren Königsgeneration konzipiert, wobei Kroisos durch sein eigenes Schicksal als gestürzter Herrscher eine besondere Überzeugungskraft besitzt. Kambyses, den Nachfolger des Kyros, vermag Kroisos allerdings nicht mehr vom ‚Richtigen‘ zu überzeugen. Zwischen dem neuen König und dem alten Ratgeber kommt es schon bald zum Bruch, der als Generationenkonflikt zu interpretieren ist: Das herrscherliche Wüten des Kambyses zwingt Kroisos in Hdt. 3,36 dazu, seinem König anzuraten, sich zu mäßigen. Kambyses geht aber nicht darauf ein, sondern hält ihm stattdessen sein eigenes Versagen als König vor sowie seine schlechte Ratgebertätigkeit unter Kyros. Der Konflikt spitzt sich so weit zu, dass der zügellose Despot beinahe den erfahrenen Warner tötet. Brehm zufolge zeigt die Ablehnung des Lerngegenstands durch Kambyses an dieser Textstelle ein charakteristisches Verhalten des Königs, das zugleich den Grund für sein Scheitern darstellt. Gleichzeitig wird dem Leser durch Kroisos die Gegenüberstellung des guten und des schlechten Königs demonstriert: Der verständige König brachte nur sich selbst, nie aber das Perserreich in Gefahr, wohingegen der unbelehrbare König mit seiner Zügellosigkeit die gesamte Herrschaft aufs Spiel setzte.

In Hinsicht auf die Generationenwechsel untersucht Brehm im letzten Kapitel (S. 195–257) die genealogischen Kontinuitäten und Zäsuren bei Herodot. Zwar machten die dynastischen Umbrüche die entscheidenden historischen Einschnitte in seinem Werk aus, doch fänden sich auch genealogische Rückbindungen neuer Herrscher an alte Königshäuser. Insbesondere bei markanten dynastischen Zäsuren würden nämlich Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den Dynastien der Lyder, Meder und Perser betont. Brehm erklärt, Herodot setze die Geschichte auf diese Weise gezielt in einen familiären Rahmen. Entscheidende Generationenwechsel träten aber auch innerhalb einer Dynastie auf, wie Herodots persische Geschichte zeige: Kyros beendet die Herrschaft seines medischen Großvaters Astyages und Dareios stürzt einen medischen Usurpator. Der eine König begründet die Perserherrschaft und ist von Geburt an durch seine Mutter mit dem medischen Königshaus verwandt; der andere König erneuert die Herrschaft, ist aber durch genealogische Anbindungen an vorangegangene Königsgenerationen darum bemüht, sein Königtum zu legitimieren.

Mit seiner Untersuchung der Generationenbeziehungen leistet Johannes Brehm einen wichtigen Beitrag zur modernen Herodot-Forschung und öffnet mit Hilfe der verschiedenen Auffassungsebenen des Begriffs ‚Generation‘ gleich mehrere Zugänge zum Werk des ersten Historikers. Dass dabei ein Großteil des Buchs den Teilaspekt des „generationenübergreifenden Warners“ thematisiert, ist wohl begründet: Immerhin lassen sich generationelle Erscheinungen insbesondere am Beispiel der königlichen Ratgeber Kroisos und Artabanos nachweisen. Ganz im Sinne von Herodot legt Brehm also den Schwerpunkt seiner Analyse auf den persischen Teil der Geschichte. Mit seiner Studie bietet er dabei die Möglichkeit, die Historien aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.

Anmerkungen:
1 Obgleich schon andere antike Quellen unter diesem Aspekt untersucht wurden, vgl. etwa Jochen Schultheiß, Generationenbeziehungen in den „Confessiones“ des Augustinus. Theologie und literarische Form in der Spätantike, Stuttgart 2011.
2 Felix Jacoby, Art. „Herodotos“, RE Suppl. 2 (1913), Sp. 205–520.
3 Justus Cobet, Herodots Exkurse und die Frage der Einheit seines Werkes, Wiesbaden 1971, S. 158.

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