J. van Waarden u.a. (Hrsg.): New Approaches to Sidonius Apollinaris

Cover
Titel
New Approaches to Sidonius Apollinaris. With Indices on Helga Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius: Briefe Buch I


Herausgeber
van Waarden, Johannes A.; Kelly, Gavin
Reihe
Late Antique History and Religion 7
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 397 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hendrik Hess, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Obwohl Sidonius Apollinaris als einer der bekanntesten Gedichte- und Briefeschreiber der Spätantike gilt, liegt für sein Werk bisher kein moderner umfassender Gesamtkommentar vor. Die Möglichkeiten dem Abhilfe zu schaffen, wurden vom 26.–30. Januar 2011 in Wassenaar (Niederlande) im Rahmen des international besetzten Workshops „Sidonius Apollinaris for the 21st century“ ausgelotet. Die Erträge dieses Treffens sind im vorliegenden Sammelband zusammengefasst, herausgegeben von Johannes A. van Waarden und Gavin Kelly. Jeder der 14 englischsprachigen Beiträge bildet ein Kapitel des Bandes, der zusätzlich in drei Sektionen unterteilt wurde.

Der Band verfolge eine zweigleisige Agenda, heißt es im einleitenden Kapitel Johannes A. van Waardens (S. 3–19). Es sollen neueste Forschungsansätze zum Œuvre des Sidonius vorgestellt und im Zuge dessen abgewogen und reflektiert werden, was ein zeitgemäßer Werkkommentar vor diesem Hintergrund zu leisten habe. Zu den Anforderungen zählten etwa: die umfassende Dokumentation des methodischen Vorgehens, Interdisziplinarität, gemeinsame Autorenschaft, Digitalität, Reflexivität in Bezug auf die eigene (forschungs-)historische Verortung und das Bewusstsein über die unvermeidliche Subjektivität des Kommentars.

In der ersten Sektion zur „Cultural Diversity in Research“ verfolgen die Beiträge von David Amherdt (S. 23–36), Helga Köhler (S. 37–46) und Stefania Santelia (S. 47–59) die französische, deutsche und italienische Forschungsgeschichte zum Werk des Sidonius und stellen die je spezifischen Traditionen und Besonderheiten heraus. Alle drei Autoren/innen verfassten bereits Kommentare zu einzelnen Abschnitten von Sidonius’ Werk.1 Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erfahrungen ergänzen und erweitern die Beiträge daher außerdem die Andeutungen der Einleitung bezüglich des Formats eines Gesamtkommentars. Direkte Verweise sind dabei jedoch zumeist oberflächlich, so dass letztlich offen bleibt, wie das international ausgerichtete „Sidonius Apollinaris for the 21st Century“-Projekt (SAxxi) der Herausforderung unterschiedlicher nationaler Forschungstraditionen begegnen wird.

Das zweite Oberkapitel („The Carmina: Poetics and Intertextuality“) widmet sich der Dichtung des Sidonius unter besonderer Berücksichtigung von intertextuellen Bezügen. Im ersten Beitrag spricht sich Piet Gerbrandy nachdrücklich für die Relevanz von Werturteilen in der Wissenschaft aus (S. 63–76). Absolute Objektivität sei ohnehin nicht zu erzielen, eine erste emotionale und wertende Reaktion des Forschers könne jedoch interessante Fragen aufwerfen und den Weg zu neuen Forschungsfeldern weisen. So fiele sein persönliches Urteil über die Qualität von Sidonius’ Dichtung negativ aus, dies lenke sein Interesse allerdings unweigerlich auf die kulturellen Entstehungshintergründe dieser ‚schlechten‘ Poesie, die er als grundverschieden zu unserer heutigen Zeit wahrnehme (S. 65, S. 76). Wie es scheint, bleiben die Erkenntnisse, die aus einem persönlichen Werturteil abgeleitet werden können, zumindest in Bezug auf die Dichtung des Sidonius also relativ gering bzw. führen zu Fragen und Beobachtungen, die auch auf anderen bereits bekannten und beschrittenen Wegen erreicht werden können. Erst das folgende Kapitel, verfasst von David Rijser, befasst sich mit Intertextualität (S. 77–92). Mit den häufigen thematischen Abschweifungen und (auch quantitativ) überbordenden Metaphern und Symboliken gäbe es zwischen den literarischen Strategien des Sidonius und denen des Vergil-Kommentatoren Servius viele Ähnlichkeiten und Überschneidungen. Die unverhältnismäßig zahlreich erscheinenden Anspielungen auf Elemente etwa aus der Mythologie oder aus klassischen Texten (Vergil, Horaz, Ovid, etc.) deutet Rijser mit Jan Assmann überzeugend als Aktualisierung des kollektiven Gedächtnisses und Aktivierung literarisch-kulturellen Kapitals. Ganz ähnlich sieht auch Tiziana Brolli Sidonius’ Dichtung als Versuch zur Bewahrung kulturellen Erbes (S. 93–109). Für einen Kommentar bedeute dies aber auch nicht-literarische Korrelationen etwa mit der Archäologie, Kunstgeschichte, Rechtsgeschichte, Ethnologie oder Numismatik einzubeziehen, was sie in ihrem Beitrag beispielhaft am Majorian-Panegyricus vorführt. In den folgenden drei Kapiteln weist Silvia Condorelli zunächst auf die Möglichkeit hin, den (Entstehungs-)Kontext einzelner Gedichte aus den Briefen des Sidonius abzuleiten (S. 111–132). Annick Stoehr-Monjou spürt im Folgenden dem Einfluss Horaz’ auf Sidonius nach, der sich anhand von Reminiszenzen auf einzelne Wörter, Zeilen, Passagen, ganze Gedichte oder Kontexte zeige (S. 133–169). Schließlich verbindet Gavin Kelly seine Studie zu den Gemeinsamkeiten von Sidonius und Claudian mit dem Appell bei einem zukünftigen Kommentar, Passagen, in denen Intertextualität festzustellen sei, nicht nur bloß als solche aufzulisten, sondern auch die Qualität der Beziehung zwischen den Textstellen zu analysieren (S. 171–191).

Der letzte Teil „The Epistulae: The Collection, its Aims, and its Language“ wird durch einen Beitrag Roy Gibsons eröffnet (S. 195–219). Gibson vergleicht die Briefsammlung des Sidonius mit der des Plinius und beleuchtet einige Parallelen im jeweiligen Aufbau der einzelnen Bücher und in der Gesamtorganisation der beiden Sammlungen. Anschließend widmet sich Ralph Mathisen der teilweise unlösbaren Aufgabe, die Briefe des Sidonius zu datieren (S. 221–248). Vermutlich habe Sidonius bei der Organisation der Briefsammlung auf Dossiers aus mehreren Briefen zurückgegriffen, was nicht nur etwas über Sidonius’ Art der Selbstdarstellung verrate, sondern auch über seine Methode der Archivierung. Mit der Forderung nach „a commentary that bridges the gap between historical facts and intertextuality“ (S. 249) eröffnet Sigrid Mratschek das dreizehnte Kapitel (S. 249–271). Dass dabei die Wahl des Ausdrucks „historische Fakten“ unkommentiert bleibt (vgl. nochmals im Fazit: „hard facts of event history“, S. 270), verwundert aus heutiger geschichtswissenschaftlicher Sicht etwas. Mratschek zeigt im Folgenden am Beispiel des Briefs an Graecus von Marseille zur Abtretung der Auvergne an die Westgoten 475, wie sich Sidonius eines komplexen Netzwerkes von Anspielungen auf die Geschichte und Mythologie sowie literarischer Referenzen bedient habe. Dadurch böte der Text identitätsstiftendes Potential für Sidonius’ aristokratische Standesgenossen in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Umwälzungen (S. 269). Leider unterbleibt in Mratscheks interessanten Ausführungen allerdings eine Bezugnahme auf die Beiträge Rijsers und Brollis, deren Überlegungen mit Blick auf die Dichtung des Sidonius in eine ganz ähnliche Richtung gingen. Den Band beschließt Rodie Risselada mit einem linguistischen Beitrag (S. 273–303). In ihrer detaillierten, aber auch für Fachfremde nachvollziehbaren Analyse warnt sie, in Sidonius’ Texten nachfolgende Entwicklungen des Spätlateins bereits deutlich angelegt zu sehen. Dem bisweilen verschnörkelt erscheinenden Schreibstil des Sidonius stehe eine vom klassischen Latein kaum abweichende Wortanordnung auf Satzebene gegenüber. Sidonius’ Erzähltechniken würden zwar nicht an die eines Plinius heranreichen, seien hingegen aber auch nicht so einfach wie die Egerias (S. 301).

Neben umfassenden Indices antiker und moderner Namen, Sach-, Ortsregister, Quellen- und Literaturverzeichnis sind im Anhang des Sammelbandes – farblich abgesetzt – außerdem Indices zu Helga Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius. Briefe Buch I. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Heidelberg 1995 sowie addenda et corrigenda angefügt. So wünschenswert und gut gemeint dieser Nachtrag auch ist – seine Nutzbarkeit als Bestandteil des Bandes ist doch ein wenig eingeschränkt. Wenn auch eine separate Veröffentlichung in Heftform aus Kostengründen utopisch gewesen sein mag, so hätte man sich vielleicht für eine (gleichzeitige) Onlineveröffentlichung entscheiden können.

Wie schon in der Einleitung des Bandes eingeräumt handelt es sich bei den versammelten „New Approaches“ nicht wirklich um neue, sondern eher um neueste Forschungsansätze zum Werk des Sidonius („‚New‘ is neutral here, meaning ‚recent‘.“, S. 13). Entsprechend werden in den meisten Beiträgen bereits bekannte Thesen weitergeführt oder von anderer Seite beleuchtet. Eine Synthese am Schluss des Bandes oder gar nach den einzelnen Sektionen vermisst man jedoch. So bleibt offen, welche Schlüsse aus den dispersen Beiträgen zu ziehen sind, die einerseits teilweise schon recht konkret Kommentierungsarbeit leisten, andererseits aufzeigen, auf welche Bereiche in einem zukünftigen Gesamtkommentar besonderer Wert gelegt werden sollte. Die Zusammengehörigkeit der Beiträge wird zwar durch Äußerlichkeiten wie die fortlaufende Kapitelzählung, Sektionseinteilung, gemeinsame Bibliographie und Indices formal betont, Querverweise zwischen den einzelnen Aufsätzen hätten allerdings zahlreicher sein können. Um den eigenen Ansprüchen des SAxxi-Projekts gerecht zu werden und in Anbetracht der Ankündigung „to lay out the dimensions of this future building“ (S. 13), hätte man sich eine gemeinsame Zusammenfassung der Autoren/innen oder eine ausführlichere Auseinandersetzung mit den anderen Beiträgen in den Aufsätzen gewünscht, die sicher im Rahmen des Workshops und in der SAxxi-Gruppe stattgefunden hat, dem Leser aber vorenthalten bleibt. Zumal kollektives Arbeiten „by a multi-disciplinary international équipe“ und „collaborative research“ (S. 12) den geplanten Gesamtkommentar zum Werk des Sidonius auszeichnen sollen, hätte mit dem vorliegenden Band in dieser Beziehung gleichsam ein Testlauf gefahren werden können.

Völlig außer Frage steht, dass es sich beim Unternehmen des SAxxi-Projekts um ein überfälliges Desiderat der Forschung handelt. Darüber hinaus liefert der vorliegende Sammelband einen umfassenden Überblick über die bisherige Forschung zum Werk des Sidonius Apollinaris in unterschiedlichen Fachdisziplinen, einen hervorragenden Einstieg in den aktuellen Forschungsstand und gewährt einen Blick auf die zukünftigen Wege der Forschung, der inspirierend und animierend auf jeden wirken muss, der sich auf die eine oder andere Weise nicht nur im speziellen mit der Person des Sidonius Apollinaris und seinem Werk, sondern auch mit der Literatur der Spätantike und der Geschichte dieser Zeit grundsätzlich befasst. Aber auch für denjenigen, auf den dies nicht zutrifft, bietet der Band ganz allgemein wichtige Hinweise und Reflexionen bezüglich dessen, was ein moderner Werkkommentar leisten sollte.

Anmerkung:
1 David Amherdt, Sidoine Apollinaire. Le quatrième livre de la correspondance. Introduction et commentaire (Sapheneia 6), Bern 2001; Helga Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius. Briefe Buch I. Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Heidelberg 1995; Stefania Santelia, Sidonio Apollinare. Carme 24 Propempticon ad libellum. Introduzione, traduzione e commento (Quaderni di ‚Invigilata lucernis‘ 16), Bari 2002; Dies., Sidonio Apollinare. Carme 16 Eucharisticon ad Faustum episcopum. Introduzione, traduzione e commento (Biblioteca della tradizione classica 4), Bari 2012.

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