Das Patronatswesen war ein integraler Bestandteil der römischen Lebenswelt. Im Allgemeinen beschreibt es ein auf ständiger Kommunikation und Interaktion beruhendes Sozialverhältnis zwischen Personen mit unterschiedlichem sozialen Status, das zu beiderseitigem Nutzen dem soziopolitischen und ökonomischen Ressourcenaustausch diente. Mit dem Stadtpatronat widmet sich John Nicols einer Sonderform dieses sozialen Gliederungsmechanismus. Der Autor ist freilich ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet.1 Die Ergebnisse seiner mehrere Jahrzehnte umfassenden Untersuchungen sind nun in Gestalt der hier zu besprechenden Monographie konzentriert dargestellt.
Die zahlreichen Städte des Imperium Romanum bildeten das Rückgrat seiner Verwaltung. Die Forschung hat deshalb schon lange erkannt, dass das Stadtpatronat deren Integration ins Reich sowie deren urbane Prosperität und Stabilität zu gewährleisten vermochte: Für die Republik hat sich Badian der Thematik angenommen, für die Spätantike Harmand.2 Hierauf aufbauend haben sich etwa Krause dem (spätrömischen) Westen sowie Canali de Rossi und Eilers dem Osten des Imperiums zugewandt.3 In dieser differenzierten Forschungslandschaft verortet sich nun Nicols, dessen Studie das Stadtpatronat in den Westprovinzen untersucht (ca. 70 v. bis 200 n.Chr.).4 Er widmet sich dabei in erster Linie dessen historischer Entwicklung sowie den Modalitäten und Spezifika dieser reziproken Sozialbeziehung und ihrer Akteure. Dieses Vorhaben unternimmt er in neun Kapiteln:
In seinem ersten Kapitel („Introduction“, S. 1–19) betont Nicols die Ungenauigkeit der modernen Terminologie, die nicht nur das Stadtpatronat (patrocinium publicum) beschreibt, sondern ebenso die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Individuen (clientela), die Gastfreundschaft (hospitium) und die informelle Großzügigkeit der Elite (Euergetismus) mit einschließt. Er definiert es daher als jene Form der sozialen Nahbeziehung, „in which the patron was an individual and the client was a civic community“ (S. 1), wobei er ihre Funktionsweise im Sinne der eingangs getroffenen Definition versteht. Nicols verweist zudem auf die Problematik des Quellenmaterials, das nur selten Auskunft über den qualitativen Charakter der ausgetauschten Ressourcen gibt (Epigraphik) oder die Thematik vor allem aus einer idealisierten aristokratischen Perspektive betrachtet (Literatur).
Die folgenden Kapitel (2–4) stellen die historische Entwicklung des patrocinium publicum von der späten Republik über die Herrschaftszeit des Augustus bis in die Hohe Kaiserzeit dar. In Kapitel 2 („Civic Patronage in the Late Republic“, S. 21–81) weist Nicols am Beispiel von Caesar und Pompeius nicht nur verschiedene Wege der Patronatsetablierung nach (deditio nach militärischer Eroberung, Proklamation eines wohlwollenden Amtsträgers, Beziehungen zur städtischen Elite). Er zeigt auch, dass deren Klienten in Gallien, Spanien und Italien bewusst für politische Zwecke instrumentalisiert wurden. Stand der politische Gegner des Patrons vor den Toren, offenbarte sich die proklamierte Loyalität der clientes zudem als nur wenig dauerhaft – insbesondere dann, wenn der Schutz und die Förderung der Klientelstadt bereits zuvor vernachlässigt worden waren.
Kapitel 3 („Augustus and Civic Patronage“, S. 83–123) untersucht Augustus und seinen Einfluss auf das Stadtpatronat. Dieser war einerseits auf die senatorische Elite angewiesen, um das Reich zu verwalten; andererseits musste er den stetigen Einfluss- und Prestigegewinn, den die Aristokratie aus dem patrocinium publicum zog, unterbinden, da dies seine monarchische Position gefährden konnte. Er trat daher als oberster Patron auf – fixiert im Titel des pater patriae5–, der seine Führungsschicht dazu ermutigte, seinem Beispiel zu folgen (aemulatio principis). Ihre dortige Bewegungsfreiheit schränkte er zugleich durch eine Reihe von Maßnahmen ein (Verbot senatorischer Schirmherrschaften über peregrine Städte; Verbot entsprechender Selbstdarstellung bzw. Ehrung in Rom). Als Folge davon übernahmen immer mehr Ritter und Dekurionen patronale Aufgaben, was eine anhaltende Urbanisierung, Integration und Romanisierung der Städte sicherstellte.
Diese Gedankengänge setzt Nicols in Kapitel 4 („Civic Patronage in the Principate“, S. 125–162) fort. So macht er weitere Ausführungen zur Etablierung der Beziehungen (Kooptation als Routinevorgang, Kriterien der Auswahl von Kandidaten, Initiative auf städtischer Seite6) und grenzt dieses genauer von der Vertretung vor Gericht (patronus causae) sowie dem Provinzpatronat ab. Am Beispiel der Briefe des jüngeren Plinius und Frontos zeigt er auf, dass beneficia auch außerhalb eines formalisierten Verhältnisses erbracht werden konnten. Diese nahmen zunehmend materiellen Charakter an, während die politische Fürsprache in Rom zurückging, da die Schutzherren immer häufiger der nicht-senatorischen Aristokratie entstammten.
Es schließen sich mehrere Fallbeispiele in der zweiten Hälfte des Buches an (Kapitel 5–8). Anhand Ciceros Reden gegen Verres werden in Kapitel 5 („Civic Patronage in the Verrines“, S. 163–205) patronales Fehlverhalten und die hieraus resultierenden Konfliktfelder untersucht. Eine ideale Interaktion war juristisch nicht einklagbar7 und da ein Abbruch der Beziehungen zu Verres keinen Schutz versprach, sahen sich die Städte Siziliens dessen räuberischem Verhalten hilflos ausgesetzt. Ihre Zuflucht suchten sie bei weiteren Schutzherren, die sich jedoch mit Ausnahme Ciceros zurückhielten. Nicols diskutiert in diesem Zusammenhang insbesondere den Charakter von Ciceros Beziehung zu Sizilien, den er letztlich mit dem quasi-patronalen hospitium umschreibt.
In Kapitel 6 („Civic Patronage in Roman Law“, S. 207–237) wird das römische Recht als Analysewerkzeug genutzt. Im Mittelpunkt stehen die Folgen des augusteischen Verbots für peregrine Städte, ihre Statthalter mit öffentlichen Ehrungen zu bedenken, also faktisch Senatoren zu Schutzherren zu erwählen. Dies hat nicht nur das zunehmende Engagement von Rittern und Dekurionen zur Folge. Es bedingte ebenso eine ‚Abwanderung‘ der senatorischen Patrone in die westlichen Provinzen, deren Städte mehrheitlich bürgerlich waren.8 Darüber hinaus untersucht Nicols den Vorgang der Kooptation, den er als ausgesprochen formalisiert betrachtet (Beschluss des Stadtrates, Verhandlung mit potentiellen Kandidaten, förmliche Kooptation, Dokumentation auf einer tabula patronatus).
Die quantitative Analyse des epigraphischen Befundes wird in Kapitel 7 („Civic Patronage in the Epigraphical Record“, S. 239–277) thematisiert. Nicols kann dabei regionale (mehrheitlich Ehreninschriften aus den Westprovinzen), soziale (anhaltendes senatorisches Engagement, ergänzt durch Ritter und Dekurionen) und qualitative (formalisiertes patrocinium publicum und euergetische beneficia) Unterschiede im Quellenmaterial aufzeigen. Hierbei wird gleichfalls die Rolle weiterer sozialer Gruppen diskutiert (Frauen, Freigelassene, Klientelkönige), wobei deutlich wird, dass der soziopolitische Rang der Patrone und Klienten ebenso wie der Charakter der erbrachten Leistungen starken Schwankungen unterworfen war.
Kapitel 8 („Patronage and the Patrons of Canusium: A Case Study“, S. 279–311) widmet sich dem einzig vollständig erhaltenen Exemplar eines album decurionum. Der hohe Wert des album Canusinum (223 n.Chr.) besteht darin, dass es nicht nur einen, sondern alle Patrone auflistet, die zum fraglichen Zeitpunkt in einem formalisierten Verhältnis zu Canusium standen. Nicols untersucht insbesondere die Rangfolge der insgesamt 39 Personen, wobei er die große innere Stratifikation der Gruppe nachweisen kann, die sowohl Senatoren als auch Ritter aufweist.
Die Studie wird mit einer Zusammenfassung in Kapitel 9 („Reflections on the Evolution of Civic Patronage“, S. 313–319), in der Nicols die zentralen Ergebnisse seiner Untersuchung noch einmal konzentriert formuliert, sowie einer Auswahlbibliographie und einem Register abgeschlossen.
Die Arbeit von Nicols bietet keine leichte Lektüre: Sie verfolgt keine durchgehende Fragestellung, sondern arbeitet vielmehr einen umfangreichen Fragenkatalog ab, der sich an einer Vielzahl von Einzelproblemen orientiert. Im Mittelpunkt steht die Analyse der Quellen, die allerdings oftmals ohne weitergehende Kontextualisierung bleibt und somit viel Detailwissen bereits voraussetzt.9 An vielen Stellen ist der Autor zudem durch den Charakter des Quellenmaterials gezwungen, seine Ergebnisse in Form von Hypothesen zu formulieren. Die hier zu rezensierende Studie muss daher als konzentrierte Darstellung der rechtlichen und technischen Spezifika des patrocinium publicum verstanden werden, die vor allen Dingen der altertumswissenschaftlichen Forschung zum römischen Patronatswesen nützlich sein wird. Sie bietet die Auswertung des einschlägigen Quellenmaterials, die sprachlich-technische Differenzierung des Phänomens in seine vielfältigen Komponenten und stellt anregende Hypothesen für die weiterführende Arbeit auf. Nicols analysiert insbesondere den zeitgenössischen Blick auf die Thematik vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung seit den Tagen der Republik. Es ist dabei der große Wert der Arbeit, auf breiter Quellenbasis die anhaltende Bedeutung des Stadtpatronats für den lateinischen Westen der römischen Welt in der Kaiserzeit nachgewiesen zu haben.
Anmerkungen:
1 Vgl. beispielhaft nur einmal John Nicols, The Emperor and the Selection of the patronus civitatis. Two Examples, in: Chiron 8 (1978), S. 429–439; Ders., Pliny and the Patronage of Communities, in: Hermes 108 (1980), S. 365–385; Ders., Tabulae patronatus. A Study of the Agreement between Patron and Client-Community, in: ANRW II, 13 (1980), S. 535–561; Ders., Patrons of Greek Cities in the Early Principate, in: ZPE 80 (1990), S. 81–100; Ders., Hospitium and political friendship in the Late Republic, in: Michael Peachin (Hrsg.), Aspects of Friendship in the Graeco-Roman World, Portsmouth 2001, S. 99–108.
2 Vgl. Ernst Badian, Foreign Clientelae. 264–70 B.C., Oxford 1958; Louis Harmand, Un aspect social et politique du monde romain. Le patronat sur les collectivités publiques des origines au bas-empire, Paris 1957.
3 Vgl. Jens Uwe Krause, Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches, München 1987; Claude Eilers, Roman Patrons of Greek Cities, Oxford 2002; Filippo Canali de Rossi, Il ruolo dei patroni nelle relazioni politiche fra il mondo greco e Roma in età repubblicana ed augustea, München 2001.
4 Bei der letzten monographischen Arbeit zu diesem Thema handelt es sich um: Franz Engesser, Der Stadtpatronat in Italien und den Westprovinzen des römischen Reiches bis Diokletian, Dissertation, Freiburg 1957.
5 Nicols betont in diesem Zusammenhang auch potentielle Probleme, die sich aus der Doppelrolle des princeps als Kaiser und Patron ergeben konnten (S.97). Derartige Konfliktfelder kannte auch die Aristokratie, wie ein Brief des jüngeren Plinius veranschaulicht (vgl. Plin. ep. 1,23), in dem er sich zu Interessenskonflikten äußert, die bei einer gleichzeitigen Tätigkeit als Volkstribun und Anwalt zu befürchten waren.
6 Vgl. aber auch Plin. ep. 6,18 für ein Beispiel, bei dem die Initiative zu einem patronalen Verhältnis (patronus causae) durch einen interessierten Aristokraten ergriffen wird.
7 Vgl. bereits entsprechende Formulierungen im Zwölftafelgesetz (lex XII tab. 8,10), die lediglich soziale Sanktionen androhen.
8 Es lassen sich jedoch, anders als Nicols postuliert, auch in der nachaugusteischen Zeit weiterhin senatorische Patronate über peregrine Städte in der östlichen Reichshälfte nachweisen. Vgl. hierzu etwa Eilers, Claude: Roman Patrons of Greek Cities. Oxford 2002; Meyer-Zwiffelhoffer, Eckhard: Politikôs árchein. Zum Regierungsstil der senatorischen Statthalter in den kaiserzeitlichen griechischen Provinzen. Stuttgart 2002.
9 Freilich thematisiert Nicols etwa Phänomene wie Urbanisierung oder Romanisierung ausführlich, für die jedoch in gleichem Maße auch Euergeten in nicht-formalisierten Sozialbeziehungen verantwortlich zeichnen.