In den letzten beiden Jahrzehnten hat sich die Geschichte der Psychiatrie zu einem bemerkenswert aktiven und kaum noch zu überblickenden Forschungsfeld entwickelt. Trotz der zunehmenden und häufig ausgesprochen produktiven Öffnung der Psychiatriegeschichte hin zur Kultur-, Wissens- und Geschlechtergeschichte hat sich jedoch der Fokus auf die psychiatrische Anstalt als Ort der Verwahrung und Behandlungen von Patientinnen und Patienten und als Ort der Wissensproduktion hartnäckig gehalten. In diesem Zusammenhang haben sich auch die von Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft aufgestellten Thesen zur Rolle der Psychiatrie bei der Formierung des bürgerlichen Subjekts trotz aller inhaltlichen und methodischen Kritik als bemerkenswert langlebig erwiesen. Als interpretativer Rahmen greift der Fokus auf die Anstalt als Ort der Ausschließung des Anderen der bürgerlichen Rationalität jedoch an den wesentlichsten Entwicklungen der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts vorbei. In diesem Sinne hat vor kurzem Greg Eghigian zur „Desinstitutionalisierung“ der jüngeren Psychiatriegeschichte aufgefordert.1
Eine Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist, ob Foucault damit ausgedient hat, oder ob der Blick über die Anstaltsmauern hinaus mit dem Übergang von einem Foucaultschen Paradigma – der „großen Einsperrung“ – zu einem anderen – „Bio-Politik“ und „Gouvernementalität“ – einhergeht. In der britischen Forschung hat insbesondere der Wissenschaftssoziologe Nikolas Rose den zweiten Weg beschritten. In zahlreichen Büchern, Artikeln und Aufsätzen beschreibt Rose bereits seit einigen Jahrzehnten in enger Anlehnung an Foucault das Aus- und Eingreifen der Psychiatrie und anderer „Psy-Disziplinen“ in die britische Gesellschaft. Jonathan Toms' 2013 veröffentlichte Monographie, basierend auf seiner medizinhistorischen Dissertation, versteht sich in erster Linie als direkte Attacke gegen diese Interpretation der Geschichte der Psychiatrie.
Im Fokus von Toms' Studie steht ein wesentlicher und oft übersehener Faktor für die Öffnung der psychiatrischen Anstalt und die Neubestimmung des psychiatrischen Tätigkeitsfelds im 20. Jahrhundert – die Bewegung für „psychische Hygiene“. Entstanden 1908 in den USA, gelangte die Bewegung für mental hygiene insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg auch nach Europa, wo in zahlreichen Staaten nationale Komitees und Gesellschaften gegründet wurden. In Großbritannien wurden entsprechende Organisationen bereits kurz vor dem Krieg gegründet, wohl auch aufgrund engerer psychiatrischer Netzwerke innerhalb des englischen Sprachraums.2 Trotz erheblicher Unterschiede zwischen den zahlreichen nationalen Organisationen vertrat die internationale Bewegung eine Reihe gemeinsamer, wenn auch oft nur lose definierter Ziele. Diese reichten von der Reform psychiatrischer Anstalten und dem Ausbau der Versorgung psychiatrischer Patientinnen und Patienten außerhalb der Anstalten bis hin zur Prophylaxe psychischer Erkrankungen durch die Beratung und Erziehung gefährdeter Individuen sowie durch deren eugenische Sterilisierung. Insbesondere nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschob sich der Fokus der Bewegung zunehmend hin zu einem positiv definierten Konzept „geistiger Gesundheit“ (mental health).
Trotz seines recht allgemein gefassten Titels ist Toms' Buch keine systematische Darstellung der Geschichte der Bewegung für mental hygiene in Großbritannien. Stattdessen folgt es über acht Kapitel und über einen historischen Zeitraum, der sich vom moral treatment im York Retreat des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis zu den Aktivitäten der Organisation MIND in den 1980er-Jahren erstreckt, dem gut gewählten Leitthema von Autorität und Familie in der britischen Psychiatrie. Diese Schwerpunktsetzung präsentiert Toms wiederholt als Intervention gegen Foucault und eine von Foucault geprägte Psychiatriegeschichte. Die Rolle persönlicher Autorität in den sich wandelnden historischen Konfigurationen einer großgeschriebenen Family setzt er gegen die für Foucault zentralen Kategorien Wissen und Macht.
Im Mittelpunkt von Toms' Argument steht die Idee einer „Dialektik der Familie“, die sich auch leitmotivisch durch das Buch zieht. Die Geschichte der mental hygiene-Bewegung und ihrer Vorläufer erscheint dabei als ein wiederholtes Pendeln zwischen disziplinierenden und emanzipativen Ansätzen, wobei letztere eng mit zeitgenössischen Projekten der Lebensreform verbunden waren. Diese Umschwünge erklärt Toms sowohl aus inhärenten Widersprüchen der mental hygiene, unterschiedlichen Perspektiven innerhalb der Psy-Disziplinen, aber auch aus der Kritik externer politischer und sozialer Akteure. Diese „dialektische“ Perspektive hat ihre Stärken; sie erlaubt, auch scheinbar entgegengesetzte Entwicklungen in ihren Zusammenhängen zu begreifen und die widersprüchlichen Potentiale der Psy-Disziplinen im 20. Jahrhundert in den Blick zu nehmen. In dieser Hinsicht geht Toms weit über zahlreiche existierende Studien hinaus. Dennoch könnte die Darstellung klarer sein. Eine präzisere Eingrenzung des komplexen Begriffs der Dialektik, und damit auch eine explizitere philosophische Selbstverortung, hätten zum Verständnis der ambitioniert vorgetragenen These beitragen können. Polemische Einschübe wie dieser tragen wenig zur Klärung bei: „Diabolic dialectic of reason, on its marches, like a demented Prussian general“ (S. 27). Auch die Entscheidung, den Begriff der Dialektik nach 200 Seiten unvermittelt grundsätzlich in Frage zu stellen, untergräbt das eigene Argument. In ähnlicher Form betrifft dies auch den gleichfalls zentralen Begriff der Familie, der letztlich vage bleibt. Zwar räumt Toms dem Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und dem Verständnis von Geisteskranken als Kindern viel Raum ein, den durchaus naheliegenden geschlechtergeschichtlichen Fragen geht er allerdings nicht weiter nach.
Neben ihrer oftmals polemisch vorgebrachten These fällt die Monographie insbesondere durch ihre stilistischen Eigenwilligkeiten auf. Toms wechselt bisweilen unvermittelt das sprachliche Register und springt vom historisch-analytischen Duktus ins Romanhafte; manche Passagen sind unnötig derb, andere eher befremdlich (S. 106: „Dib dib dib, dob dob dob […]“). Abgesehen vom Stil irritiert auch der Aufbau des Textes. Der im Wesentlichen chronologische Erzählstrang wird bisweilen durch längere Exkurse unterbrochen, insbesondere aber durch auf der gesamten Länge des Buches eingestreute, romanhaft-erzählende Episoden aus dem Leben von W. David Wills, einem frühen psychiatrischen Sozialarbeiter aus dem Umfeld der britischen Bewegung für mental hygiene. Auf eine ausführliche Einleitung des Buches ebenso wie der einzelnen Kapitel verzichtet Toms, so dass wesentliche Aspekte seines Arguments durch den Text hindurch verstreut sind. Dies betrifft neben der These selbst auch wesentliche Aspekte wie die Methode, Quellengrundlage und die Klärung zentraler Begriffe sowie insbesondere seine eigene normative Position gegenüber den besprochenen psychiatrischen und psychotherapeutischen Ansätzen, die zwar aufscheint, aber nicht explizit thematisiert wird.
Toms zufolge ist der ungewöhnliche Stil des Buches nicht Selbstzweck, sondern Teil seines Arguments: „The book’s structure and style is intended as an inherent element in its critique of Foucauldian approaches“ (S. ix). Durch die Einbeziehung scheinbar unpassender, emotionaler und unernster Passagen solle ein Kontrapunkt zur Unpersönlichkeit und Distanziertheit der einschlägigen, von Foucault geprägten Forschungsliteratur gesetzt werden. Zudem sei, um den „sense of historical discovery“ aufrechtzuerhalten, auf das „signposting“ im Text weitgehend verzichtet worden. Dieser Versuch, dem theoretischen Argument auch eine entsprechende stilistische Form zu geben, ist sicherlich mutig und sympathisch, aber bedauerlicherweise nicht immer erfolgreich. Statt Entdeckerfreude stellt sich häufig eher Verwirrung ein.
Trotz dieser offensichtlichen stilistischen Probleme ist das Buch jedoch durchaus lesenswert. Eine kritische, auch theoretische und methodische geführte Auseinandersetzung mit Foucaultschen Ansätzen in der Psychiatriegeschichte ist überfällig, und Toms trägt zu dieser Debatte auf ambitionierte Weise bei. Dabei ist er von Foucault oft weniger weit entfernt als einige polemische Statements vermuten lassen; vielleicht ließe sich das Verhältnis am treffendsten als dialektisch beschreiben. Über die gelegentlich überspitzte These hinaus leistet das Buch auch einen wichtigen und inhaltlich innovativen Beitrag zur Forschung. Die Personen, Institutionen und Debatten, denen Toms folgt, sind durchweg faszinierend und relevant; der Blick über die Grenzen der Psychiatrie hinaus und über einen langen Zeitraum hinweg verleiht der Studie zusätzliches Gewicht. Wünschenswert wären allerdings eine systematischere historische Kontextualisierung und die Einbeziehung der internationalen Dimensionen der Bewegung für mental hygiene gewesen. Trotz einiger Schwächen handelt es sich um eine spannende, inspirierende Studie, die ihre Argumente, wenn auch nicht immer mit der gebotenen Klarheit, so doch stets in erfrischend streitbarer Weise vertritt.
Anmerkungen:
1 Greg Eghigian, Deinstitutionalizing the History of Contemporary Psychiatry, in: History of Psychiatry 22 (2011) 2, S. 201–214; Volker Hess / Benoît Majerus, Writing the History of Psychiatry in the 20th Century, in: History of Psychiatry 22 (2011) 2, S. 139–145.
2 Mathew Thomson, Mental Hygiene in Britain during the First Half of the Twentieth Century: The Limits of International Influence, in: Volker Roelcke / Paul Weindling / Louise Westwood (Hrsg.), International Relations in Psychiatry: Britain, Germany, and the United States to World War II, Rochester 2010, S. 134–155.