Die Erforschung des Faschismus und teilweise auch des Holocaust wurde in Deutschland aufgrund der starken Konzentration auf den deutschen Nationalsozialismus lange vernachlässigt. Der Faschismus galt als politisch und für das Verständnis der deutschen Geschichte überflüssig oder sogar bedrohlich, wobei einige Historiker wie Wolfgang Schieder, Hans Woller, Margit Szöllösi-Janze, Armin Heinen, Arnd Bauerkämper oder Sven Reichardt diesem Trend nicht folgten und einige zentrale Aspekte dieses für die europäische Geschichte so wichtigen Phänomens erforschten. Der schmale, aber wichtige Sammelband, der aus einer im Sommer 2012 am Institut für Zeitgeschichte in München stattgefundenen Konferenz hervorging, stellt einige zentrale Punkte der neuen Faschismusforschung vor, die vor allem in den angelsächsischen Ländern verankert ist.
In der Einleitung stellen die Herausgeber die Genealogie der neuen Faschismusforschung vor, die in den 1960er- und 1970er-Jahren von Historikern wie George Mosse, Stanley Payne, Zeev Sternhel, Eugen Weber, Robert Paxton, Renzo De Felice, Ernst Nolte, Adrian Lyttelton, Tim Masson und Wolfgang Schieder konstituiert und danach von Roger Eatwell, Michael Mann, Roger Griffin und anderen Geschichts- und Politikwissenschaftlern verfeinert wurde. In der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und auch in Italien wurde diese Entwicklung weitgehend ignoriert oder sogar als gefährlich und überflüssig betrachtet. Einerseits verstand man im deutschsprachigen Raum den „Faschismus“ als einen politischen Kampfbegriff, anderseits wurde der „Nationalsozialismus aus dem Faschismus herausdefiniert“ und zu einem zentralen Erkenntnisparadigma erklärt, das zwar für die deutsche nationale Geschichte wichtig war, aber die Analyse und das Verständnis mehrerer Aspekte der deutsch-europäischen Geschichte behindert hat. Dadurch standen dutzende von für die europäische Geschichte zentralen Bewegungen, die sich entweder als faschistisch wie die British Union of Fascist verstanden oder wie die rumänische Eiserne Garde durch und durch faschistisch waren, in keinerlei Verbindung zu den Nationalsozialisten, den italienischen Faschisten und auch zueinander. Erst in der jüngsten Vergangenheit rückten in der Sicht der deutschen Geschichtswissenschaft diese Bewegungen näher zusammen.
Im ersten Beitrag macht Roger Griffin den Leser mit seinem Konzept des generischen Faschismus bekannt. Er definiert ihn in der Kurzversion als eine „politische Ideologie, deren mythischer Kern in seinen diversen Permutationen eine palingenetische Form von populistischem Ultra-Nationalismus ist“ (S. 17). Griffins Konzept wurde in den letzten Jahren viel gelobt und trug zur Erweiterung der Faschismusstudien bei. Kritisiert wurde an ihm vor allem der affirmative Unterton, der der Massengewalt wenig Bedeutung zusprach (S. 17). Griffin selbst sieht seine knappe und präzise Definition „nicht als Abschluss einer Untersuchung“, sondern als einen „heuristischen Ausgangspunkt für weitere Faschismus-Studien“ (S. 18). Die Popularität seines Konzepts erklärt er mit dem Zeitpunkt, zu dem er es vorgestellt hat (S. 23).
Robert Paxton diskutiert den Faschismus im Kontext der Kultur und der Zivilgesellschaft. Er findet die kulturalistischen Studien für die Faschismusforschung wenig hilfreich (S. 36f.) und meint, dass der Zusammenbruch der sowjetischen Satellitenstaaten in Osteuropa zum Aufstieg des Interesses an der Faschismusforschung im Kontext der Zivilgesellschaft geführt habe (S. 38). Fernando Esposito erörtert das komplizierte Verhältnis des Faschismus zur Moderne. Er schlägt vor, zwischen Modernisierung und Moderne zu unterscheiden, bespricht die Debatten über diese Konzepte und resümiert, dass der „Faschismus aus einer der ‚Krisen‘ der Moderne hervorgegangen war“ (S. 51). Martin Baumeister bezieht das Konzept der „politischen Religion“ auf den Faschismus und zeigt, welche Vor- und Nachteile es hat, die dialektische Spannung der Sakralisierung der Politik und der Politisierung der Religion im Faschismus zu verorten (S. 72). Sven Reichardt stellt die faschistischen Tatgemeinschaften aus einer „praxeologischen Perspektive“ vor, die „kein abstraktes, abgrenzbares Gedankengebäude“ ist, sondern den Faschismus als eine „wandelbare politische Praxis, die sich nur ‚in actu‘ untersuchen lässt“ versteht (S. 75, 77). Dabei hebt er hervor, dass alle faschistischen Bewegungen rassistisch waren und sich durch Mangel an Empathie und starke Selbstbezogenheit ausgezeichnet haben. Die Faschisten verstanden sich als Tatmenschen, die gerne Affekte, Emotionen und Willensstärke inszenierten, Ausmerzen, Vernichtung und Gewalt zu wichtigen Komponenten ihrer Identität machten und politische Konflikte in der Regel mit Gewalt lösten (S. 78–87).
Emilio Gentile stellt die Genealogie des „neuen Menschen“ im italienischen Nationalismus und Faschismus dar. Dieses Konzept sollte eine „neue Rasse von Herrschern, Eroberern und Zivilisationsstiftern hervorbringen“, die Italien zu einem mächtigen Staat und einem wichtigen Imperium machen würden (S. 89). Obwohl dieser ideologischen Auffassung Ideen von Karl Marx und Friedrich Nietzsche zugrunde lagen, wurde sie erst durch die italienischen Nationalisten, die eine Wiedergeburt ihres Landes anstrebten, in einen revolutionär-nationalistischen Mythos verwandelt, der dem Italiener ein aggressives, gewaltbereites und skrupelloses Antlitz verleihen sollte (S. 92f.). Mussolini war ein Verfechter dieses Konzepts: Er sorgte sich um die „physische Gesundheit der Rasse“ und verstand, Gustave Le Bon folgend, die Italiener als eine sich von Generation zu Generation reproduzierende Menschenmasse. Im Zweiten Weltkrieg löste sich das Konzept auf und der „Duce“ musste mit Enttäuschung zur Kenntnis nehmen, dass es ihm nicht gelang, einen „neuen Italiener“ zu schaffen, der Italien in ein faschistisches Imperium verwandeln würde (S. 96–105).
Anhand Max Webers Models der charismatischen Herrschaft diskutiert Maurizio Bach das für die Faschismusforschung zentrale Konzept der charismatischen Führers und der charismatischen Kollektive. Er betont, dass es sich bei Charisma um kein individuelles, sondern um ein gesellschaftliches Phänomen handelt und dass ohne die Charisma-Gläubigen kein charismatischer Führer existieren kann. Des Weiteren weist Bach auf die emotionale Bindung zwischen der Führerfigur und seinen Verehrern und auf die durch kulturelle und politische Prozesse bedingte Flüchtigkeit des faschistischen Charismas hin (S. 109f.).
Im letzten Beitrag diskutieren die Herausgeber die Bedeutung von Rassismus und Antisemitismus: Anhand dieser beiden für den Faschismus zentralen Ideologien und Handlungskonzepte zeigen sie, dass die Kluft zwischen der Eisernen Garde, den deutschen Nationalsozialisten, der Organisation Ukrainischer Nationalisten, den italienischen Faschisten, der Ustaša und mehrerer weiteren ähnlichen europäisch-faschistischen Bewegungen gar nicht so groß war, wie viele deutsche, italienische, ukrainische, rumänische, kroatische und weitere Historiker angenommen haben. Schlemmer und Woller begreifen Rassismus als „Motor des internationalen Faschismus“ und erinnern die Leser daran, dass er keineswegs nur für die Nationalsozialisten typisch war, sondern in vielen anderen faschistischen Bewegungen zum integralen Bestandteil der Ideologie und Handlungspraxis wurde. Ähnlich verhält es sich mit dem Antisemitismus, der ebenso in allen faschistischen Bewegungen ausgeprägt war, obwohl nicht alle Bewegungen die Grenze zum Massenmord überschritten. In diesem Sinne schlagen sie eine neue Deutung des Faschismus vor, nach der „Rassismus und Antisemitismus nicht vorwiegend Trennlinien in der faschistischen Welt markieren, sondern ein gemeinsames Wesensmerkmal darstellen“ (S. 144). Damit bringen sie zur Sprache, was bereits mehrere Dutzend Studien über verschiedene Aspekte des europäischen Faschismus in den letzten Jahren gezeigt und empirisch belegt haben.
Der vorliegende Sammelband verdeutlicht, dass es an der Zeit ist, das Wesen des europäischen Faschismus neu zu definieren, seinen transnationalen Charakter offenzulegen und die von national denkenden Historikern im und nach dem Kalten Krieg aufgestellten Denk- und Definitionsbarrieren zu überwinden. Die rassistische Selbst- und Fremdauffassung europäischer Faschisten ist ein zentrales Element der europäischen Geschichte, das mit der Auflösung der nationalen Forschungsmuster immer mehr zum Vorschein kommen wird. Die ältere aber immer noch verbreitete Deutung des Nationalsozialismus, nach der er nichts oder nur sehr wenig mit anderen faschistisch-rassistischen Bewegungen wie der kroatischen Ustaša, der Organisation Ukrainischer Nationalisten, der ungarischen Pfeilkreuzler oder der rumänischen Eiserne Garde zu tun hatte, lässt sich nicht nur nicht empirisch belegen, sondern sie spricht diesen Bewegungen implizit die Wirkungsmacht ab, kommt den entlastenden Interpretation der Veteranen dieser Bewegungen entgegen und trägt so zur Verzerrung der europäischen Geschichte bei.