C. Theune-Vogt: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts

Cover
Titel
Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts.


Autor(en)
Theune-Vogt, Claudia
Reihe
Archäologie in Deutschland, Sonderheft 06/2014
Erschienen
Darmstadt 2014: Theiss Verlag
Anzahl Seiten
112 S., ca. 100 Abb.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulf Ickerodt, Archäologisches Landesamt Schleswig-Holstein

Die Autorin Claudia Theune-Vogt nähert sich dem Thema der zeitgeschichtlichen Archäologie aus einer vor- und frühgeschichtlichen Perspektive im etablierten Format der Reihe Archäologie in Deutschland. Wie bereits im Titel angedeutet, rückt Theune-Vogt Orte der NS-Gewaltherrschaft in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung.

Formal ist der Textteil in acht Kapitel gegliedert, von denen die beiden Letzten lediglich sechs Seiten umfassen. Gerade diese beiden Kapitel behandeln Themen, die zu einem sehr großen Teil die denkmalpflegerische Praxis im Umgang mit Relikten und Orten unserer jüngeren Geschichte prägen und damit im Mittelpunkt der angestrebten Aufarbeitungsarbeit stehen sollten, um das über die eigene Fachlichkeit hinausgehende Potenzial dieses Forschungsfeldes aufzuzeigen.

In ihrem Vorwort definiert die Autorin den Arbeitsrahmen und skizziert danach den Ursprung dieser „neuen“ Fachrichtung. Hier setzt sie sich zunächst sehr kursiv mit den Wurzeln der prähistorischen Archäologie auseinander und sieht die zeitgeschichtliche Archäologie als fachlichen Ableger der Vor- und Frühgeschichtsforschung. Die prähistorische Archäologie machte sich im Zuge ihrer Etablierung seit dem 19. Jahrhundert den archaiologia -Begriff der klassischen Antike erneut zu Eigen und dehnt ihn letztlich bis in die Moderne aus. In ihrer Zusammenfassung verzerrt die Autorin bisweilen die unterschiedlichen, diesen Prozess steuernden Rahmenbedingungen. Die prähistorisch-archäologische Forschung entwickelt sich aus einem museal-denkmalpflegerischen Umfeld, das sich seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Dominanz der Klassischen über die Einführung einer Provinzialrömischen Archäologie befreien musste. Zum anderen ist die archäologische Denkmalpflege in den preußischen Provinzen als vor- und frühgeschichtliche Denkmalpflege in Ergänzung zur Geschichtsdenkmalpflege zu sehen, die ihrerseits (vor dem Hintergrund der damaligen Praxis) sicherlich für die Sicherung des damaligen staatlichen Geschichtsbildes des in diesem Band dargestellten Zeitrahmens zuständig gewesen wäre.

Parallel hierzu entwickelt sich die prähistorische Archäologie über die Stadtkernforschung zu einer Archäologie der Neuzeit und der Moderne. Eine akkumulierende Wirkung in diesem Prozess dürfte, wie die Autorin zu Recht betont, auch die Einführung des sogenannten Verursacherprinzips gehabt haben. Die seit den 1990er-Jahren zunehmende Zahl an Rettungsgrabungen und damit die einhergehende kaum zu bewältigende Menge an modernem Material mussten im Rahmen der Aufarbeitung von insbesondere Stadtkerngrabungen geradezu zwangsläufig Beachtung finden. Insbesondere hier verschwimmen dann in der Bauforschung die administrativ-fachlichen Grenzen zwischen der Denkmal- und Bodendenkmalpflege. Baubefunde sind also keine genuin archäologischen Sachquellen, sondern sie werden es im Verwaltungshandeln über ihre administrative Zuordnung oder in der archäologischen Forschung über spezifische Forschungsinteressen sowie eingerichtete Lehrstühle oder Sonderforschungsbereiche.

Im zweiten Kapitel widmet sich die Autorin konkret der Aussagekraft des Objektes. Hier bewegt sie sich auf ein Terrain, das in Teilen in den letzten Jahrzehnten von der sich umorientierenden Volkskunde aufgegeben und als neue Nische von der Archäologie der Neuzeit und der Moderne entdeckt wurde. Auch in diesem Abschnitt geht die Autorin von der prähistorischen Archäologie aus. Sie sieht ihr Arbeitsgebiet als Fortentwicklung der amerikanischen Historical Archaeology. Inhaltlich setzt sich Theune-Vogt mit dem Problem der Quellenkritik und des Quellenwertes in Bezug auf Sach-, Ton-, Bild- oder Schriftquellen auseinander, ohne auf die ideologische Nutzung von archäologischen Inhalten als Quellenmaterial einer zeitgeschichtlichen Archäologie hinzuweisen. Obwohl hier im Wesentlichen die notwendigen Stichpunkte genannt werden, kann das Kapitel inhaltlich kaum überzeugen, da das wissenstheoretische Potenzial dieses nur transdisziplinär wirklich zu erfassenden Arbeitsgebietes kaum genutzt wird.

Das dritte Kapitel ist dem Ersten Weltkrieg gewidmet. Da hier viele Themen angeschnitten, aber vor dem Hintergrund des gewählten Formates kaum angemessen abgearbeitet werden können, wirkt die Darstellung dieser ersten archäologischen Untersuchung wenig überzeugend. Sie setzt willkürlich ein und fragt nicht nach dem „Davor“. Hier wäre es sinnvoll gewesen, mit der Reichsgründung als Bezugspunkt zu beginnen, um den Weg in den Krieg und seine politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen anhand von archäologischen Denkmalen und Kulturlandschaftsrelikten darzustellen. Daneben fehlen militärgeschichtliche Inhalte, wie Seebefestigungen, Forts oder andere Militärstandorte mit ihrem denkmalgeschützten Baubestand völlig. Stattdessen beschränkt sie sich auf die Darstellung der Schlachtfelder im Westen Europas.

Dem Zweiten Weltkrieg widmet sich das vierte Kapitel. Nach einer allgemeinen Einführung wählt Theune-Vogt die Massengräber von Katyn als Ausgangspunkt und wendet sich danach den NS-Konzentrationslagern als Ort archäologischer Spurensicherung im In- und Ausland zu. Den thematischen Abschluss bilden Schlachtfelder und Ruinen der NS-Bautätigkeit. Insgesamt wirken die gewählten Beispiele selektiv. So hätten mit Blick auf das Dritte Reich auch Orte der Ideologie-Vermittlung angeführt werden können. Darüber hinaus wird der Aspekt der Vermittlung von NS-Ideologie über eine Raumplanung völlig übersehen. Archäologische Denkmale selbst wurden spätestens seit Mitte der 1920er-Jahre konstituierende Bestandteile einer „artgemäßen“ Raumplanung. Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist gerade die geometrische Konzeption des Konzentrationslagers Sachsenhausen, die Produkt der die NS-Ideologie tragenden Fortschrittsgläubigkeit ist. Ein anderer Aspekt bei der Vermittlung von NS-Ideologie stellen in den 1930er-Jahren die abgedeichten Köge dar. Sie standen wie kaum ein anderer Ort für den Daseinskampf und entwickelten als dem Meer abgerungenes Land eine starke Symbolkraft. Ein völlig anderer Nebeneffekt dieses Prozesses ist die mythische Überprägung der Landschaft im Sinne der NS-Ideologie. Insgesamt werden im vierten Kapitel viele Themen angeschnitten, können aber schon vor dem Hintergrund des gewählten Formats und der außerordentlich großen Anzahl an NS-Terrororten kaum angemessen abgearbeitet werden.

Im fünften Kapitel wird der Kalte Krieg thematisiert. Auch hier ist eine massive Perspektivverengung zu konstatieren, zumal hier weitgehend militärhistorische Fragestellungen und der denkmalpflegerische Umgang mit den diesen historischen Prozess widerspiegelnden Relikten fehlen. Vielmehr wird der Blick auf die bearbeiteten ehemaligen Sowjetischen Speziallager reduziert. Auch in diesem Abschnitt betont die Autorin einseitig zu Ungunsten anderer Quellengruppen die Analyse der materiellen Kultur. Tatsächlich wären zum Beispiel wirtschaftsgeschichtliche, militärhistorische, städtebaulich-raumplanerische Fragestellungen gleichberechtigt zu hinterfragen und diese Aspekte reflektierende Quellengruppen zu identifizieren. Neben den inhaltlichen Mängeln ist besonders ärgerlich, dass auch dieses Kapitel sprachlich nicht immer angemessen abgefasst ist. So wirkt die Sprachwahl des Unterkapitels Zuckerdosen und andere Dinge (S. 77–83) vor dem Hintergrund von zum Beispiel politischen Säuberungsaktionen, Deportationen usw. seltsam naiv. Auch wenn nachvollzogen werden kann, was die Autorin sagen will, so erscheint die Wortwahl vor dem Hintergrund des in den Lagern erfahrenen Leides nicht angemessen, wenn sie davon spricht, dass „[d]er ungewöhnlich hohe Prozentsatz verzierter Zuckerdosen […] möglicherweise auch auf die viele ‚Freizeit‘ und die geringen Beschäftigungsmöglichkeiten zurückzuführen [ist]. Es stand genügend Zeit zur Verfügung, die sich die Häftlinge mit der Dekoration ihrer Dosen vertreiben konnten.“ (S. 80)

Den Abschluss dieses Kapitel bildet der Abschnitt Entlang der Berliner Mauer. Auch er kann den Rezensenten nicht recht für sich einnehmen, da auch hier die sprachliche Aufbereitung der Fakten hinter den Ambitionen des Textes zurückbleibt. Ist der Superlativ „jüngster archäologischer Befund Deutschlands“ als charakterisierende Eigenschaft der Mauer vor dem Hintergrund der sogenannten Maueropfer sachlich angemessen? Hinzu kommen fehlende archäologisch-denkmalpflegerische Schlüsselkonzepte (genius loci, Authentizität oder Integrität). Dieses hat auch Auswirkung auf die beiden letzten Kapitel Archäologie jenseits von Konflikten und Archäologie und Erinnerungskultur. Sie wirken wie eine willkürliche Aufzählung von Projekten und können die umrissene Thematik weder wissenschaftlich noch inhaltlich angemessen wiedergeben. Auch verkennt die Autorin die europaweit sehr unterschiedlichen Perspektiven und Ziele der Aufarbeitungsarbeit und damit des Umgangs mit der eigenen Geschichte (zum Beispiel Türken – Armenier).

Insgesamt stellt die einseitige Fokussierung auf eine archäologische Binnenperspektive den Hauptkritikpunkt an diesem Werk dar, das heißt, dem Leser erschließt sich der wissenschaftliche Mehrwert dieser Auswertungsarbeit nicht. Dies kann auch die Übergewichtung des archäologischen Fundmaterials nicht verdecken. So fehlen unter anderem die genannten raumplanerisch-städtebaulichen oder militärhistorischen Analysen. Zudem wäre auch das Konzept einer im 19. Jahrhundert einsetzenden Archäologie der Moderne eine geeignetere Plattform, um unter anderem mit Kunstgeschichte, Volkskunde, Geschichts- oder Politikwissenschaft, aber auch mit Raumplanung, Landesforschung und Denkmalpflege in einen Dialog zu treten und die Frage nach zu sichernden Sachquellen des 19. und 20. Jahrhunderts zu stellen, die neben Kriegsschauplätzen und „NS-Tatorten“ auch Aufschluss über Urbanisierung, Industrialisierung, Infrastrukturausbau usw. geben. In dieser Hinsicht wäre das zu bearbeitende Themenfeld neben hier kaum darstellbaren Archäologien zum Beispiel um eine Archäologie des Judentums oder um eine Industriearchäologie, die sowohl als Teil der NS-Aufarbeitung als auch der Technik- und Wirtschaftsgeschichte angesehen werden kann, zu ergänzen gewesen.

Kommentare

Replik von F. Freund auf die Rezension von U. Ickerodt zu C. Theune: Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts

Von Freund, Florian

Claudia Theune gebührt das Verdienst, einen Überblick über die Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts geschrieben zu haben, der gerade für Nichtarchäologen einen guten Einstieg in weiterführende Forschungen bietet. In der Einleitung definiert Theune ihr Thema: „Archäologie als Disziplin, die den Menschen und seine Handlungsweisen auf Basis der materiellen Hinterlassenschaften in den Blickpunkt stellt….“ (S. 6) und spezifiziert die geographische Einschränkung auf Deutschland bzw. auf die mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verknüpften Tatorte.

Als Einstieg in das Thema bietet Theune einen kursorischen Überblick über Beginn und Entwicklung einer zeitgeschichtlichen Archäologie. Die „genuine Quelle der Archäologie, die materielle Überlassenschaft“ (S. 11), ob nun obertägig oder untertägig steht auch bei der zeitgeschichtlichen Archäologie im Mittelpunkt. Die Aussagekraft der Objekte wird am Beispiel von einigen Funden aus Grabungen bei ehemaligen Konzentrationslagern dargestellt und in Bezug zu schriftlichen, bildlichen und zu Oral History-Quellen gesetzt. Die Autorin betont, dass eine kritische Reflexion bei allen Quellengattungen notwendig sei, wobei die Archäologie ihre besondere Stärke beim Einblick in das „Alltagsleben der Vergangenheit“ habe.

Das folgende Kapitel zum Ersten und ein sehr umfangreiches zum Zweiten Weltkrieg bieten einen Überblick zu archäologischen Untersuchungen an Tatorten diese Perioden betreffend. Die große Anzahl von Tatorten und die große Zahl der vor allem seit den frühen 1990er-Jahren intensivierten Grabungen bedingt naturgemäß eine exemplarische Herangehensweise. Ein weiteres Kapitel zum Kalten Krieg, in dem Tatorte wie die sowjetischen Speziallager und die Berliner Mauer abgehandelt werden, rundet die Arbeit zu den Tatorten ab. Ein kurzes Kapitel zur Archäologie jenseits von Konflikten kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Zeitgeschichtliche Archäologie mehr als nur Tatorte beinhaltet.

Die Kritik von Ulf Ickerodt am vorliegenden Buch von Theune ist nicht nur nicht nachzuvollziehen, sie geht am Thema vorbei. Offenbar habe ich ein völlig anderes Buch gelesen als Ulf Ickerodt. In dem Buch von Theune, das mir vorliegt, ging es um Tatorte und um die exemplarische Überblicksdarstellung der Möglichkeiten und Erkenntnisse von Archäologie an Tatorten.

Ickerodt verstand den vorliegenden Band offensichtlich als eine Arbeit über die Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts und nicht – wie schon aus dem Titel ersichtlich – um Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts. Mehrfach bemängelt Ickerodt das Format der Arbeit, das z.B. bewirke, dass der Erste Weltkrieg „kaum angemessen abgearbeitet werden“ könne (S. 3/6) und fordert, die „Darstellung der des Weges in den Krieg“ und seine politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen „anhand von archäologischen Denkmalen und Kulturlandschaftsrelikten“ mit dem Bezugspunkt die Reichsgründung darzustellen. Und überhaupt fehlten „militärgeschichtliche Inhalte wie Seebefestigungen, Forts oder andere Militärstandorte mit ihrem denkmalgeschützten Bestand völlig.“ Ähnliche Kritik findet sich zu den anderen inhaltlichen Kapiteln.

Diese Forderungen sind nett. Sie könnten das Thema einer noch zu schreibenden Monographie sein, waren aber nicht Thema von Theune. Zwangsläufig muss bei einer Überblicksarbeit exemplarisch gearbeitet werden; daraus erklärt sich auch die Beschränkung auf die Darstellung beispielsweise der Schlachtfelder im Westen Europas, auf einige NS-Terrororte und auf die sowjetischen „Speziallager“. Überhaupt analysiere die Autorin „einseitig zuungunsten anderer Quellengruppen die materielle Kultur“ und nicht „zum Beispiel wirtschaftsgeschichtliche, militärhistorische, städtebaulich- raumplanerische Fragestellungen gleichberechtigt“. Als naiver Historiker dachte ich, vornehmliche Aufgabe der Archäologie wäre die Analyse der Überreste der materiellen Kultur.

In seiner Zusammenfassung werden die Forderungen an Theue noch grundsätzlicher: Statt der „einseitigen Fokussierung auf eine archäologische Binnenperspektive“ fordert Ickerodt nicht nur raumplanerisch-städtebauliche und militärhistorische Analysen, eine Beantwortung der Frage nach den „zu sichernden Sachquellen des 19. und 20. Jahrhunderts“, wo es neben den „Kriegsschauplätzen und NS-Tatorten“ um „Urbanisierung, Industrialisierung, Infrastrukturbau usw.“ gehe. Außerdem wäre die Arbeit um eine „Archäologie des Judentums oder um eine Industriearchäologie“ zu ergänzen gewesen. Über all diesem völlig vergessend, dass Theune als Autorin des Buchs ihr Thema mit den „Tatorten des 20. Jahrhunderts“ klar umrissen hat – wie es jeder Autor tut.

Wer sich selbst einmal an einem Überblick zu einem beliebigen Thema versucht hat weiß, dass ein solches Vorhaben bedeutet zu komprimieren, zu verkürzen, sich auf das Wesentliche des Themas zu beschränken. Wesentlich ist die Frage, ob es Theune gelang, die Ergebnisse der Archäologie zu Tatorten im 20. Jahrhundert im Kern und prägnant im Format eines Überblicks zu vermitteln. Das ist ihr gelungen.


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