Im Zeitalter der Hochmoderne und der Nationalstaaten fungierten Bildungsinstitutionen – als Instrumentarien einer „Zivilisierung“ (Norbert Elias) – nicht nur als Ort des Erwerbs von Wissen. Sie vermittelten auch politisch-kulturelle Identität und zielten darauf ab, politischen Systemen, demokratischen ebenso wie autoritären oder diktatorischen, loyale Subjekte bzw. Bürger heranzuziehen. Das galt auch für die DDR, in welcher das Bildungswesen zwischen 1949 und 1989 exklusiv an der SED-Ideologie ausgerichtet wurde. Sein Ziel: die Erziehung „allseitig entwickelter sozialistischer Persönlichkeiten“.1
Die aus einer Dissertation an den Universitäten Augsburg und Leipzig entstandene Studie von Tina Kwiatkwoski-Celofiga über „Diskriminierung im Schulwesen der DDR“ betritt kein Neuland. Schon vor 1989 war die DDR-Bildungsgeschichte ein meist von westdeutschen Erziehungswissenschaftlern gut untersuchtes Forschungsfeld. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde anhand der Flut von zugänglichen schriftlichen Quellen und Zeitzeugen dieses Gebiet noch intensiver erforscht. Im Mittelpunkt standen die Strukturen und die Institutionen, die Akteure, die Schulfächer, schließlich auch der Einfluss des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf dem Schulhof.2 Im Gegensatz zu dem, was das leider rein deutschsprachige Literaturverzeichnis der Studie von Kwiatkwoski-Celofiga vermuten lässt, ist die Forschung zur DDR-Bildung und Jugend durch ihren zunehmend internationalen Charakter geprägt, denn auch angelsächsische und französische Historiker haben in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren ihren Beitrag geleistet.3
In diesem historiographischen Kontext ist es das Ziel der Autorin, einen Aspekt zu beleuchten, der neben dem Konflikt zwischen Staat und Kirchen um die Jugendweihe oder dem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen als inoffizielle Mitarbeiter des MfS bisher kaum beachtet wurde: In ihrem Buch untersucht sie das Schicksal von jungen DDR-Bürgern, die aus politischen Gründen wie der sichtbaren Religionszugehörigkeit, der fehlenden Mitgliedschaft zu offiziellen Jugendorganisationen, der Verweigerung der Jugendweihe oder sonstigen „abweichenden Verhaltens“ diskriminiert wurden. Um diese Regimeopfer zu bezeichnen, verwendet Kwiatkowski-Celofiga die ursprünglich juristische Kategorie „verfolgte Schüler“, die in zwei vom Bundestag 1992 und 1994 verabschiedeten Rehabilitierungsgesetzen auftaucht. Sie erweitert aber die Bedeutung des Begriffs und betrachtet in ihrer Studie alle Jugendlichen zwischen 14 und 25 Jahren, die aus politischen Gründen diskriminiert wurden. In einer Art „Schwarzbuch der DDR-Bildung“ geht sie den Ursachen und die Folgen von politischer Diskriminierung im DDR-Schulwesen nach.
Als empirisches Forschungsfeld hat die Autorin die drei Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt ausgewählt. Um die Frage nach Ursache und Wirkung beantworten zu können, stützt sich die Studie auf eine vielfältige Quellenbasis, nämlich 489 Akten der sächsischen Rehabilitierungsbehörde (das heißt 13 Prozent der rund 3670 Rehabilitierungsanträge, die bis 2003 bei dieser Rehabilitierungsbehörde eingereicht wurden), Bestände der staatlichen Bildungsbehörden und Interviews mit Zeitzeugen. Auffällig ist der „Nadelkopf-Charakter“ der Untersuchung, denn die konkreten diskriminierten Schüler bzw. Antragsteller eines Rehabilitierungsantrages in Sachsen machen im Zeitraum von 1958 bis 1972 eine Ultra-Minderheit von „0,1 bis 0,26 Prozent aller Lebendgeborenen desselben Jahrgangs aus“ (S. 24). Natürlich spricht nichts gegen einen derartig eng gefassten Untersuchungsgegenstand, wenn hierfür gute Argumente geboten werden. Doch besteht das Hauptargument der Autorin in der Aussage, dass „hinter jedem einzelnen Antrag ein persönliches Schicksal“ stehe (S. 25). Kurzum, es geht vorwiegend um eine Opfergeschichte, auch wenn Kwiatkwoski-Celofiga das Wort vermeidet und von „Betroffenen“ spricht.
So reproduziert das Buch das Bild einer homogenen, von der Macht der Staatspartei geformten Gesellschaft, wie es nicht zuletzt die SED selbst formuliert hat. Die Durchsetzung der SED-Herrschaft lässt sich jedoch nicht einseitig im Sinne einer Top-down-Perspektive beschreiben. Vielmehr war diese Herrschaft eine soziale Praxis, das heißt das Produkt von verschiedenen lokalen Arrangements zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Zudem stieß diese Herrschaft auf Grenzen, die nicht vollständig unter das Dach von Widerstand und Opposition subsumiert werden können.
Die Studie ist thematisch strukturiert und in sieben Kapiteln unterteilt: zwei Kapitel stellen die institutionellen Grundlagen dar, nämlich die normativen Texte (Schulgesetze, Direktiven) und allgemein die verschiedenen Akteure der „Erziehungsdiktatur“ (von den Lehrern zu den Funktionären der Schulämter und des Ministeriums für Volksbildung bis zu den Schulleitern). Dann, in einem zweiten und dritten Schritt, listen drei Kapitel die Palette der Diskriminierungsformen auf und beschreiben deren Auswirkungen auf die Betroffenen. In einem letzten Kapitel wird der Rehabilitierungsprozess nach 1989/90 analysiert.
Auch wenn das Buch durchaus informativ ist, fallen eine Reihe von Schwächen ins Auge. Dazu zählt, dass der soziologische Begriff der „Diskriminierung“ nicht genügend kontextualisiert wird. Vielmehr verwendet ihn die Autorin recht einseitig. Jenseits der diktatorischen Dimension der DDR betrieb das SED-Regime eine moderne Erziehungspolitik, zu der sowohl eine quantitative Bildungsexpansion als auch eine erhöhte Chancengleichheit zählten, deren Wurzeln in die 1920er-Jahre zurückreichen. In der Phase der Etablierung der SED-Diktatur wurde die „Brechung des Bildungsmonopols“ unter anderem durch die Gründung der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten4 und eine aktive Diskriminierungspolitik an den Oberschulen tatsächlich größtenteils erreicht5, wovon maßgeblich Frauen profitierten. Mit der Durchsetzung des Prinzips der Einheitsschule gelang es der DDR spätestens in den frühen 1970er-Jahren, die quantitative flachendeckende Bildungsbeteiligung bis zur 10. Klasse zu schaffen.
Kwiatkowski-Celofiga bekennt sich ausdrücklich zu einem klassischen totalitarismustheoretischen Forschungsparadigma und tritt manchmal mehr als Staatsanwältin, denn als Historikerin auf. Diese Position führt manchmal zu plakativen Aussagen über das DDR-Schulsystem. Sie betont mehrmals zu Recht, dass das Erziehungssystem ein „Instrument der Kontrolle“ (S. 12) war. Aber sie nuanciert und kontextualisiert diese Aussage nicht. Urteile wie z.B., dass „die Individualität des Schülers immer mehr in den Hintergrund“ geraten sei, treffen so pauschal nicht zu (S. 256). Das Bedürfnis nach Individualität war beispielsweise den Pädagogen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaft durchaus bewusst. Die DDR-Jugend war zwar überwiegend konformistisch, strebte aber auch immer mehr nach individueller und kollektiver Befriedigung ihrer Bedürfnisse außerhalb des offiziellen Rahmens. In den 1970er-Jahren erkannten die Soziologen und Psychologen in der DDR, dass „peer groups“ als sekundäre Sozialisationsinstanzen neben der FDJ und der Pionierorganisation überhaupt keine Gefahr für die vom Regime gewünschte Entwicklung zur sozialistischer Persönlichkeit darstellten.6
Das Kapitel V, das den Umgang mit der Diskriminierung behandelt, bietet vor allem eine quantitative Analyse von Eingaben, die die Eltern infolge einer Nichtaufnahme ihrer Kinder in die Abiturstufe an das Ministerium für Volksbildung richteten. Wie der französische Historiker Jay Rowell am Beispiel seiner Studie zur DDR-Wohnungspolitik7 belegt, ist eine Eingabe vor allem das Produkt einer strukturierten Interaktion zwischen Verwaltung und Verwaltetem. Die Autorin fokussiert sich jedoch vor allem auf den bürokratischen Umgang des Regimes mit solchen Beschwerden. Hierbei unterlässt sie es, die von den Eltern entwickelten rhetorischen Strategien sowie die Rolle ihres jeweiligen kulturellen und politischen Kapitals in der Interaktion zu beleuchten.
Insgesamt hatte dieses Forschungsprojekt viel Potential, vor allem mit Blick auf die soziologische Rahmung der untersuchten historischen Phänomene. Tatsächlich ist es interessant zu untersuchen, wie einzelne Akteure im Kontext der Wiedervereinigung die Chance ergriffen haben, einen Opferstatus und Wiedergutmachung zu erhalten. An der Schnittstelle zwischen Politikwissenschaft und einer Soziologie der sozialen Bewegungen hätte man diese Form des „Policy making“ einerseits und die Mobilisierung von Akteuren andererseits jedoch noch tiefer analysieren können. Schließlich: Was sagt uns diese kleine Zahl von „verfolgten Schülern“ aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive? Vor allem, dass es dem SED-Regime gelungen ist, seine Kontrollbestrebungen anhand einer Palette von Repressionen und Arrangements „at the grass root“ durchzusetzen. Geschichte sollte aber hauptsächlich dazu dienen, die „Menschen in der Zeit“ (M. Bloch) zu verstehen und nicht nur Opfer zu würdigen.
Anmerkungen:
1 Gerhart Neuner, Sozialistische Persönlichkeit – ihr Werden, ihre Erziehung, Berlin 1975.
2 U.a. Sonja Häder, Schülerkindheit in Ost-Berlin. Sozialisation unter den Bedingungen der Diktatur (1945–1958), Köln 1998; Gert Geissler, Geschichte des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik 1945 bis 1962, Frankfurt am Main 2000; Ulrich Wiegmann, Pädagogik und Staatssicherheit. Schule und Jugend in der Erziehungsideologie und -praxis des DDR-Geheimdienstes, Berlin 2007.
3 U.a. Alan McDougall, Youth Politics in East Germany: The Free German Youth Movement 1946–1968, Oxfort 2004; Charles B. Lansing, From Nazism to Communism: German Schoolteachers under Two Dictatorships, Cambridge 2010; Mark Fenemore, Sex, Thugs and Rock’n’Roll. Teenage Rebels in Cold-War East Germany, Oxford 2007; Emmanuel Droit, Vers un homme nouveau? L’éducation socialiste en RDA, Rennes 2009 (übersetzt ins Deutsche: Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR 1949-1989, Köln 2013).
4 Ingrid Miethe / Martina Schiebel, Bildung – Biografie – Institution. Die Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten der DDR, Frankfurt am Main 2008.
5 Sonja Häder, „Brechung des bürgerlichen Bildungsprivilegs“? Zur Auswahl und sozialen Struktur von Oberschülern am Beispiel Ost-Berlins (1945–1955), in: Helga Gotschlich (Hrsg.), „Links und links und Schritt gehalten...“. Die FDJ: Konzepte – Abläufe – Grenzen. Berlin 1994, S. 170–186.
6 Emmanuel Droit, Les „peer groups“ dans l’espace public en RDA: de la stigmatisation à la reconnaissance? (1960–1980), in: Histoire@Politique. Politique, culture, société 7, janvier-avril 2009, <http://www.histoire-politique.fr/index.php?numero=07&rub=dossier&item=73;item=73>.
7 Jay Rowell, Le totalitarisme au concret. Les politiques du logement en RDA, Paris 2006.