Mit dem Namen des Göttinger Chirurgen Rudolf Stich (1875–1960) ist bereits einiger Wirbel verknüpft. Anfang 2013 wurde im Göttinger Norden ein gefälschtes, amtlich wirkendes Rundschreiben in der Hermann-Rein-Straße und im Rudolf-Stich-Weg verteilt, mit dem ein angeblicher städtischer Verwaltungsmitarbeiter die angeblich vom Kulturausschuss beschlossene Änderung dieser Straßennamen bekannt gab. Als Grund wurde die nationalsozialistische Vergangenheit der Namensträger angegeben. Diesem Schwindel folgte ein Offener Brief an die Stadt Göttingen, der dieselben Änderungen verlangte, von einundzwanzig Vereinigungen unterzeichnet mit antifaschistischen Grüßen, angefangen von der Anarchosyndikalistischen Jugend Göttingen über die GöLinke Ratsfraktion bis zum YXK-Verband der Studierenden aus Kurdistan. Dem folgte ein lokalpolitischer Wirrwarr unterschiedlicher, in der Regel wenig informierter Stimmen.
Nun erschien im Herbst 2014 in einem hochangesehenen Göttinger Wissenschaftsverlag ein Buch dreier Mitarbeiterinnen des „Göttinger Instituts für Demokratieforschung“, eines Universitätsinstituts an der Göttinger Universität, und der irritierte Betrachter der Lokalposse durfte hoffen, wissenschaftlich fundierte Klarheit in dieser Angelegenheit zu erhalten.
Die Autorinnen erwähnen den lokalen Hintergrund bereits im Prolog. Sie entwickeln ihre Fragestellung darüber hinaus mit der Absicht, Stich, „zweifelsohne eine bedeutende Persönlichkeit“, als Professor, als Wissenschaftler, als schulbildenden Hochschullehrer, als Angehörigen der Göttinger Bildungselite, als Burschenschafter, als politisch interessierten Arzt (S. 7) genauer zu „analysieren und hinterfragen“ (S. 8), und dies nicht nur an Stich als Einzelfall, sondern gleichzeitig als einem Repräsentanten der Hochschullehrer, des ärztlichen Standes und des Bürgertums. Das sind löbliche Absichten, doch fehlt jedweder Nachweis, dass Stich tatsächlich als ein solcher Repräsentant angesehen werden kann.
Für den biographischen Teil dieses Vorhabens ergaben sich bedenkliche Erschwernisse. Es gelang den Autorinnen nicht, Stichs Nachkommen zu überzeugen, dass dessen hinterlassenes Material bei ihnen in guten Händen sei. Ein erheblicher Teil der biographischen Darlegungen besteht daher aus Vermutungen, wie es vielleicht gewesen sein könnte oder müsste, wenn jemand im Kaiserreich als Arztsohn in Nürnberg aufwächst, sich demselben Fach zuwendet, sich einer Burschenschaft anschließt und eine Karriere in der Medizinischen Fakultät beginnt. Diese Kapitel verraten notwendiger Weise mehr über Vorstellungskraft und -tendenzen der Autorinnen als über Rudolf Stich.
Auch für die Hinterfragung Stichs als Hochschullehrer ist die Quellenlage unerfreulich. Die Autorinnen mussten feststellen, dass Verwaltungsakten aus Stichs Zeit als Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Göttingen, aus seiner Tätigkeit als Klinikleiter und aus seiner Privatpraxis nicht überliefert sind (S. 18). Widersprüchlicherweise liest man einige Seiten weiter, Akten „aus seiner Zeit als Klinikleiter und Dekan” seien – immerhin – „nur unzureichend und lückenhaft überliefert” (S. 25). Welche Aussage stimmt, bleibt zukünftiger Forschung überlassen.
Dort schließlich, wo die Autorinnen gedruckte Quellen zitieren, wird die Lage brenzlich. Sie befassen sich beispielsweise mit einer Rede Stichs, in der er über „die wesenhafte Gestalt des Dritten Reiches” gesprochen hat. Die Autorinnen verwandeln diese in „die gewissenhafte Gestalt“ (S. 126) desselben. Zur Analyse von möglichen weltanschaulichen Überzeugungskernen oder von (immerhin ebenso möglichen) verbalen Anpassungsleistungen Stichs tragen die Autorinnen nicht nur nichts bei, ihr Falschzitat behindert vielmehr eine ernsthafte Beschäftigung mit den von Stich eingenommenen Positionen.
Völlig verzweifelt wird die Situation, wenn die Autorinnen sich mit archivalischen Originalquellen befassen. So zitieren sie einige Sätze eines Briefes Stichs an seinen Kollegen Karl-Heinrich Bauer. Eckige Klammern, „sic!“ und Punktfolgen stammen von den Autorinnen: „Du wirst lächeln, [...] aber am eigenen Leib sind auch die Chirurgen und Professoren nicht immer objektiv. Das habe ich gestern an Gruber gemerkt, den ich nachts um ½ 10 auf Bitten seines Schwiegersohnes Hasche-Klindern [sic!] aufgeweckt habe, weil er glaubte, ein Canerti [?] zu haben. Schon die genau aufgenommene Vorgeschichte ergab, dass das unwahrscheinlich sei, die Untersuchung bestätigte es. Es waren wirklich nur Hämorrihden.“ (S. 234)
Da dem Rezensenten der Gedanke schwer fiel, ein humanistisch gebildeter Chirurg buchstabiere Hämorrhoiden so, wie man sie in der Eckkneipe ausspricht, hat er sich der Quelle angenommen und dabei folgenden Originaltext vorgefunden: „Du wirst lächeln, daß ich Dir altem Praktiker das sage, aber am eigenen Leib sind auch die Chirurgen u. Professoren nicht immer objektiv. Das habe ich gestern an Gruber gemerkt, den ich nachts um ½ 10 auf Bitten seines Schwiegersohnes Hasche-Klünder aufgesucht habe, weil er glaubte, ein Ca recti zu haben. Schon die genau aufgenommene Vorgeschichte ergab, daß das unwahrscheinlich sei, die Untersuchung bestätigte es. Es waren wirklich nur Haimorrhoiden.“
Das Ergebnis ist unmissverständlich. Die diagnostizierten „Hämorrihden“ schreibt Stich korrekt, wenn auch altertümlich, wie es in dem Jahrhundert üblich war, in dem er geboren wurde. Der geheimnisvolle Canerti [?] ist ein Carcinoma recti, also ein Krebsgeschwür am After. Stich schreibt seinen Privatassistenten Hasche-Klünder richtig, anders als die Autorinnen durch Ausrufezeichen glauben machen wollen. Vergessen wir die weiteren Ungenauigkeiten und ziehen wir Schlussfolgerungen. Diese in einem sich wissenschaftlich gebenden Werk vorgefundene, stümperhafte Entzifferung eines Briefes, die mit semantischen Zusätzen gespickt ist, durch welche spezielle philologische Sorgfalt signalisiert werden soll, wirft mit Blick auf das ganze Buch die Frage auf: Welche Zitate und Hinweise darf man für glaubwürdig halten, ohne die Originale mit eigenen Augen inspiziert zu haben?
Kommen wir zur Frage der NS-Nähe Stichs oder seiner Zugehörigkeit zur NSDAP und deren Gliederungen. Die Autorinnen schildern seine Mitgliedschaft im Stahlhelm, aus der sich eine Mitgliedschaft in der SA ergab, und seine weiteren Mitgliedschaften in NSDAP, NSV, NSD-Dozentenbund, NSD-Ärztebund und Ähnlichem. Dabei ergibt sich wenig Neues. Michael Sachs hat dazu bereits 2011 ausführlich Material publiziert.1 Dafür zeigen die Autorinnen an Beispielen auf, dass Stich keineswegs Antisemit war (z.B. S. 262), sondern im Gegenteil „jüdische Patienten in seiner Privatpraxis auch weit nach 1933“ ebenso wie Zwangsarbeiter behandelte (S. 258), „seinen Schüler Karl Heinrich Bauer, der mit einer Jüdin verheiratet war, in Schutz“ nahm (S. 11f.) und aus seiner Burschenschaft austrat, als diese einen selbstgestrickten Arierparagraphen einführte (S. 60ff.). Nun haben aber spätestens die Analysen von Zeev Sternhell deutlich gemacht, dass der Antisemitismus das entscheidende Merkmal war, das den Nationalsozialismus von den vielen Varianten des europäischen Faschismus unterschied. Hier hätten die Autorinnen „analysieren und hinterfragen“ können, um was für eine Art Nationalsozialist es sich – in Stichs Fall – gehandelt haben könnte, der nicht antisemitisch eingestellt war. Aber zu diesem Spannungsfeld findet sich in dem Buch kein Wort.
Da der Neuigkeitswert der Angehörigkeit Stichs zur NSDAP und diversen Parteigliederungen nullpunktnah liegt, ziehen die Autorinnen Heftigeres auf, nämlich den Vorwurf der Nähe zu Medizinverbrechen (S. 117, S. 260). Beispiele für die Begründung dieses Vorwurfs: An der 2. Arbeitstagung Ost 1942 nahmen Göttinger Kollegen Stichs teil. Ob Stich dabei war, können die Autorinnen nicht belegen. Auf dieser Tagung referierte unter vielen anderen Ernst Holzlöhner über Versuche zu Erfrierungen, die er im KZ Dachau durchgeführt hatte. Ob er erwähnte, wo und unter welchen Umständen diese abliefen, können die Autorinnen nicht aufzeigen (S. 118). Anzumerken ist, dass solche Offenheit unwahrscheinlich war. Doch gleichwohl wird gefolgert: Also wusste der vielleicht an- oder abwesende Stich Bescheid über die vielleicht oder auch nicht in allen Einzelheiten dargestellten Kälteversuche Holzlöhners in Dachau einschließlich der in anderen Konzentrationslagern, an denen Holzlöhner nicht beteiligt war und die noch gar nicht vorgenommen waren (S. 118). So wird aus Addition einiger Möglichkeiten Gewissheit.
Nach dieser schneidigen Attacke auf die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird die formale Logik gemeuchelt. Obersatz: Bei verbrecherischen Menschenversuchen in Konzentrationslagern wurde das Blutplasmaersatzmittel Periston verwendet. Untersatz: Stich verwendete Periston. Conclusio: Stich war in Medizinverbrechen verwickelt (S. 263). Verschwiegen oder unbekannt ist, dass die Verbrechen nicht in der Peristonanwendung bestanden, sondern in der zuvor durchgeführten, vorsätzlichen Infizierung Gesunder mit Typhus. Die Logik nennt so etwas einen Trugschluss.
Übergehen wir die zahlreichen Fehler im Text, in dem etwa der Physiologe Siegfried Ruff, Direktor des Instituts für Flugmedizin der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, zum „General der Infanterie“ (S. 167) befördert, Gottfried Ewald als „Lehrstuhlinhaber für Neurologie und Psychologie“ vorgestellt, in der zugehörigen Fußnote sodann als „Ordinarius für Neurologie und Psychiatrie“ (S. 23) ausgewiesen wird und schließlich der Physiologe Hans-Joachim Deuticke zum Chemiker (S. 170) mutiert wird, und übergehen wir Syntaxschwierigkeiten und orthographische Terzianerknaller wie „Ausschwitz“ (S. 112, S. 170), das schlampige Personenverzeichnis, den unkundigen Umgang mit medizinischen Themen.
Dies Buch wirkt wie ein Nachschlag zur Göttinger Krähwinkelei um Straßennamen, der sich mit wissenschaftlicher Fassade behängt, dahinter allerdings den Verdacht des Fehlens elementarer Schlüsselkompetenzen für wissenschaftliches Arbeiten aufdrängt. Pikanterweise residier(t)en die Autorinnen und ihr Institut in dem Gebäude, das einst Stichs Wohnhaus war. Eine an Stich erinnernde Gedenktafel wurde bei Einzug des Instituts abmontiert. Der Rudolf-Stich-Weg ist mittlerweile umbenannt. Das vorliegende Buch hat offenbar mit dazu beigetragen, diesen Erfolg zu erzielen.
Dass jedoch ein Universitätsinstitut sich hinter eine Arbeit mit so offensichtlichen (nicht nur) handwerklichen Mängeln stellt, erstaunt den Rezensenten, der wissenschaftlich fundierte Klarheit erhofft hatte, noch mehr aber, dass ein Verlag mit traditionsreichem Renommee Derartiges offenbar ohne größere Lektoratsanstrengungen verlegt.
Anmerkung:
1 Michael Sachs, Prof. Dr. med. Rudolf Stich, in: Hans-Ulrich Steinau / Hartwig Bauer (Hrsg.), Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011, S. 109–118.