Titel
»Es gibt kein Himmelreich auf Erden«. Heinrich Margulies - ein säkularer Zionist


Autor(en)
Röhl, Vera Regine
Erschienen
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knut Bergbauer, Köln

Man kann nicht gerade sagen, dass sich die historische Forschung nicht um die zionistische Bewegung in Deutschland gekümmert hätte. Spezialstudien stehen Überblicksdarstellungen zur Seite, Autobiographien und biographische Arbeiten ergänzen das Bild und geben gleichzeitig dieser Bewegung Gesicht(er).

Und doch gibt es immer wieder neue Zugänge zum Thema und unbekannte Facetten der zionistischen Geschichte / Geschichte der zionistischen Bewegung. Ein Beispiel ist Ivonne Meybohms David Wolffsohn-Biographie1, ein anderes die hier vorgestellte Biographie Heinrich Margulies. Während Wolffsohn – eine Generation früher – als Führungsfigur reüssierte, blieben Margulies Ansichten (s)ein Leben lang randständig. Aber wie Vera Regine Röhl überzeugend aufzeigt, hielt ihn das nicht ab, sich immer wieder aufs Neue zu Wort zu melden. Ein „Skriptomane“ sei sein Vater immer gewesen, erinnert sein Sohn Othniel (S. 17).

Heinrich Margulies wurde 1890 in Sosnowice geboren, das damals zu Russisch-Polen gehörte, während das nur zehn Kilometer entfernte Kattowitz, in das die Familie 1895 zog, zum deutschen Teil Oberschlesiens gehörte. Das Elternhaus war – obwohl „jüdisch gebildet“ – assimiliert und dem „Westen“ zugewandt. Aber schon Heinrichs (deutlich) ältere Brüder engagierten sich für den Zionismus. Isidor gründete 1907 in Wien die „Jüdische Zeitung“ und zeichnete als ihr Chefredakteur verantwortlich, während Emil Mitte der 1920er-Jahre die Jüdische Partei in der CSR führen wird. Ein weiterer Kreis, der den jungen Heinrich Margulies prägte, bildete sich als Zirkel um die Schülerzeitung „Die Gäste“. Hier diskutierte er unter anderem mit seinen Mitschülern Ludwig Meidner (später ein bekannter Maler), Arnold Ulitz (Schriftsteller) oder kreuzte die rhetorische Klinge mit dem etwas älteren Arnold Zweig. Nach Schulabschluss studierte Heinrich Margulies an der Handelshochschule Leipzig, wohnte in Breslau und Berlin. In diesen Jahren vor dem ersten Weltkrieg meldete er sich immer wieder mit Beiträgen zum zionistischen Selbstverständnis. Neben Hans Goslar war Margulies einer der Ersten, der sich – von zionistischer Seite aus – mit der Organisierung der jüdischen Jugend beschäftigte. Seine Intention lag dabei, im Gegensatz zu den jüdischen Wanderbünden die wenig später für Aufmerksamkeit sorgen sollten, in der Gründung von Diskutierclubs und Jugendvereinen. In diesem Zusammenhang war er für die zionistische Prägung des Jugendvereins in Kattowitz und des Jüdischen Diskutierclubs in Breslau verantwortlich, fand aber seine Heimat wenig später im Herzl-Club / Herzl-Bund junger Kaufleute. Seine Idee von Zionismus, die trotz variierender Schwerpunkte immer einen konstanten Kern hatte, unterschied sich jedoch markant von dem der Majorität der deutschen Zionisten (und erst recht dem sozialistischen Arbeiterzionismus Osteuropas). Margulies‘ Zionismus war säkular, wollte ohne Rückgriff auf Religion und Mystizismus überzeugen. Seine Motive resultieren keineswegs aus Atheismus, sondern aus der Überlegung, auch nicht oder wenig religiöse Juden für die Mitarbeit am gemeinsamen Projekt Zionismus zu gewinnen, ohne Gewissenszwang ausüben zu müssen. Juden waren für ihn erst einmal nur Nation und als gemeinsame Grundlage sollte die Anknüpfung an die historische Geschichte des jüdischen Volkes dienen. „Verweltlichung“ nicht „Vergeistigung“ müsse der Weg des Zionismus sein. Damit stand er diametral gegen die Ideen der „jüdischen Renaissance“, wie sie von Martin Buber und dem einflussreichen Prager „Bar Kochba“-Kreis propagiert wurde. Auf dem jüdischen Jugendtag in Wien 1918 standen sich die Kontrahenten gegenüber: Margulies auf der einen, Buber, Robert Weltsch und Siegfried Bernfeld auf der anderen Seite. Eine andere Kontroverse – mit Nachum Goldmann, immerhin späterer Präsident des Jüdischen Weltkongresses – begann 1918 in den „Neuen Jüdischen Monatsheften“ und wurde 1960 – zu einem anderen Thema – in „Unsere Stimme“ (Interne Vierteljahres-Zeitschrift des KJV /Kartell zionistischer Verbindungen) fortgeführt. Es erstaunt, dass Heinrich Margulies – dessen Positionen ihm hier wie auch späterhin keine große Anhängerschaft bescherten – sich daraufhin nie beleidigt oder verletzt zurückzog, sondern sich zeitlebens als Teil der zionistischen Bewegung verstand. 1920 erschien mit „Kritik des Zionismus“2 seine umfangreichste Publikation. Hier widmete er sich noch einmal dem Verhältnis von „Gemeinschaft und Gesellschaft“, dem er jedoch eine andere Bedeutung zumaß als der Soziologe Ferdinand Tönnies. Ein weiterer Bereich, in dem er dem Zionismus jener Jahre kritisch gegenüber stand, war das Verhältnis von Palästina zum Galuth (hebräisch für Verstreuung / Exil). Dabei stellte er die Verwirklichung der zionistischen Ziele in Palästina / Erez Israel nicht in Frage. Aber er ging davon aus, dass es unwahrscheinlich sei innerhalb kurzer Zeit und unter den damaligen Bedingungen eine nennenswerte Anzahl Juden dort hin zu bringen. So sei es auch eine Aufgabe der zionistischen Bewegung den Galuth als gleichberechtigte Lebensrealität mehr als bisher mit einzubeziehen. Er nannte das „synthetischen Zionismus“ (S. 202ff.).

Margulies hatte nicht nur Nationalökonomie studiert, er brachte seine Ideen und Kenntnisse aus diesem Bereich auch aktiv in sein Verständnis vom Zionismus ein. Sein Zukunfts-Bild von Palästina war das einer prosperierenden Wirtschaft, eher städtisch und am Mittelstand orientiert (und damit auch im Gegensatz zu den Kibbuzideen von Jugendbewegung und sozialistischen Zionismus) an deren positiver Entwicklung auch die arabische Bevölkerung partizipieren könne, womit auch eine gegenseitige Verständigung besser möglich sei. 1925 übersiedelte er nach Palästina, arbeitete dort zunächst für die Anglo-Palestine Bank, wurde später zu einem führenden Architekten des Haavara-Abkommens mit (NS-)Deutschland und beendete seine berufliche Karriere als stellvertretender Direktor der Bank Leumi in Israel. Gerade seine Kritik am Zionismus und seine Wirtschaftsideen brachten ihn, zumindest zeitweise, in die Nähe des „Revisionismus“. Er konnte jedoch nie dessen Sicht auf die „arabische Frage“ teilen. An diesem Punkt stand er den Ideen des Brith-Shalom Kreises um Martin Buber und Jehuda Magnes nahe.

Nach dem Sechstagekrieg 1967 war er zunächst über die Sprachregelung der „Besetzung“ verärgert, war doch seiner Meinung nach Jordanien der ursprüngliche Besatzer. Margulies sah eine Chance, dass die Bevölkerung Palästinas, und das meinte die „Palästinenser“ von 1948 – Juden und Araber – sich nun neu miteinander über den Status quo verständigten könnten, als dessen Lösung auch ein bi-nationaler Staat möglich sei. Das war natürlich angesichts von Krieg und Gewalterfahrungen, den damit neu geschaffenen demographischen Realitäten und dem auch daraus folgenden gegenseitigem Misstrauen naiv, aber es zeigt doch trotzdem die Unabhängigkeit von Margulies Denken.

Die größte Stärke der Autorin dieser Studie ist gelegentlich zugleich ihre Schwäche. Vera Röhl bleibt, angesichts des Nachlasses von Margulies als hauptsächliche Quelle, immer nah an dessen zionistischen Ideen und Projekten. Zwar beschreibt sie die Genese des Zionismus in Deutschland, aber es fällt auf, dass eine Reihe von Untersuchungen und Quellen in ihrem Literaturverzeichnis nicht auftauchen.3 Damit wird der Kontext der Überlegungen und Auseinandersetzungen im deutschen Zionismus etwas verengt.

Dass „die zionistische Bewegung, […] vor allem, besonders in ihrer Frühzeit, eine Jugendbewegung“ war (S. 260), würde ich bezweifeln, zumindest nach dem, was ich unter Jugendbewegung verstehe. Im Zionismus agierten junge Erwachsene für ein politisches Projekt, während die Jugendbewegung sich für ein (vermeintlich) unpolitisches Leben entscheiden wollte, den Blick zurück gerichtet und allein auf die Kraft der Jugendlichkeit vertrauend. Ein Blick in die Arbeiten von Avraham Barkai und Arnold Paucker hätte vielleicht verhindert, dass der Verfasserin zum „Centralverein“ (CV) mehr eingefallen wäre, als ihn lediglich mit den Prädikaten: „assimiliert“ und „patriotisch“ (S. 262) zu versehen.

Aber das kann die Arbeit nicht wirklich schmälern. Vera Regine Röhl ist es mit ihrer Biographie gelungen, eine spannende Facette zionistischer Theorie zu beschreiben, die auch über die Person von Heinrich Margulies hinausgeht. Es sollte jedoch im Blick bleiben, das Margulies ein Solitär war, über den es anlässlich seines 85. Geburtstages aus dem Kreis deutscher Zionisten hieß:
„Unpopularität focht Margulies niemals an.“4

Anmerkungen:
1 Ivonne Meybohm, David Wolffsohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator; eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organsiation (1897–1914), Göttingen 2012.
2 Heinrich Margulies, Kritik des Zionismus, 2 Bände, Wien-Berlin 1920.
3 Vgl. unter anderem: Kurt Blumenfeld, Erlebte Judenfrage: ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962; Hagit Lavsky, Before catastrophe. the distinctive path of German Zionism, Detroit 1996; Stephen Poppel, Zionism in Germany 1897 – 1933, Philadelphia 1976; Andrea Schatz / Christian Wiese (Hrsg.), Janusfiguren: „jüdische Heimstätte“, Exil und Nation im deutschen Zionismus, Berlin 2006.
4 E.R.: Heinrich Margulies 85 Jahre, in: MB, Wochenzeitung des Irgun Olej Merkaz Europa, 8.8. 1975.

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